sozial-Politik

Armut

Corona-Zuschlag für Hartz-IV-Bezieher gefordert



Angesichts der Corona-Krise fordert die Sozialwissenschaftlerin Irene Becker einen "Krisenzuschlag" für Menschen in Grundsicherung. Es würden zusätzliche Ausgaben anfallen, die jedoch über die üblichen Regelsätzen bezahlt werden müssten. "In Corona-Zeiten haben es Hartz-IV- Bezieher noch schwerer", sagte die Volkswirtin auf einem Armutshearing der kirchlich-gewerkschaftlichen Initiative "Rechte statt Reste" in München. Die Initiative, die im evangelischen Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt (KDA) angesiedelt ist, stellte die Veranstaltung unter das Motto "Armut als Menschenrechtsfrage".

Einzigartiger Status

Dazu referierte auch Michael Windfuhr, stellvertretender Leiter des Deutschen Instituts für Menschenrechte und Mitglied im Sozialausschuss der Vereinten Nationen (UN) in Genf. Dieses kaum bekannte Gremium hat innerhalb der UN einen einzigartigen Status: Es dient der Überprüfung von nationalen Umsetzungen des 1966 ins Leben gerufenen Menschenrechtspaktes, dem Deutschland 1973 beigetreten ist. Der Sozialausschuss überprüft die nationalen Berichte zur Umsetzung dieser Rechte, die alle fünf Jahre von den Unterzeichnern geliefert werden müssen. Dabei können auch Nicht-Regierungsorganisationen ihre Stimme in Form von "Parallelberichten" einbringen. Zuletzt kritisierte der Ausschuss 2018, dass die Hartz-IV-Sätze in Deutschland zu niedrig seien, auch die Sanktionspraxis der Jobcenter wurde kritisch gesehen.

Ausschuss-Mitglied Windfuhr: "Die Umsetzung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Menschenrechte erfordert auch in Deutschland eine sensible Beobachtung, welche Personen oder Personengruppen Defizite bei der Umsetzung dieser Rechte erleben beziehungsweise auch möglichen Verletzungen ausgesetzt sind." Es gebe auch in Deutschland Einschränkungen der sozialen Teilhabe, die verstanden und adressiert werden müssten. Eine menschenrechtliche Brille bei der Analyse helfe klarzumachen, welche Regelungen oder politische Instrumente angepasst oder geändert werden müssten, um Diskriminierungen und andere Exklusionstatbestände angemessen zu bearbeiten. Das politische Gewicht des UN-Ausschusses, so sein Fazit, hänge vor allem davon ab, wie die Zivilgesellschaft sich seiner bediene.

Kritik am Begriff der relativen Armut

Einen menschenrechtlichen Rahmen nutzte bei der Online-Tagung, zu der einige wenige Hörer im Münchner DGB-Haus zugelassen waren, auch die Armutsforscherin Ina Schildbach von der Technischen Hochschule Regensburg. Sie kritisierte den üblicherweise in den Sozialwissenschaften gebräuchlichen Begriff der relativen Armut. Danach gilt als arm, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügt. Bei Alleinstehenden liegt die Grenze in Deutschland derzeit bei 917 Euro netto. Die Politikwissenschaftlerin schlug vor, den vorhandenen "ungeheuer großen" Reichtum der Gesellschaft als Maßstab anzusehen. Die Armutsdebatte würde damit eine völlig neue Richtung bekommen, wenn dieser Reichtum ins Blickfeld genommen würde.

Auch die Sozialwissenschaftlerin Irene Becker thematisierte die herrschende Definition des soziokulturellen Existenzminimums unter diesem Aspekt. Für die Festlegung des Hartz-IV-Regelsatzes forderte sie statt statistischer Modelle eine Diskussion darüber, "welches Konsumniveau der Staat jedem Menschen gewährleisten muss, um Mindestbedarfe zu decken und Ausgrenzung zu vermeiden". In einem Gutachten für die Diakonie Deutschland plädiert Becker für eine Anhebung des Regelsatzes für Alleinstehende von 381 auf 592 Euro.

Rudolf Stumberger