sozial-Politik

Behinderung

Warum Arbeitgeber und Menschen mit Handicap so schwer zusammenkommen




Noch die seltene Ausnahme: Alisa Hecht, eine junge Frau mit Down-Syndrom, bei ihrer Ausbildung zur Hauswirtschafterin. (Archivbild)
epd-bild/KUNZ/Augenklick
Menschen mit Behinderungen sollen besser in die Arbeitswelt integriert werden. Dieses Ziel verfolgen deutsche Regierungen schon sehr lange. Aber: Viele Arbeitgeber kaufen sich von ihrer Pflicht frei, behinderte Arbeitskräfte einzustellen.

Die Rechtspflegerin ist blind. Heute arbeitet sie problemlos, doch beinahe hätte sie den Job nicht bekommen - aus Unwissenheit des Arbeitgebers. Die Frau scannt Akten in eine Computer-App, die ihr die Inhalte der Papiere vorliest. "Im Vorstellungsgespräch ging es ausschließlich um ihre Sehbehinderung und was sie deshalb angeblich nicht kann", sagt Peter Sdorra, Richter am Kammergericht Berlin und Hauptvertrauensperson schwerbehinderter Richter. "Die Vorlese-App kannte der Arbeitgeber nicht und sie damit Probe arbeiten lassen wollte er nicht." Sdorra hat es durchgesetzt - und die behinderte Frau bekam den Job.

Solchen "Barrieren in den Köpfen der Arbeitgeber" begegneten viele Menschen mit Behinderung: "In 80 Prozent der Vorstellungsgespräche geht es darum, was die Bewerber nicht können und nicht darum, was sie können", sagt Sdorra, selbst sehbehindert. "Qualifizierte Menschen bekommen keine Chance, obwohl sich jeder Arbeitsplatz verändern lässt - und das auch finanziell gefördert wird." Mit seinem 2016 gegründeten Verein "Führungskräfte mit Behinderung" will Sdorra bundesweit Arbeitgeber ermutigen, Menschen mit Behinderung einzustellen.

550 Millionen Euro aus Freikauf

Tatsächlich tut sich Deutschland schwer mit der Inklusion am Arbeitsmarkt: Bei Firmen ab 20 Beschäftigten muss der Anteil behinderter Angestellter bei mindestens fünf Prozent liegen. Die meisten Unternehmen erfüllen die Quote nicht und zahlen eine Abgabe. Etwa 550 Millionen Euro kommen auf diese Weise jedes Jahr zusammen. Damit werden zum Beispiel Arbeitsplätze in Integrationsfirmen gefördert. Dort haben 25 bis 50 Prozent der Kollegen Behinderungen. Würden mehr Firmen die Quote erfüllen, bräche das Geld dafür weg. "Absurd", sagt Heinrich Greving, Erziehungswissenschaftler an der Katholischen Hochschule NRW.

Er sieht weitere Strukturen, die die Inklusion am Arbeitsplatz bremsen. 300.000 Menschen arbeiten in Behindertenwerkstätten. Deren Übergangsquoten in den Arbeitsmarkt liegen bei höchstens einem Prozent. "Wer einmal dort arbeitet, bleibt meistens dort." Und hat den juristischen Status "arbeitnehmerähnlich". Das bedeutet, er muss für ein Taschengeld arbeiten. "Es ist als Rechtsstatus das Gegenteil von Inklusion: nicht gleichwertig", sagt der Professor.

Werkstätten kooperieren mit Firmen

Ein Teil der Werkstätten kooperiere mit Wirtschaftsunternehmen. Oder gehe mit Modelabeln oder Restaurants raus aus der Werkstatt in die Innenstädte - und machen so Menschen mit Behinderungen und ihre Arbeit sichtbar. "Es gibt auch solche, die so arbeiten, wie man es immer gemacht hat." Das heißt: Ohne jeden Kontakt zum normalen Arbeitsmarkt.

Oft wird kritisiert, dass Menschen, die in Werkstätten für Behinderte zu den Leistungsträgern gehören, zum Bleiben bewegt werden - damit die Einrichtungen Stückzahlen schaffen und keine Aufträge verlieren. Ein Systemfehler, der diese Menschen vom regulären Arbeitsmarkt fernhält?

"In einigen Regionen gibt es schon Marktdruck", sagt Jörg Heyer, Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen. "Wir haben aber kein Nachwuchsproblem: Wenn jemand geht und nicht durch einen Einzelnen ersetzt werden kann, teilen wir die Arbeit eben auf mehrere auf."

Ziel ist Befähigung zu "normaler" Arbeit

Ziel sei immer die Befähigung zur Arbeit, auch im regulären Arbeitsmarkt. "Es geht aber eben oft nicht." In den Werkstätten arbeiteten vor allem Menschen, die aus körperlichen, geistigen oder psychischen Gründen keine drei Stunden am Tag zu üblichen Bedingungen arbeiten können. Dies stellt ein Integrationsamt fest. "Wer voll erwerbsfähig ist, kommt hier gar nicht hin - unabhängig vom Grad der Behinderung."

Eine Chance sieht Heyer im Budget für Arbeit, das ab 2018 jedem Werkstattmitarbeiter zusteht. Mit ihm bekommen Arbeitgeber dauerhafte Lohnkostenzuschüsse und die Mitarbeiter einen Arbeitsvertrag. Sollte es nicht funktionieren, können sie auf ihre alte Stelle in der Werkstatt zurückkehren. "Das hilft, Barrieren bei Arbeitgeber abzubauen", sagt auch Heinrich Greving. Und verändere auch die Rolle der Werkstätten: "Nicht jeder braucht einen Schutzraum - und vor allem nicht für immer."

Miriam Bunjes

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