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Karl Marx, der Kapitalismus und die katholische Soziallehre




Hermann-Josef Große Kracht
epd-bild/TU Darmstadt
Die katholische Soziallehre hat mit dem Marxismus viele Gemeinsamkeiten, schreibt der Theologe und Sozialethiker Hermann-Josef Große Kracht in seinem Gastbeitrag für epd sozial. Beide wollen die Klassengesellschaft überwinden. Ganz im Unterschied zum Marxismus, so Große Kracht, habe allerdings "die hiesige katholische Sozialethik bis heute kaum ein deutlich erkennbares Eigenprofil gewonnen".

Marx' 200. Geburtstag bringt es wieder in Erinnerung: Die katholische Soziallehre gehört zwar in die Tradition des konservativen Sozialdenkens, aber auch sie steht 'auf den Schultern von Karl Marx', wie Oswald von Nell-Breuning (1890-1991), der Nestor der katholischen Soziallehre, in den 1960er Jahren immer wieder betonte.

Zwar haben Marxismus und Katholizismus schon weltanschaulich nichts miteinander zu tun; und auch in Fragen der Gesellschaftstheorie sind die Differenzen erheblich. Dennoch gibt es im Blick auf die Theorie und Kritik des Kapitalismus erhebliche Gemeinsamkeiten.

Gerade hier hat die katholische Sozialtradition viel von Marx gelernt. Dass sich der Kapitalismus durch die Klassenspaltung in Bourgeoisie und Proletariat kennzeichnet, hat die katholische Soziallehre bis hinein in die Terminologie von Karl Marx übernommen. Und sie hat von ihm auch – durchaus schmerzlich – gelernt, dass es zur Lösung der sozialen Frage nicht auf eine 'Rechristianisierung' der Gesellschaft, nicht auf Mitleid und Barmherzigkeit ankommt, sondern auf entschiedene Maßnahmen sozialstruktureller und gesellschaftspolitischer Art.

Kardinal: Soziallehre ruht auf den Schultern von Marx

In diesem Sinne betont auch Reinhard Marx, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, dass die katholische Soziallehre in der Tat 'auf den Schultern von Marx' stehe. Aber nicht nur das: Er konstatiert zudem, dass 'das Projekt des Kapitalismus gegenwärtig vor die Wand' zu fahren drohe und angesichts der globalen Herausforderungen 'heute nicht mehr zukunftsfähig' ist.

In der Tat kennzeichnet sich die katholische Tradition von Anfang an durch eine dezidiert 'antikapitalistische' Stoßrichtung. Schon der Mainzer Arbeiterbischof Wilhelm von Ketteler (1811-1877) hat nach Wegen zur Überwindung der Klassengesellschaft gesucht, denn auch wenn 'das ganze System nicht umzustoßen' sei, so müsse es doch – ganz in der Tradition Ferdinand Lassalles – darum gehen, das 'eherne Lohngesetz' zu brechen, dem zufolge der Lohn immer nur um das Existenzminimum pendeln werde.

Dazu wollte auch er Fabriken in Arbeiterhand gründen, um zu verhindern, dass der Gewinn 'ausschließlich dem todten Kapitale und nicht auch dem verwendeten Fleisch und Blute zufällt'. Wenn der liberale Kapitalismus mit seinem 'modernen Raubritterthum' aber weiterhin sein Unwesen treibe, könne 'einmal die Internationale in Gottes Hand die Zuchtruthe' sein, um die moderne Gesellschaft entsprechend zu bestrafen.

Nell-Breuning: Keinen Frieden mit Kapitalismus machen

Dabei hat sich die katholische Soziallehre seit den 1890er Jahren grundsätzlich auf den Boden der modernen Wirtschaft gestellt und nicht nur die Unumgänglichkeit, sondern auch – wie schon Marx und Engels – die hohe Leistungskraft der 'kapitalistischen Produktionsweise' mit ihren Funktionsmechanismen von Privateigentum, Marktwirtschaft und Investitionsfreiheit anerkannt. So sehr aber die 'kapitalistische Wirtschaftsweise' als 'nicht in sich schlecht' zu werten sei, so sehr sei die 'kapitalistische Klassengesellschaft' zu überwinden, wozu im 20. Jahrhundert vor allem an Formen des Miteigentums am Produktivkapital und der paritätischen Mitbestimmung in der Unternehmensverfassung gedacht wurde. So sollte Oswald von Nell-Breuning in den 1960er Jahren mit konfessorischer Wucht feststellen, dass 'die kapitalistische Klassengesellschaft verschwinden' müsse: 'mit ihr können wir keinen Frieden machen'.

Die Universitätsvertreter der katholischen Soziallehre haben sich seit den 1960er Jahren jedoch mehrheitlich hinter den deutschen Nachkriegskapitalismus gestellt, Vorbehalte gegen das II. Vatikanische Konzil kultiviert und heftige antigewerkschaftliche und antisozialdemokratische Aversionen ausgebildet, die sich im Kontext der Studentenbewegung noch massiv verstärkten.

Die bundesdeutsche Soziallehre geriet denn auch bei vielen Konzilstheologen in den Ruf, zur 'defätistisch gestimmten Apologie des spätkapitalistischen Bürgertums' (Johann Baptist Metz) geworden zu sein. Sie brachte sich in dieser Zeit um jede echte Gesprächsfähigkeit mit der säkularen Philosophie und Gesellschaftstheorie. Und auch wenn diese Restaurationsphase seit den 1980er Jahren überwunden ist, so hat die hiesige katholische Sozialethik bis heute kaum ein deutlich erkennbares Eigenprofil gewonnen, mit dem sie in den Gegenwartsdebatten eigene Akzente zu setzten vermöchte.

Suche nach einem dritten Weg

Dies ändert aber – zumal im Blick auf die päpstlichen Sozialenzykliken – nichts daran, dass die katholische Soziallehre nach wie vor dezidiert antikapitalistisch argumentiert und nach einem 'Dritten Weg jenseits von Kapitalismus und Sozialismus' sucht. Gegenläufig zur liberalen Marktlogik und zum sozialdemokratischen Etatismus orientiert sie sich am Leitbild einer nach dem Subsidiaritätsprinzip von unten her aufgebauten Wirtschafts- und Sozialordnung.

Johannes Paul II. bringt diese Idee in seinen Sozialenzykliken auf den – leider kaum rezipierten – Programmbegriff der 'Subjektivität der Gesellschaft' mit ihren vielschichtigen zivilgesellschaftlichen Solidaritätsnetzen und Solidargemeinschaften, von den Familien und Nachbarschaften über die Gewerkschaften bis hin zu den selbstverwalteten Sozialversicherungen und anderen Formen einer korporatistischen Selbstorganisation der Gesellschaft jenseits der Steuerungsmedien von Markt und Staat. Denn nur eine solche 'Subjektwerdung der Gesellschaft' könne verhindern, dass der Einzelne 'zwischen den beiden Polen Staat und Markt erdrückt' wird, so als existiere er 'nur als Produzent und Konsument von Waren oder als Objekt der staatlichen Verwaltung'.

Die katholische Sozialethik der Bundesrepublik steht heute vor der Aufgabe, die oft vergessenen 'Schätze im Acker' ihrer eigenen Tradition wieder freizulegen und neu diskursfähig zu machen. Und nachdem der Neoliberalismus seit der Finanzmarktkrise deutlich in die Defensive geraten ist, gibt es dafür heute wieder einen hohen Bedarf. Es gibt für die katholische Soziallehre – auch jenseits aller Marx-Renaissance – also viel zu tun.

Literaturtipp: Bernhard Emunds, Hans Günter Hockerts (Hg.), Den Kapitalismus bändigen, Oswald von Nell-Breunings Impulse für die Sozialpolitik, 2015, 276 Seiten, ISBN: 978-3-506-78117-8, 30,90 Euro

Dr. Hermann-Josef Große Kracht ist außerplanmäßiger Professor am Institut für Theologie und Sozialethik an der TU Darmstadt. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört Geschichte und Theorie der Katholischen Soziallehre.

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