sozial-Recht

Bundesverfassungsgericht

Bund muss Patientenauswahl bei Klinikengpässen vorerst nicht regeln




Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe
epd-bild/Joerg Donecker
Bei zu geringen Klinikkapazitäten im Zuge der Covid-19-Pandemie muss vorerst nicht gesetzlich festlegt werden, welche Patienten einen vorrangigen Behandlungsanspruch haben. Einen entsprechenden Eilantrag neun behinderter Menschen wies das Bundesverfassungsgericht ab.

Bei einer zu knappen Zahl an Klinikbetten wegen der Covid-19-Pandemie können behinderte "gebrechliche" Menschen bei der ärztlichen Behandlung jedenfalls vorerst das Nachsehen haben. Wie das Bundesverfassungsgericht in einem am 14. August veröffentlichten Beschluss entschied, kann im Eilverfahren noch nicht geklärt werden, ob Bund und Länder gesetzliche Regelungen treffen müssen, wie eine faire Patientenauswahl bei zu geringen Klinikkapazitäten erfolgen muss.

Hintergrund des Rechtsstreits sind im April 2020 veröffentlichte "Klinisch-ethische Empfehlungen" der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, ein Zusammenschluss mehrerer medizinischer Fachgesellschaften. In der erarbeiteten Leitlinie wird aufgeführt, wie bei Versorgungsengpässen jene Patienten ausgewählt werden können, die als erstes behandelt werden sollten. Die Patientenauswahl soll nach "ethischen Grundsätzen" und nicht diskriminierend erfolgen.

Leitlinie als Hilfestellung zur Entscheidung

Die Leitlinie soll für das behandelnde und oft unter Zeitdruck stehende medizinische Personal Hilfestellung bei der Frage geben, wer bei knappen Ressourcen eine lebensrettende Behandlung erhält und wer nicht. Hierfür wird bei jedem Patienten ein Punkteschema über Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Behandlung erstellt.

Die neun Beschwerdeführer, darunter der Inklusionsaktivist Raul Aguayo-Krauthausen und Constantin Grosch, Vorsitzender der Aktionsplattform AbilityWatch, die die Verfassungsbeschwerde unterstützen, rügten, dass behinderte Menschen bei der Triage ins Hintertreffen geraten. Sie würden bei zu knappen Behandlungskapazitäten nicht gleich behandelt werden wie nicht behinderte Personen. Das von den Medizinern entwickelte Triage-Verfahren führe dazu, dass bei Menschen mit etwa neuronalen Muskelerkrankungen oder als "gebrechlich" geltende Personen ein statistisch geringerer Behandlungserfolg angenommen werde.

Kritik an zu pauschalen Vorgaben

Die Kriterien seien aber viel zu pauschal, argumentieren die Beschwerdeführer. Im Ergebnis würde fast jeder ältere Mensch oder Behinderte einen schlechteren Punktwert erhalten. Die Chance auf eine intensivmedizinische Behandlung sei für diese Personengruppe daher erkennbar geringer. Betroffenen "gebrechlichen" Patienten könne sogar ein Beatmungsgerät wieder abgenommen werden, wenn ein anderer Patient mit besseren Erfolgsaussichten in die Klinik kommt. Insgesamt liege mit der Triage eine mittelbare Diskriminierung wegen der Behinderung vor, hieß es.

Per Eilantrag beim Bundesverfassungsgericht wollten die Beschwerdeführer nun den Gesetzgeber dazu zwingen, dass dieser verbindliche und diskriminierungsfreie Kriterien gesetzlich festlegt.

Ob und wie der Staat solche Regelungen treffen kann, wann bei Behandlungsengpässen bestimmte Patienten zuerst behandelt werden und wann nicht, könne im Eilverfahren aber nicht geklärt werden, entschied das Bundesverfassungsgericht. Die Beschwerde werfe schwierige Fragen zur staatlichen Schutzpflicht auf und ebenso dazu "wie weit der Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei Regelungen medizinischer Priorisierungsentscheidungen reicht".

Unwahrscheinlich, dass Triage zur Anwendung kommt

"Dass momentan erkennbare Infektionsgeschehen und die intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten lassen es in Deutschland derzeit nicht als wahrscheinlich erscheinen, dass die Situation der Triage eintritt“, heißt es in dem Beschluss. Daher komme eine einstweilige Anordnung zur Zeit nicht infrage, befand das Gericht.

Auch das von den Beschwerdeführern vorgeschlagene Fachgremium, das unter Beteiligung behinderter Menschen Regelungen zur Auswahl treffen könne, helfe nicht weiter. "Ein solches Gremium hätte nicht die Kompetenz, verbindliche Regelungen zu verabschieden, auf die es den Beschwerdeführenden gerade ankommt."

Auch Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz sagte, dass "weder ein außerparlamentarisches Gremium noch Fachgesellschaften legitimiert" seien, "bei Versorgungsengpässen die Verteilung von Lebenschancen festzulegen. Jetzt ist der Bundestag in der Pflicht, ein ethisches Regelwerk zu erlassen. Denn nur die Abgeordneten haben das Recht, verbindliche gesetzgeberische Entscheidungen zu treffen", sagte Brysch.

Die Kanzlei "Menschen und Rechte", die die neun Beschwerdeführer vertritt, bewertete die jetzige Entscheidung als grundsätzlich positiv. "Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gemacht, dass es die weitreichende Bedeutung dieser Fragen erkannt hat", erklärte Rechtsanwalt Oliver Tolmein in Hamburg. Die Fragen könnten nun im Hauptsacheverfahren geklärt werden.

Az.: 1 BvR 1541/20

Frank Leth