Ausgabe 44/2016 - 04.11.2016
Frankfurt a.M. (epd). Neben der Tür steht ein Gebinde aus Reisig und Weidentrieben, Blüten aus Filz hängen darin. Aus der Tür kommt Nicola Varga, schlank, schwarzer Vollbart. Er hat sich seine Hütte wohnlich gemacht. Neben seiner stehen weitere Behausungen, mehr als 30. Sie reihen sich entlang einer Mauer, die sich um ein brachliegendes Industriegrundstück im Gutleutviertel in Frankfurt am Main zieht. Europaletten, Sperrholzreste, Knochensteine und Plastikplanen dienen als Baumaterial.
Hier sind etwa 50 Menschen versammelt, alle aus Alba Iulia, einer Stadt im rumänischen Siebenbürgen. Vargas ganze Familie ist hier, acht Personen, nebenan wohnt seine Tochter. "In Alba haben wir auch schon so gelebt", sagt er und zeigt auf seine Hütte. Sein Neffe sei der erste gewesen, der nach Deutschland kam. Mit der Zeit folgten die anderen nach. Varga lebt seit mehr als einem Jahr hier. Er schlägt sich mit Flaschensammeln durch oder sucht im Müll nach Wertstoffen. So wie alle hier.
Die Frankfurter Industriebrache ist nicht zum ersten Mal das Ziel rumänischer Wanderarbeiter. Schon einmal vor drei Jahren lebten auf dem Gelände Rumänen - unter Bedingungen, die jenen von Elendsvierteln in Entwicklungsländern ähneln. Der Eigentümer ließ das Gelände damals räumen - mittlerweile haben sich wieder Menschen hier niedergelassen.
Diese Art des Wohnens passe zwar nicht ins Bild Frankfurts, sagt der Sprecher des Ordnungsamts, Michael Jenisch. Seine Behörde habe aber dagegen keine Handhabe. "Wir kümmern uns um die Auswüchse menschlichen Verhaltens", sagt er. Aber dort im Gutleut-Viertel gebe es keine, gegen die man einschreiten müsse. Die Bewohner des Grundstücks verhielten sich unauffällig.
Die Stadt könne dem Eigentümer kaum Vorgaben machen, wie er sein Gelände nutze, erläutert Jenisch. Um das Grundstück räumen zu lassen, könne er sein Hausrecht geltend machen und die Dienste der Polizei in Anspruch nehmen. Dem Vernehmen nach habe er aber derzeit nichts gegen die Rumänen. Das Areal gehöre einer Firma aus Italien, deren Geschäftsführer derzeit im Gefängnis sitze, sagt Jenisch. Ein Vertreter jenes Unternehmens habe vor einiger Zeit Ratten auf dem Gelände bekämpft, seither gebe es dort keinen nennenswerten Schädlingsbefall mehr.
"Das ist der klassische Fall der Selbstorganisation von Menschen, die hierherkommen, aber keinen Anspruch auf staatliche Hilfe haben", sagt Joachim Brenner, Vorsitzender des Fördervereins Roma in Frankfurt. Zu etlichen der Menschen, die dort leben, habe man Kontakt durch die Sozialberatung, die der Förderverein anbiete. Allerdings leben auf dem Gelände nur ethnische Rumänen, keine Roma. Kinder gibt es dort nicht, die sind in Rumänien geblieben. Würden in den Hütten Kinder leben, stünde sofort das Jugendamt auf der Matte. Doch auch die Erwachsenen kämpfen tagtäglich. Gelegentlich hat Varga Schmerzen im linken Brustkorb. Zum Arzt gehen kann er nicht - keine Krankenversicherung, kein Geld.
Bettina Bonnet schaut in die Hütten. "Brauchen Sie Schlafsäcke?", fragt sie die Bewohner. "Es ist mittlerweile ja schon ziemlich kalt." Bonnet arbeitet für das Obdachlosenhilfezentrum "Weser5" der Diakonie Frankfurt. Das Zentrum im Bahnhofsviertel ist für viele der Rumänen ein Fixpunkt. Dort duschen sie, waschen ihre Kleidung, bekommen auch etwas zu essen. Eine Privatperson, die im benachbarten Main-Taunus-Kreis lebt, hat zwei chemische Toiletten auf dem Grundstück aufstellen lassen.
Trockenbauer sei er, sagt Varga. Er würde gerne in diesem Beruf arbeiten, aber er spricht kein Wort Deutsch - wie die meisten hier. Aus einer anderen Hütte kommt Kirilie Ovidiu. Er will hier Geld verdienen für eine Operation, die sein Sohn benötige, sagt er. Acht Jahre alt sei der, könne nicht laufen, weil er einen offenen Rücken habe. 1.000 Euro koste die OP in Rumänien, die will Ovidiu in Deutschland zusammensammeln.