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Die neue Behindertenbewegung - selbstbewusst und gut vernetzt




Blinde schwimmen in der Spree gegen das Bundesteilhabegesetz.
epd-bild/Rolf Zöllner
Behinderte Menschen treten mit teilweise schrillen Aktionen für ihre Rechte ein. Der Erfolg gibt ihnen recht: Wie nie zuvor greifen die Medien ihren selbstbewussten politischen Protest auf. Mit Facebook und Twitter verstärkt die Bewegung den Effekt.

Rollstuhlfahrer und andere behinderte Menschen ketten sich in der Nähe des Reichstags fest, um für Barrierefreiheit und für bessere Teilhabe zu demonstrieren. Vor dem Hauptbahnhof in Berlin wird ein Käfig aufgebaut, der symbolisch gegen die Unterbringung in Heimen stehen soll. Unter dem Motto "Blinde gehen baden" springen blinde Menschen in die Spree, um gegen das geplante Teilhabegesetz der Bundesregierung zu demonstrieren. In vielen deutschen Städten fanden in diesem Jahr Aufmerksamkeit heischende Demonstrationen und Aktionen der Behindertenbewegung statt. An diesem Montag versammeln sich wieder Behindertenorganisationen in Berlin, um mit Aktionen gegen das geplante Teilhabegesetz der Bundesregierung zu protestieren.

Starke Medienpräsenz

Wohl noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik haben behinderte Menschen mit ihren Forderungen eine derartige Medienpräsenz wie derzeit. Ihre Proteste sind so originell und laut, dass von den "Tagesthemen" bis zu "SternTV" Medien im ganzen Land darüber berichten.

Das Internet verstärkt die Protestwirkung: "Als wir die Aufmerksamkeit in sozialen Netzwerken hatten, haben auch viele etablierte Medien berichtet. Sonst verstecken sie sich oft hinter Ausreden wie der, dass Behindertenthemen zu komplex seien", sagt der Berliner Aktivist Raul Krauthausen dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Dabei ist die Gesellschaft schon viel weiter als viele Chefredakteure."

Über das Internet erfolgt auch die Vernetzung für die Aktionen. So können sich auch Menschen, die nicht mobil sind, an Protesten beteiligen und mitorganisieren. Auf Twitter ist #nichtmeinGesetz zum Slogan der Bewegung geworden. So erlebt die Behindertenbewegung nach vielen Jahren eine neue Blüte.

300.000 Protest-Unterschriften

Einer ihrer Aktivisten ist Constantin Grosch. Der 24-Jährige ist Kreistagsabgeordneter in Hameln und Rollstuhlfahrer. Er hatte vor drei Jahren eine Petition gestartet, in der er gemeinsam mit Krauthausen dafür eintrat, dass behinderte Menschen, die vom Staat Hilfsleitungen erhalten, das Recht bekommen, Vermögen anzusparen. Denn nach geltender Rechtslage dürfen voll berufstätige Menschen mit Behinderungen nicht mehr als 2.600 Euro auf dem Konto haben. Danach wird alles abgezogen, wenn sie vom Staat sogenannte Eingliederungshilfe erhalten. 300.000 Protest-Unterschriften haben die beiden Aktivisten im vergangenen Jahr zusammenbekommen und sie Bundessozialministerin Andrea Nahles (SPD) übergeben.

"An der Situation von Menschen mit Behinderungen hat sich in den vergangenen 20 Jahren kaum etwas geändert", sagt Constantin Grosch. Mit Blick auf das Bundesteilhabegesetz müsse man jetzt sogar darum kämpfen, dass etablierte Rechte und Standards erhalten bleiben, sagt Grosch.

Das sieht auch Swantje Köbsell so. Sie ist Professorin für Disability Studies an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin. Bereits in den 1980er Jahren hatte sie sich an Protesten beteiligt. "Im Gegensatz zu damals sind die Menschen heute besser vernetzt", sagt sie. Außerdem habe sich die Lage für Behinderte verschärft: "Damals ging es allein darum, Dinge zu erkämpfen. Heute geht es bei den Protesten oft darum, erkämpfte Dinge zu erhalten."

Neues Selbstbewusstsein

Constantin Grosch sieht noch einen anderen Unterschied zu den Protesten der 80er Jahre: "Ich glaube, dass wir es früher der Politik und Öffentlichkeit zu leicht gemacht haben." Denn die Behinderten hätten sich damals schon mit kleinen Verbesserungen, die weit hinter den eigenen Forderungen geblieben seien, zufrieden gegeben. "Es war ja immerhin etwas."

Grosch freut sich über das neue Selbstbewusstsein: "Zum Glück werden heute in der Behindertenbewegung Forderungen formuliert und keine Wünsche. Forderungen gilt es durchzusetzen - politisch, juristisch und medial. Gerade bei Letzterem tritt eine, wenn auch sehr langsame, Professionalisierung ein."

Christiane Link

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