Ausgabe 44/2016 - 04.11.2016
Gießen (epd). Klaus scheint sein Glück noch nicht ganz zu fassen. "Momentan bin ich happy", sagt er nur. Dabei hat er Arbeit und Wohnung - beides vor kurzem noch unvorstellbar für einen wie ihn. Klaus war alkoholabhängig und lebte auf der Straße. Gemeinsam mit ihm probiert die Gießener Diakonie einen neuen Ansatz aus: "Housing First", was so viel bedeutet wie: zuerst eine Wohnung. Obdachlose können direkt in eine eigene Wohnung ziehen, werden aber noch von Sozialarbeitern begleitet.
Klaus heißt eigentlich anders, sein richtiger Name soll nicht veröffentlicht werden. Obdachlosigkeit ist mit vielen Stigmata behaftet. "Die Leute denken, Obdachlose sind Penner", sagt der kräftige Mann mittleren Alters. Gerade habe er seine neue Nachbarin kennengelernt, eine alte Dame mit einem alten Hund. Die Wohnung liegt in einem gemischten Wohnviertel in Gießen. Zusammen mit seinem Chef war Klaus heute einkaufen: ein Sofa und ein Bett.
"Housing First" bedeute einen Wechsel der herkömmlichen Praxis, schildert Sarah von Trott, Diplom-Pädagogin in der Wohnungslosenhilfe "Die Brücke": Bisher leben Obdachlose oft in Frauen- oder Männerwohnheimen, in denen sie sich erst für verschiedene Wohnformen "qualifizieren" müssen, beispielsweise vom Mehrbett- für ein Einzelzimmer und dann erst für die eigene Wohnung. "Problemgruppen bleiben unter sich", kritisiert von Trott. Die Obdachlosen müssten außerdem tagsüber das Wohnheim verlassen, treffen sich in der Szene, wo Probleme sich potenzieren und Perspektivlosigkeit herrscht.
Auch Klaus lebte im Teufelskreis: "Tagsüber musste ich raus aus dem Wohnheim und ging dann zum Treffpunkt am Marktplatz. Man muss sich viele Gedanken machen, wo der nächste Schlafplatz ist. Viele sitzen im Knast, weil sie eine Flasche Wodka geklaut haben." Klaus landete im Gefängnis, weil er Essen und Alkohol stahl. Nach der Entlassung, ohne Perspektive, traf er die alten Freunde vom Marktplatz wieder.
"Housing First" bedeutet: so schnell wie möglich in eigenen Wohnraum. In Deutschland wird das aus den USA stammende Konzept wenig ausprobiert. Die USA, aber auch Norwegen oder Österreich setzen es schon länger um, Studien belegen die Erfolge. In Wien etwa lebten in einer Testphase 98 Prozent der insgesamt 131 betreuten Menschen stabil in der eigenen Wohnung - mit Unterstützung durch die Hilfsorganisation "neunerhaus".
Die Gießener Diakonie hat neben Klaus noch eine Frau im Projekt, ein dritter Klient bezieht demnächst eine Wohnung, ein vierter befindet sich derzeit in Therapie und soll danach ein eigenes Heim bekommen. "Wir nehmen Leute, die sich in einer Motivationsphase befinden", erklärt Sarah von Trott. Auch Klaus machte eine Therapie. Obdachlosigkeit hat eine politische Dimension: Seit Jahren werden kaum noch bezahlbare Sozialwohnungen gebaut.
"Für unsere Klienten lief auf dem Gießener Wohnungsmarkt nichts mehr", berichtet Sozialarbeiter Norbert Leidinger-Müller. Die Diakonie arbeitet daher mit der Wohnbau Gießen zusammen. Das Diakonische Werk mietet die Wohnungen und vermietet sie an einen Klienten weiter. Vor allem der Europäische Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen sowie das Bundessozialministerium finanzieren das Projekt.
Klaus streift einen roten Pulli über die sehr muskulösen, sehr tätowierten Arme. Er hat nicht nur eine Wohnung, sondern auch einen Job. Bei Armin Eisenkramer arbeitet er auf dem Bau. "Klaus hat zwei Wochen Praktikum gemacht, das gefiel mir sehr gut", erzählt sein Arbeitgeber. "Er war pünktlich und fleißig." Seit zwei Monaten ist Klaus nun fest angestellt. Sie sehe es immer wieder, sagt Sarah von Trott: "Es gibt so viele Leute mit so viel Potenzial." Eigentlich müssten sie alle in ein "Housing First"-Projekt.