sozial-Politik

Nachbarschaftshilfe

Senioren helfen sich gegenseitig in Bürgergenossenschaften




Senioren nutzen Bürgergenossenschaften zur Selbsthilfe.
epd-bild/Bocholter Buergergenossenschaft/Betz
Im Alter so lange wie möglich zu Hause leben - ein Baustein dazu kann organisierte Nachbarschaftshilfe in Senioren- oder Bürgergenossenschaften sein. Nach Meinung von Experten bekommen solche Initiativen aber zu wenig finanzielle Förderung.

"Ich stand vor einem Haufen praktischer Probleme", erinnert sich Ursula Lodewick an die erste Zeit nach dem Tod ihres Mannes. Zwar wirkt die rüstige Seniorin mit dem sportlichen, grauen Kurzhaarschnitt deutlich jünger als 81 Jahre. Dennoch stieß sie ständig an ihre Grenzen, etwa als sie in ihrem Reihenhaus in Bocholt umräumen wollte. "Man kann ja auch nicht ständig zu den Nachbarn rennen und um Hilfe bitten." Doch kam sie auf eine Lösung: In der Zeitung las Lodewick von der Bocholter Bürgergenossenschaft und wurde direkt Mitglied. Seitdem findet sie immer jemanden, der sie unterstützt.

Ein Zeitkonto bei der Genossenschaft

Zum Umräumen kam Bürgergenossenschafts-Mitglied Josef Schnelting vorbei und half ihr, das Bett über die enge Treppe ins Erdgeschoss zu transportieren. Dafür zahlte die Rentnerin acht Euro pro Stunde an die Genossenschaft. Drei Euro behält diese als Verwaltungsgebühr ein. Fünf Euro pro Stunde werden Josef Schnelting auf einem Zeitkonto gutgeschrieben.

"Jetzt kann ich noch helfen, später kann dann mir geholfen werden", sagt der rüstige Rentner. Sollte er in höherem Alter selbst einmal Unterstützung brauchen, kann er diese bei der Genossenschaft anfordern und dabei auf sein Zeitkonto zurückgreifen. Oder er kann sich auch das Geld auszahlen lassen.

Organisierte nachbarschaftliche Hilfe auf Gegenseitigkeit ist nicht neu. Zu Beginn der 90er Jahre lernte der damalige baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth (CDU) Bürgergenossenschaften auf einer USA-Reise kennen. Daraufhin initiierte er eine Reihe von Modellprojekten im Ländle. Doch bundesweit richtig Schwung aufgenommen hat die Idee erst in den vergangenen Jahren.

Ein Drittel der rund 230 Genossenschaften in Deutschland sei in den vergangenen fünf Jahren gegründet worden, sagt Doris Rosenkranz, Leiterin eines vom Bundesforschungsministerium geförderten Projekts zu Seniorengenossenschaften. "Das Thema ist durch den demografischen Wandel stärker geworden", stellt die Sozialwissenschaftlerin von der Technischen Universität Nürnberg fest. Seniorengenossenschaften könnten ein Baustein in der Versorgung älterer Menschen sein, damit diese länger selbstständig in den eigenen vier Wänden wohnen können.

Engpässe in der Kinderbetreuung

Viele Senioren kämen im Großen und Ganzen noch gut alleine zurecht, sagt Andrea Kuhlmann vom Institut für Gerontologie an der Technischen Universität Dortmund. Doch kleine Arbeiten im Haushalt wie das Auswechseln einer Glühlampe könnten schon einmal zum unüberwindlichen Problem werden.

Hier springen Bürgergenossenschaften ein: Mitglieder können sich melden, wenn sie zum Beispiel Hilfe beim Einkaufen oder eine Begleitung ins Konzert brauchen, Bilder aufgehängt oder Formulare ausgefüllt werden müssen. Die Bocholter Genossenschaft bietet darüber hinaus auch Hilfe für Eltern, wenn Engpässe in der Kinderbetreuung entstehen. Dafür könnten auch ältere Menschen einspringen.

Ein Ersatz für professionelle Anbieter wie etwa Pflegedienste seien Seniorengenossenschaften aber nicht, betont Andrea Kuhlmann. Sie hat die Gründung der Bocholter Genossenschaft im Rahmen eines Modellprojekts begleitet, das vom Land Nordrhein-Westfalen und der EU gefördert wurde. Die Genossenschaft habe einen Katalog von Angeboten, die von den Leistungen professioneller Dienstleister oder Organisationen genau abgegrenzt seien.

Viele rechtliche Hürden

Bislang sind nach den Erkenntnissen von Rosenkranz bundesweit erst etwa 75.000 Menschen Mitglied von Seniorengenossenschaften. Vielfach fehlt wohl das Vertrauen in das Modell. "Es ist ein Wechsel auf die Zukunft", sagt Rosenkranz. Entscheidend sei eine gute Organisation und Verlässlichkeit. Denn die Menschen, die heute Zeit investierten, könnten später nur dann selbst profitieren, wenn es auch in Zukunft genügend junge oder rüstige Mitglieder gibt.

Deshalb hätten Genossenschaften, in denen die Mitglieder nur Zeit ansparten, meist weniger Zulauf, sagt Rosenkranz. Erfolgreicher seien Modelle wie das in Bocholt, bei denen für die Leistung bezahlt und das Honorar hinterlegt werde. Die Genossenschaftsmitglieder können sich ihre angesparten Honorare dann auch jederzeit auszahlen lassen.

Allerdings seien für die Gründung solcher Genossenschaften viele rechtliche Hürden zu überwinden, sagt Kuhlmann. Das erfordere Menschen, die bereit seien, ehrenamtlich viel Zeit zu investieren. Nach ihrer Meinung müsste das Engagement für Seniorengenossenschaften stärker durch Anschubfinanzierungen gefördert werden. Bislang unterstütze lediglich Bayern die Gründung von Seniorengenossenschaften mit bis zu 30.000 Euro.

Claudia Rometsch

« Zurück zur vorherigen Seite


Weitere Themen

Experten fordern gesetzliche Regelung zur Personaldichte in Kliniken

In Deutschland muss sich einer Studie zufolge eine Pflegekraft um 13 Patienten kümmern. In anderen Ländern ist das Verhältnis besser. Wissenschaftler fordern ein neues Gesetz. Die Regierung verweist auf eine gute finanzielle Ausstattung der Kliniken.

» Hier weiterlesen

22 Prozent der Grundschuleltern suchen Kinderbetreuung

Viele Eltern von Grundschulkindern suchen derzeit vergeblich nach einer Tagesbetreuung für ihren Nachwuchs: Laut Bundesfamilienministerium haben 22 Prozent dieser Eltern Bedarf an Betreuung nach dem Schulunterricht angemeldet. Auch bei kleinen Kindern bis drei Jahren sei der Betreuungsbedarf nach wie vor hoch, teilte das Ministerium am 3. Februar in Berlin mit. Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) sieht in den neuen Zahlen einen Beleg, dass der Ausbau in der Kindertagesbetreuung weitergehen müsse, auch für Grundschulkinder.

» Hier weiterlesen

Linke fordert Gebärdendolmetscher in Bürgerschaft

Die Linke-Fraktion in der Hamburger Bürgerschaft fordert den verbindlichen Einsatz von Gebärdensprachdolmetschern bei Senatsauftritten und Veranstaltungen der Bürgerschaft. "Das Recht auf Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben ist in der UN-Behindertenrechtskonvention fest verankert", sagte Cansu Özdemir, inklusionspolitische Sprecherin der Fraktion, am 5. Februar.

» Hier weiterlesen