Ausgabe 46/2017 - 17.11.2017
Bremen (epd). Früher war das Gebüsch in den Bremer Wallanlagen ein guter Ort für Obdachlose. In den Sträuchern - ein paar Steinwürfe vom Marktplatz entfernt - konnten sie tagsüber ihr Gepäck verstecken und nachts unter dem dichten Blätterdach schlafen. "Das ist vorbei", sagt Harald Barzen und macht eine Handbewegung, als ob er etwas abschlägt. "Hier ist Gerd gestorben. Und damit das nicht noch mal passiert und hier niemand mehr Platte macht, hat die Stadt die Büsche kappen lassen. Unter Polizeischutz."
Jetzt sei es ein böser Ort, sagt Barzen, der selbst keine Wohnung hat. Zusammen mit Obdachlosen-Seelsorger Harald Schröder leitet er in Bremen eine Besuchergruppe zu Plätzen, die in keinem Stadtführer stehen. Es ist eine soziale Stadtführung zu Orten, die für Obdachlose wichtig sind: Schlafstellen, Gepäcklager, Bettelplätze. Aber auch zu schwierigen Orten: An den Arkaden am Marktplatz werden manchmal Bettelbecher "ganz aus Versehen" mit dem Fuß weggekickt und Bettelnde getreten. "Hier werden wir immer wieder vertrieben", erzählt Barzen, "denn der Anblick von Armut an dieser Stelle ist nicht erwünscht."
Solche sozialen Stadtführungen seien erstmals in Amsterdam organisiert worden, sagt Werena Rosenke, Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe in Berlin. "Nach diesem Vorbild werden sie mittlerweile in vielen deutschen Großstädten angeboten, oft von den Straßenzeitungen dort."
Jahrelange Erfahrungen mit solchen Touren haben beispielsweise Nürnberg und Dortmund. Aber auch in Hannover, Göttingen, Regensburg und Bochum gibt es solche Aktionen. "Es geht darum, Vorurteile abzubauen", erklärt Rosenke. "Zum Beispiel, dass alle Wohnungslosen betrunken auf Parkbänken liegen. Richtig ist: Viele versuchen, möglichst unerkannt und unsichtbar zu bleiben."
Bei Barzens Rundgang trifft die Gruppe auf leere Schlafplätze. "Parkbänke, auf denen man sich mal ausruhen könnte, gibt es kaum", sagt der 65-Jährige. Es hat fast den Anschein einer versteckten Welt, in die er da einführt. Beispielsweise beim Blick in eine überdachte Straße, die zu zwei Garagen führt. Ein lärmiger Ort, der jetzt bei Geschäftsbetrieb nach Abgasen stinkt. "Aber wichtig für uns", meint Barzen. "Hier steppt nach Mitternacht der Bär, an vielen Stellen wird übernachtet."
Eine offizielle Statistik zur Zahl der Wohnungslosen gibt es nicht. 2014 waren es bundesweit etwa 335.000, schätzen Experten. Bis 2018 könnte ihre Zahl auf mehr als eine halbe Million steigen. Allein in Bremen seien es etwa 600, bilanziert die Wohnungslosenhilfe des Bremer Vereins für Innere Mission. Es seien zunehmend Jüngere, zunehmend Menschen aus Südosteuropa, die sich in ihrer Wohnungsnot alte Autos kauften, um darin zu übernachten.
Respekt vor der Überlebensleistung von Menschen in extrem desolaten Verhältnissen zu wecken, das sei eine Chance solcher Führungen, sagt der Hildesheimer Sozialwissenschaftler und Theologe Udo Wilken. Dabei sei allerdings Fingerspitzengefühl gefragt. "Solche Unternehmungen sollten nicht zu einer respektlos-entwürdigenden, sozial-voyeuristischen Touristenattraktion verkommen, bei der die Obdachlosen begafft und ihr Elend bigott konsumiert wird."
Auch Reinhard "Cäsar" Spöring, ehrenamtlicher Vertriebschef der Bremer Obdachlosenzeitung "Zeitschrift der Straße", organisiert soziale Stadtführungen. Ihm gehe es darum, über Hilfestrukturen zu informieren, sagt er. Und so führt er Schulklassen durch das Bremer Bahnhofsviertel. Dort ist das Elend zu Hause, aber es gibt auch Notquartiere, Beratung, ein warmes Mittagessen - und in der Bahnhofsmission oder im diakonischen "Café Papagei" Wärme auf Zeit.
Diesmal ist Cäsar mit Achtklässlern unterwegs. Und zeigt ihnen Dinge, die für Menschen mit Wohnung selbstverständlich sind. "Zum Beispiel, dass wir im Café Papagei 400 Postadressen eingerichtet haben", sagt er. "Denn wie soll dir sonst dein monatlicher Scheck zugestellt werden, wenn du keine eigene Wohnung hast. Oder überhaupt wichtige und persönliche Post."
Auch auf andere Fragen finden die Schüler erst mit dem Rundgang Antworten. Etwa, wo ein warmer Schlafsack herkommen könnte. Wo es eine Duschgelegenheit gibt, ein Bett für ein paar Nächte, wenn man krank ist und das Fieber steigt. Frische Kleidung. Oder wo es Trinkwasserbrunnen gibt. "Davon haben wir in Bremen genauso wie kostenlose öffentliche Toiletten viel zu wenige", kritisiert Obdachlosen-Seelsorger Schröder.
Der Rundgang habe sie nachdenklich gemacht, sagt am Ende die Schülerin Maike. "Mir war jahrelang egal, wie es anderen geht. Ich hatte ja meine trockene Wohnung und mein warmes Bett. Ich bin froh, dass ich nun anders denke." Und Verena ergänzt: "Ich bin sonst immer an solchen Menschen vorbeigegangen. Nun wohl nicht mehr."