sozial-Politik

Armut

Obdachlos, mit Spreeblick




Obdachlosencamp unweit des Kanzleramtes in Berlin.
epd-bild/Rolf Zöllner
Die Zelte und Schlaflager von Obdachlosen auf Plätzen und Grünanlagen im Zentrum Berlins gehören immer mehr zum Stadtbild. Jetzt gehen die Behörden gegen die illegalen Camps vor.

Sie leben mitten im Berliner Regierungsviertel, direkt am Spreeufer. Der oberhalb des Ufers verlaufende geschwungene Panoramaweg des Spreebogenparks bildet an dieser Stelle ein mehrere hundert Meter langes schützendes Betondach, unter dem sich ihre Zelte aneinanderreihen. Vor den Behausungen stehen Gaskocher, Kochgeschirr und Schuhe, über den Bänken hängen Schlafsäcke zum Auslüften, an einem Betonpfeiler lehnt ein Besen, daneben stapeln sich Bücher.

Wohnungslos und berufstätig

Die dienstälteste Bewohnerin des Obdachlosen-Camps lebt seit sechs Jahren an diesem Ort gegenüber vom Bundesbildungsministerium und ist studierte Betriebswirtschaftlerin. Udo ist erst seit Weihnachten hier, zuvor habe er gegenüber unter der Hugo-Preuß-Brücke gewohnt, sagt der 58-Jährige. Ein anderer Mann, er will seinen Namen nicht nennen, hat vor anderthalb Jahren sein Zelt in einer der Nischen aufgeschlagen. Er ist zwar berufstätig, aber wohnungslos und geht von hier aus jeden Morgen zur Arbeit. "Bei diesen Mieten kann ich nicht mehr mithalten", sagt er.

Obwohl das wilde Camp unweit des Kanzleramtes zu allen Jahreszeiten sehr präsent ist, ließen die Berliner Behörden die Bewohner jahrelang gewähren. Ene Januar rückten dann plötzlich Polizei und Ordnungsamt an und begannen zu räumen. Zelte, Schlafsäcke und weitere Habseligkeiten flogen in einen mitgebrachten Container. Erst auf Intervention von eilig herbeitelefonierten Unterstützern und nachdem ein Kamerateam eines Privatsenders auftauchte, stoppten die Behörden ihr Tun und räumten den Obdachlosen eine 48-Stunden-Frist ein.

Udo besuchte dann in Begleitung des Kamerateams den zuständigen Bezirksbürgermeister, Stephan von Dassel (Grüne), im Rathaus von Berlin-Mitte und handelte einen weiteren Kompromiss aus. "Geräumt wird nicht, solange nicht eine für alle annehmbare Lösung gefunden wurde", berichtet Udo. Warum von Dassel sie aber überhaupt weg haben wollte, habe er ihm nicht verraten.

Schwäne und andere Wildvögel getötet

Die stillschweigende Duldung der Lager lasse die Zahl der illegalen Camper immer weiter anwachsen, verteidigte der Bezirksamtschef später das Vorgehen. Deswegen werde illegales Campieren auf öffentlichen Flächen jetzt unterbunden. Das wilde Campieren zu tolerieren, sei nicht sozial und löse keine Probleme. Es gebe ausreichend Hilfsangebote für die Menschen.

Im Großen Tiergarten hatte der Grünen-Politiker bereits mehrere wilde Zeltlager räumen lassen. Entfernt wurden insgesamt 15 Zelte, bewohnt vorwiegend von Wanderarbeitern aus Ost- und Südosteuropa. Das illegale, vermüllte Camp wurde schon mehrfach von den Behörden aufgelöst, zuletzt im November, nachdem bekannt wurde, dass die Bewohner Schwäne und andere Wildvögel aus dem Tiergarten töteten und verzehrten.

"Bei uns geht es aber ganz anders zu", sagt der eloquente Udo am Spreebogen. "Wir achten auf Ordnung und Sauberkeit. Wir wären doch bescheuert, wenn wir hier überall hinkacken würden." In der Tat liegt nirgendwo Müll, die Steinplatten sehen aus wie frisch gefegt, Zigarettenkippen landen in einem Aschenbecher. WC und Körperhygiene erledigen die Bewohner im benachbarten Hauptbahnhof oder im Bahnhof Friedrichstraße, Gutscheine für die dortigen Duschen werden ihnen immer wieder von Unterstützern zugesteckt.

Versagen des Sozialstaates

Elf bis zwölf Menschen leben derzeit am Spreebogen, sagt der Mann, der berufstätig ist, "alles Deutsche". Es habe aber auch schon Polen und Bulgaren unter den Bewohnern gegeben, das wechsele immer mal wieder. Ihre Schicksale sind alles Geschichten vom Versagen des Sozialstaates. Sie sind aus unterschiedlichsten Gründen durch die Maschen des soziales Netzes gerutscht und auf der Straße gelandet.

Udo etwa war früher mal Eventmanager in München, "vor drei Jahren habe ich noch Maßanzüge getragen, dann wurde ich krank", den Berufstätigen warf eine Scheidung aus der Bahn, ein Graubärtiger arbeitete bis vor wenigen Jahren im Hausservice der Europäischen Zentralbank in Frankfurt, konnte dann nicht mehr und füttert seitdem die Wildenten auf Spree.

Sie würden alle gerne ihren kalten Zelte gegen eine warme Wohnung tauschen, sagt der Berufstätige. "Aber es muss bezahlbar sein. Ich bin nicht bereit, nur für die Miete zu arbeiten." Sie hoffen auf ein Angebot der Behörden, dann würden sie auch freiwillig gehen: "Aber ohne Vorankündigung uns einfach so räumen, das geht nicht."

Eine Unterstützerin hat Udo als Übergangslösung für drei Wochen ihre Wohnung angeboten, so lange sie verreist ist. "Das ist nett, kann ich aber nicht annehmen", sagt der 58-Jährige. Nach drei Wochen warmer Wohnung wieder auf die Straße zurückzumüssen, "das ist für mich zu viel Achterbahn".

Markus Geiler

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