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Behinderung

Seit 100 Jahren höhere Bildung für blinde Menschen




Mattheunterricht in der 5. Klasse der Blindenstudienanstalt in Marburg, die in diesem Jahr 100 Jahre alt wird.
epd-bild/Rolf K. Wegst
Mit Bildung für sehbehinderte Heimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg fing 1916 alles an. Heute bietet die Deutsche Blindenstudienanstalt viele Chancen. Ihr Gymnasium ist das einzige für Blinde und Sehbehinderte in Deutschland, das zum Abi führt.

Till will später Moderator werden. Er ist schnell im Kopf, formuliert in druckreifen Sätzen und redet wie ein Wasserfall. "Darf ich unser Bohnenprojekt vorstellen? Diese Bohne liegt seit zwei Wochen im Wasser." Er hangelt sich am Regal entlang zur Fensterbank, wo Grünpflanzen aus bunten Töpfen wuchern. "Wir setzen sie später in den Schulgarten, da haben wir Hochbeete. Wir sind viel am Werkeln." Till, zwölf Jahre alt, ist blind.

Er geht in die die fünfte Klasse der Marburger Carl-Strehl-Schule. Das Gymnasium führt als einziges in Deutschland Blinde und Sehbehinderte von der fünften Klasse bis zum Abitur. Die Schule gehört zur Deutschen Blindenstudienanstalt "blista" in Marburg, die in diesem Jahr 100 Jahre alt wird.

Schüler kommen aus ganz Deutschland

Kleine Umfrage in Tills Klasse: Zwei Schüler kommen aus Hessen, zwei aus Baden-Württemberg, einer aus Berlin, einige aus Nordrhein-Westfalen. Esma, ein hellblondes, stilles Mädchen, fährt jeden Morgen 40 Minuten mit dem Taxi zur Schule. Er hatte sogar mal einen Schüler von der Insel Rügen, erzählt Schulleiter Claus Duncker. Am Wochenende reiste er zehn Stunden nach Hause.

Auch Till fährt regelmäßig heim nach Baden-Württemberg. "Die blista ist mein Dritt-Zuhause", sagt er, nach seiner Familie und seinen Großeltern: "Ich habe es mir hier schön eingerichtet." Der Schule angegliedert ist ein Internat. Die Schüler leben in Wohngruppen in der Stadt verteilt. Till liebt die Möglichkeiten der Schule: "Sehr interessant ist auch Deutsch, wir lernen gerade Nacherzählungen."

Am Nachmittag steht sein Lieblingsunterricht auf dem Stundenplan: Reiten. Nachher hat er Schwimmen, außerdem macht er gerade Mobilitätstraining. "Man wird immer selbstständiger", sagt er.

Marburg im Jahr 1912: Der jüdische Augenarzt und Schielforscher Alfred Bielschowsky erhält einen Ruf an die Universität. Zwei Jahre später beginnt der Erste Weltkrieg, der als Geburtsstunde der Massenvernichtungswaffen gilt und ein Heer von Blinden und Verstümmelten zurücklässt. Bielschowsky, Leiter der Augenklinik, richtet Betten für Soldaten ein, die durch Granatsplitter oder Giftgaseinsätze erblindet sind.

Doch das allein reicht nicht, erkennt der Arzt. Viele der jungen Kriegsversehrten standen kurz vor dem Abitur. Der Professor beauftragt den blinden Studenten Carl Strehl, Kurse in Blindenschrift zu geben.

Ziel ist die höhere Bildung für Blinde

"Darum ging es: höhere Bildung für Blinde", sagt die heutige stellvertretende Leiterin der blista, Imke Troltenier. "Bielschowsky war ein Genie, ein genialer Netzwerker." Gemeinsam mit Carl Strehl gründete der Arzt einen Verein blinder Akademiker, dessen Ziel eine Studienanstalt samt Hörbücherei war. Am 17. September 1916 wurde die Deutsche Blindenstudienanstalt gegründet.

In ihr spiegelt sich auch die Geschichte der Bundesrepublik. Behinderte traten immer selbstbewusster auf und forderten Teilhabe. In den 70er Jahren bot die blista die bundesweit ersten Kurse in Mobilität und Orientierung an. Der Bildungsboom brachte höhere Schülerzahlen.

Das Angebot verzweigte sich: Hinzu kamen die Deutsche Blinden-Bibliothek, Fachoberschulen für Wirtschaft und Sozialwesen, ein Wirtschaftsgymnasium und eine Berufsschule für IT-Berufe. Die Reha-Einrichtung der blista unterstützt Blinde und Sehbehinderte von der Frühförderung bis zum Seniorenalter.

Heute gilt die "inklusive Schule" als Ziel, in der behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam lernen. Braucht man da überhaupt noch ein Gymnasium nur für Blinde und Sehbehinderte? Zwar sei in fast allen Bundesländern der Besuch der allgemeinen Schulen der Regelfall, sagt Reiner Delgado, der beim Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband zuständig für Bildung ist. "Die Schulverwaltung kann aber immer noch sagen: Wir kriegen das hier nicht hin."

Unermüdlicher Kampf gegen Ausgrenzung

Und es gibt auch Gründe, warum für ein Kind der Besuch der blista besser sein kann. "Viele unserer Schüler haben extreme Ausgrenzungserfahrungen gemacht", berichtet Troltenier. Manchmal gebe es sozialen Stress in der Klasse, sagt auch Delgado. Hinzu kommt: "Eltern müssen sich super engagieren, damit es an der Regelschule klappt." Sie müssten zum Beispiel abends noch Texte einscannen oder etwas vorlesen. Nicht jede Familie könne das leisten.

Blista-Schüler machen Experimente in Chemie und Physik, arbeiten mit dem 3-D-Drucker, lernen Klettern, Surfen und Skifahren, machen Klassenfahrten nach Rom. Mehr als zwei Drittel der Schulabgänger schaffen es auf den ersten Arbeitsmarkt. Die Abiturnoten liegen im Bundesschnitt, es gibt Schüler, die eine Eins-Komma-Null im Abi schaffen. "Auch hier gilt: Je besser der Abschluss, desto besser die Möglichkeiten", sagt Schulleiter Duncker.

Stefanie Walter

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