sozial-Politik

Pflege

Interview

Gesundheitsökonom fordert: Keine Reformpause bei der Pflege




Heinz Rothgang
epd-bild/David Ausserhofer
Der Bremer Gesundheitsökonom Heinz Rothgang erwartet von der künftigen Bundesregierung weitere Reformen in der Pflege. Die größte Sorge der Politik müsse der Personalmangel sein, sagte Rothgang im Interview. "Wir haben jetzt schon einen Notstand - aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was kommt."

Eine mögliche Jamaika-Koalition darf trotz der Reformen in der vergangenen Legislaturperiode die Hände nicht in den Schoß legen, sagt der Bremer Gesundheitsökonom Heinz Rothgang. Die größten Probleme in der Pflege bleiben der Fachkräftemangel und die geringe Bezahlung der Pflegekräfte. Mit Rothgang sprach Bettina Markmeyer.

epd sozial: Herr Professor Rothgang, sehen Sie bei den möglichen Koalitionspartnern Union, FDP und den Grünen einen gemeinsamen Willen, mehr für die Pflege zu tun?

Heinz Rothgang: Im politischen Berlin hört man häufiger, wir haben in den letzten vier Jahren viel für die Pflege getan, da könnte jetzt mal Ruhe einkehren. Ich halte das für falsch - bin aber zugleich optimistisch, dass eine Jamaika-Koalition die Hände nicht in den Schoß legen wird. Tatsächlich ist in der vergangenen Legislaturperiode die größte Reform seit Einführung der Pflegeversicherung umgesetzt worden. Trotzdem bleibt die Pflege ein Zukunftsthema.

Wir haben den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, der die Demenzkranken angemessen einbezieht - aber wir haben noch keinen neuen Pflegebegriff. Ein anderer Umgang mit den Menschen muss in der Praxis erst noch umgesetzt werden. Und wir müssen etwas gegen den Fachkräftemangel tun. Man wird sehen, ob es zu besseren Tarifverträgen kommt - oder ob der Gesetzgeber mit einem Branchentarifvertrag nachhelfen muss.

epd: Eine andere Finanzierung der Pflegeversicherung, wie sie von den Grünen und auch von Ihnen als Wissenschaftler gefordert werden - Stichwort Bürgerversicherung - wird es aber mit einer Jamaika-Koalition nicht geben.

Rothgang: Dennoch muss sich etwas ändern. Ich sehe auch erste Schritte dazu. Hamburg macht vor, wie man den Beamten den Weg in die gesetzliche Sozialversicherung ebnen kann. In der Union gibt es Überlegungen, einige Leistungen anders zu finanzieren als heute. Das könnte dazu führen, dass es mehr Reha-Leistungen für Pflegebedürftige gibt und weniger stationäre Pflege. Beides würde die Ausgaben der Pflegeversicherung günstig beeinflussen - wogegen weder die FDP noch die Grünen etwas haben können.

epd: Die größten Mängel in der Pflege sind fehlendes Personal und die schlechte Bezahlung der Pflegekräfte. Stimmen Sie zu?

Rothgang: Ja. Wir haben verschiedene Probleme in der Pflege, aber der Personalmangel muss unsere größte Sorge sein. Wir haben jetzt schon einen Notstand – aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was kommt. Wir erwarten, dass die Zahl der Pflegebedürftigen in den kommenden 30 Jahren von rund drei Millionen auf fünf Millionen Menschen steigt. Gleichzeitig wird die Zahl der Erwerbspersonen sinken. Selbst wenn weiterhin anteilig genauso viele in der Pflege arbeiten wie heute, tut sich eine riesige Schere auf.

epd: Dazu gibt es sehr unterschiedliche Prognosen – womit rechnen Sie?

Rothgang: Wenn wir vom heutigen Verhältnis der in der Pflege Beschäftigten zu den Pflegebedürftigen ausgehen, tut sich bis zum Jahr 2030 eine Lücke von 350.000 Vollzeitstellen auf. Das sind rund eine halbe Million Beschäftigte, weil in der Altenpflege viel Teilzeit gearbeitet wird. Diese Berechnung bezieht sich auf alle Personen, die in der Langzeitpflege arbeiten, nicht nur auf die Fachkräfte. Wenn wir aber sagen, wir haben heute schon zu wenig Personal, dann fehlen künftig noch mehr Pflegekräfte.

epd: Viele Pflegeanbieter sparen beim Personal. Würde ein bundesweit einheitlicher Personalschlüssel helfen, wie ihn die Grünen fordern?

Rothgang: Im Rahmen der jüngsten Pflegereformen ist beschlossen worden, dass bis 2020 ein einheitliches Personalbemessungsverfahren entwickelt werden soll. Das halte ich für sinnvoll. Wir haben heute in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg um ein Viertel höhere Personalquoten als in Mecklenburg-Vorpommern oder in Brandenburg. Es ist aber nicht einzusehen, warum jemand, der in Ostdeutschland im Heim gepflegt wird, weniger Pflege braucht als jemand in Süddeutschland.

Das andere Problem ist, dass in den Schichten in den Heimen zu wenige Personen arbeiten. Das führt im Extremfall dazu, dass eine Pflegekraft nachts für 50 Menschen zuständig ist. Diesem Missstand könnte ein bundesweit einheitliches Bemessungsverfahren abhelfen, das Mindestzahlen für das Personal benennt. Diese Zahlen würden – wie ich vermute – über den heutigen liegen.

epd: Und die Entlohnung?

Rothgang: Auch da haben wir große regionale Unterschiede. Da muss man über Tarifverträge reden und die Frage stellen: Brauchen wir einen Branchentarifvertrag? Wir haben inzwischen aber schon eine Regelung, die Lohnsteigerungen ermöglicht. Im dritten Pflegestärkungsgesetz ist abgesichert worden, dass alle, auch hohe Tarifverträge als wirtschaftlich gelten und refinanziert werden. Es gibt aber Hürden bei der Umsetzung, so dass sich die politisch ja durchaus gewollte Stärkung von Tarifverträgen für die Beschäftigten bisher kaum bemerkbar macht.

epd: Ist der unterschiedlich hohe Pflege-Mindestlohn in Ost und West noch gerechtfertigt?

Rothgang: Ich glaube, dass wir 28 Jahre nach dem Mauerfall diese Ost-West-Trennung aufheben sollten, selbst wenn die Lebenshaltungskosten im Osten mancherorts noch niedriger sind als im Westen.


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