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Digitalisierung

Mit Tempo ins Online-Zeitalter - wie gelingt das der Sozialbranche?




Sinnbild der Digialisierung: ein Roboter für die Altenpflege
epd-bild/Guido Schiefer
Die soziale Arbeit der Zukunft wird vernetzter, digitaler, flexibler sein. Da scheinen sich alle Experten einig. Die Corona-Pandemie hat der Branche einen Digitalisierungsschub gegeben - aber zugleich viele Probleme offengelegt. Wie begegnen die Sozialverbände der Herausforderung des digitalen Wandels? Wo gibt es Hürden? epd sozial hat nachgefragt.

"Die sozialen Auswirkungen der Digitalisierung sind immens. Das Digitale in den Dienst der Gesellschaft zu stellen, ist ein großer Gestaltungsauftrag unserer Zeit." Große Worte - von Autoren des Beratungsunternehmens Phineo (Berlin), das den Report "Digitalisierung braucht Zivilgesellschaft" vorgelegt hat. Die Experten wollen die großen Potenziale aufzeigen, die der digitale Wandel in der sozialen Arbeit bringen kann: mehr bürgerschaftliches Engagement, die Überwindung sozialer Benachteiligungen und einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Und weiter heißt es da an die Adresse der Verbände, Sozialträger und Stiftungen: "Wir sind überzeugt: Der Dritte Sektor muss und sollte nicht alles digitalisieren, aber er braucht eine Strategie fürs digitale Zeitalter." Genau die fehlt aber noch, auch wenn es längst Versuche einzelner Branchen gibt, die Digitalisierung weiter voranzubringen.

"Um das System Pflege 'auf digital' umzustellen, reicht kein Drehen an einzelnen Stellschrauben", heißt es in einem Positionspapier mehrerer Fachverbände, die sich anschicken, die Pflegebranche ins nächste Jahrtausend zu katapultieren: "Trotz punktueller Fortschritte steht die Digitalisierung im Pflegesektor verglichen mit anderen Bereichen noch am Anfang. Um die Potenziale der Digitalisierung nachhaltig freizusetzen, braucht es zeitnah strategische Weichenstellungen", heißt es in dem vom Verband der diakonischen Dienstgeber in Deutschland (VdDD) initiierten Papier.

Klare Strategien nur selten erkennbar

Das klingt schlüssig, doch für andere Bereiche als der Pflege ist eine solche grundlegende Strategie zur Bewältigung des digitalen Umbaues noch nicht in Sicht. Es existieren allenfalls vereinzelte Ansätze, sich mit der Digitalisierung der verschiedenen Arbeitsbereiche zu befassen. Als Beispiel sei hier die Jahreskampagne 2019 der Caritas genannt ("Sozial braucht digital") oder auch die neueste Initiative des Deutschen Roten Kreuzes (Aufbau der "DRK-Social Innovation Community").

Notgedrungen mussten die Träger in der Corona-Pandemie viele ihrer Hilfs- und Beratungsangebote unter Zeitdruck völlig neu aufsetzen - und ins Internet verlegen. Was zunächst nur als Provisorium gedacht war, hat sich inzwischen zwar verstetigt. Aber die Wohlfahrtsverbände wollen ihre Angebotsqualität aufrechterhalten oder noch verbessern, sie müssen sich und ihr Personal fitmachen für einen gewaltigen digitalen Umbauprozess.

Caritas-Präsident Peter Neher sieht das jedenfalls so. Er sagte epd sozial: "Wir brauchen eine Personalentwicklungsoffensive in Sachen Digitalisierung - und zwar auf allen Ebenen." Denn: "Unsere Beraterinnen und Berater müssen trainieren, wie sie sowohl in Präsenzterminen als auch digital beraten können." Dazu bräuchten sie zum Beispiel Sicherheit im Umgang mit Konferenz-Software. "Bei all dem müssen wir auch unsere Ehrenamtlichen mitnehmen, die vor Ort unverzichtbar sind."

VdK: Veränderungen langfristig nutzen

"Die Digitalisierung hat in den vergangenen Monaten einen enormen Schub bekommen", bestätigt Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbandes VdK. Krankschreibung und Rezepte per Telefon, Videokonferenzen als Zugang zum Gesundheitssystem und zur Verwaltung - "während der Corona-Krise ging vieles, was vorher als unmöglich galt". Jetzt komme es darauf an, die schnellen Veränderungen langfristig zu nutzen und in die richtigen Bahnen zu lenken: "Die Digitalisierung ist eine Chance, wenn von vornherein an alle gedacht wird. Digitale Lösungen müssen für alle zugänglich sein. Das Schlagwort ist auch hier Barrierefreiheit, vor allem online", sagte Bentele epd sozial.

Diakonie-Präsident Ulrich Lilie nimmt einen anderen Aspekt ins Visier: den der digitalen Chancengleichheit. Die Pandemie verdeutliche wie unter einem Brennglas ungelöste Probleme der Gesellschaft: "Nicht teilhaben zu können, ist in einer digitalen Gesellschaft hochriskant", sagt Lilie. Ein Laptop oder Smartphone zu besitzen und Zugang zu schnellem Internet zu haben, sei eben nicht "nice to have". Es sei eine Grundvoraussetzung, um nicht endgültig abgehängt zu werden.

"Gerade zu Beginn der Corona-Krise gab es eine wahre Flut neuer Digitalinitiativen, auch im sozialen Sektor", berichtet DRK-Präsidentin Gerda Hasselfeldt. Doch statt in erster Linie auf übereilt aus dem Boden gestampfte Entwicklungen zu setzen, sei es deutlich gewinnbringender, die Modernisierung der Wohlfahrtspflege im Digitalen langfristiger und nachhaltiger zu gestalten.

DRK: Erste Ansätze gibt es bereits

Dass das gelinge könne, zeigten die etwa die Online-Angebote der DRK-Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer. Hasselfeldt verwies gegenüber epd sozial auf den Einsatz der vom DRK mitentwickelten App "mbeon". Über die können sich Zugewanderte mit ihren Fragen direkt an Migrationsberaterinnen und -berater wenden. "In diesem Jahr hat sich die Zahl der angeschlossenen Beratungsstellen dann mehr als verdoppelt", heißt es beim DRK.

Das Beispiel belegt aus der Sicht der Präsidentin, dass nicht zwingend eine gänzlich neue Entwicklung erforderlich sei. Mitunter könnten auch bereits bestehende und gut funktionierende digitale Angebote weiter ausgebaut werden können. "Solche auf Langfristigkeit und Nachhaltigkeit ausgerichteten digitalen Strukturen zu schaffen, ist für das DRK zukunftsweisend", betonte Hasselfeldt.

Sämtliche Einrichtungen und Dienste des Sozial- und Gesundheitswesens müssen sich in den kommenden Jahren von Grund auf verändern, um ihre Hilfen auch digital transformiert anbieten zu können. Dabei geht es nicht nur darum, mal eben eine neue Software zu nutzen und digitale Endgeräte anzuschaffen. Die gesamte soziale DNA wird sich ändern müssen, Strukturen und Prozesse müssen sich wandeln, ein Prozess, der nicht zuletzt wegen der Lehren aus Corona eine erhebliche Dynamik gewinnen dürfte. Auch Ulrich Lilie sagt: "Viele Abläufe innerhalb der Diakonie werden sich ändern, etwa durch mobiles Arbeiten. Der Digitalisierungsprozess beschleunigt sich, Prioritäten verschieben sich."

Das eigene Selbstverständnis klären

Auch wird zu klären sein, welche Aufgaben künftig der Mensch übernehmen soll. Und welche Computer und Roboter. Damit ist das Selbstverständnis des eigenen Tuns tangiert, wenn Routinetätigkeiten und Prozesse zunehmend von integrierten Computersystemen erledigt werden - auch wenn etwa die Robotik in der Pflege noch eher Zukunftsmusik ist.

Und natürlich muss dringend bestimmt werden, welche Fähigkeiten zukünftige Fachkräfte haben müssen, um in einer digital vernetzten Arbeitswelt zu bestehen. Welche Anforderungen stellt der digitale Wandel an die Kompetenzen von Fachkräften, wie beispielsweise Erziehende oder Pflegefachkräfte? Und welche Kanäle nutzen Ratsuchende?

Klar sein dürfte schon heute, dass die Sozialbranche ihre digitale Transformation nicht ohne staatliche Hilfe hinbekommt. "Die öffentliche Hand ist gefordert, den Digitalisierungsprozess in der Freien Wohlfahrt angemessen zu unterstützen." Bei Gerda Hasselfeldt klingt das aus eigener Erfahrung so: Sechs Millionen Euro, die der Bund in zwei Jahren für digitalen Wandel in sechs Verbänden, darunter das DRK, bereitgestellt habe, würden der Größe der Aufgabe nicht im Ansatz gerecht. "Wer den Sozialstaat weiter modernisieren und zukunftsfähig aufstellen möchte, der sollte zu höheren Investitionen bereit sein."

Allzu viele Wegmarken gibt es noch nicht, und das Terrain ist unübersichtlich. Jedes soziale - und eben auch spezialisierte - Arbeitsfeld muss die digitale Transformation unter eigenen Vorzeichen angehen.

Wie das geschehen könnte, beschreibt epd sozial in den nächsten Ausgaben in einer Serie. Sie soll die Lehren aus Corona sichtbar machen, die Motive, die Ziele und die Herangehensweise der Träger und ihrer Fachverbände ausleuchten, wenn Reformen angegangen werden. Wo das möglich ist, sollen Experten zu Wort kommen, die ihre Sicht, ihre Visionen vom Aufbruch in neue Arbeitswelten schildern.

Dirk Baas


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