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Jesuiten: "Europa muss Menschen gemeinsam Schutz bieten"




Pater Frido Pflüger
epd-bild/JRS/Peter Balleis SJ
Der vor 25 Jahren vom Bundestag beschlossene Asylkompromiss ist für den Jesuiten-Flüchtlingsdienst keineswegs alternativlos gewesen. Auf die wachsende Fremdenfeindlichkeit hätte die christlich-liberale Regierung anders reagieren können, betont die Organisation. Vor allem dadurch, die Fluchtursachen in den Krisenregionen einzudämmen. Eine Forderung, die bis heute nicht eingelöst ist.

Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst (JRS) sieht im vor 25 Jahren beschlossenen Asylkompromiss ein Fanal. Die Grundgesetzänderung "ging zulasten der Schutzsuchenden. Und er fügte der Gesellschaft in Deutschland großen Schaden zu", sagte JRS-Direktor Pater Frido Pflüger SJ im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Dass auf einmal der Fluchtweg wichtiger wurde als die Fluchtgründe, habe sich als fatal erwiesen, kritisierte der Flüchtlingsseelsorger im Erzbistum Berlin: "Denn nun werden Menschen in Europa hin- und hergeschoben." Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Tumulte am Bundestag, heiße Wortgefechte im Parlament, eine Mammutsitzung mit 93 Rednern. Wie bewerten Sie in der Rückschau die Entscheidung des Parlamentes vom 23. Mai 1993, das Grundgesetz zu ändern?

Pater Frido Pflüger SJ: Der gravierende Einschnitt in das Grundgesetz war ein Fanal. Er ging zulasten der Schutzsuchenden. Und er fügte der Gesellschaft in Deutschland großen Schaden zu.

epd: Warum?

Pflüger: Seitdem wird das gesellschaftliche Denken zunehmend durch Verteilungskämpfe geprägt, bei denen die Schwächsten, vor allem die "Fremden" und Schutzsuchenden, am schlechtesten wegkommen. Sie sind die ersten Opfer einer institutionalisierten Entsolidarisierung. An ihnen werden gravierende Rechtsbeschränkungen zuerst "ausprobiert", bevor sie auf die übrige Bevölkerung ausgedehnt werden.

epd: Das müssen Sie erklären.

Pflüger: 25 Jahre "Asylrechtsreform" heißt auch 25 Jahre Asylbewerberleistungsgesetz. Der darin Praxis gewordene Gedanke, dass man Menschen noch am Existenzminimum etwas abknapsen kann, ist bereits Allgemeingut. Das erleben inzwischen auch deutsche Hartz-IV-Empfänger.

epd: Viele Flüchtlingsinitiativen sehen den 26. Mai noch immer als rabenschwarzen Tag. Wie stehen die Jesuiten dazu?

Pflüger: Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die weitere Entwicklung etwas anders verlief, als man 1993 voraussagte. Heute spielt zwar das Asylgrundrecht in der Praxis kaum eine Rolle, aber es werden trotzdem viele Menschen als Schutzberechtigte anerkannt. Das ist die Folge einer europäischen Rechtsentwicklung, der die deutschen Gesetze angepasst werden mussten.

epd: Der Druck der Straße war hoch, Asylbewerberheime brannten. Musste die damalige Bundesregierung so handeln, wie sie es tat?

Pflüger: Nein. Die Fremdenfeindlichkeit wurde ja von interessierter politischer Seite geschürt. Die 1982 an die Macht gekommene christliberale Koalition hätte sich ihr entschieden entgegenstellen sollen. Dafür hätte sie, da bin ich sicher, auch Mehrheiten bekommen.

epd: Kritiker sahen in dem Beschluss einen Scheinkompromiss, der zulasten Dritter, nämlich den umliegenden, für sicher erklärten Staaten ging.

Pflüger: Der Kompromiss ging vor allem zulasten der Flüchtlinge. Und: Dass auf einmal der Fluchtweg wichtiger wurde als die Fluchtgründe, hat sich als fatal erwiesen. Denn nun werden Menschen in Europa hin- und hergeschoben. Man hat mit der sogenannten Dublin-Verordnung den zweiten Schritt vor dem ersten getan: Erst einmal hätte man dafür sorgen müssen, dass überall in Europa zumindest annähernd gleiche Chancen bestehen, als Flüchtling anerkannt zu werden und wirksamen Schutz zu bekommen. Das ist aber nicht passiert.

epd: Viele Redner im Bundestag betonten vor 25 Jahren, dass auch diese Reform des Asylrechts die Probleme des Zuzuges nach Deutschland nicht lösen werde. Was wäre die Alternative gewesen?

Pflüger: Die Alternative wäre das gewesen, was wir heute immer noch fordern: Beseitigung der Fluchtursachen.

epd: Sie werben vehement dafür, eine EU-weite Regelung für Asylbewerber zu finden. Angesichts der strikten Ablehnung einiger Staaten im Osten der EU scheint das kaum realistisch?

Pflüger: Trotzdem werden wir weiter dafür eintreten, dass Europa Menschen Schutz bietet, die vor Menschenrechtsverletzungen, Krieg und Gewalt fliehen mussten. Auch in den von Ihnen genannten Ländern können am Ende die Bürgerinnen und Bürger klüger sein als ihre Regierungen.

epd: Sie haben mit anderen Verbänden ein Memorandum vorgelegt, das statt Dublin III eine grundlegend andere Flüchtlingspolitik realisieren will. Worum geht es?

Pflüger: Das Dublin-System funktioniert nicht, weil es auf die legitimen Interessen der Schutzsuchenden keine Rücksicht nimmt und bestimmte Staaten – vor allem diejenigen an den Außengrenzen der EU – überfordert werden. Eine freie Wahl des Asyllandes würde dafür sorgen, dass den individuellen Interessen der Asylsuchenden Rechnung getragen wird. Und: Das Prinzip der freien Wahl sollte mit einem finanziellen Ausgleichfonds für die aufnehmenden Mitgliedstaaten verbunden werden.

epd: Was versprechen Sie sich davon?

Pflüger: Ein solches Ausgleichsystem würde den Ausbau von funktionierenden Asylverfahren und guten Aufnahmebedingungen zu fördern. Zudem werden mit dem Prinzip der freien Wahl des Asyllandes unverhältnismäßige Belastungen weniger stark ins Gewicht fallen, weil die Asylsuchenden durch ihre familiären und kulturellen Netzwerke aufgenommen und unterstützt werden.

epd: Führt das „Prinzip der freien Wahl des Mitgliedstaates“ nicht dazu, dass wegen der hohen Standards wieder viele Menschen nach Deutschland wollen?

Pflüger: Nein. Aus unseren Sprechstunden wissen wir, dass für die Wahl des Zufluchtlandes ausschlaggebend ist, wo die Flüchtlinge Verwandte, Freunde oder frühere Nachbarn treffen, die ihnen beim Zurechtfinden helfen. Oft geht es um die Frage: Wo bekomme ich Schutz, wo kann ich eine neue Existenz aufbauen?

epd: Wie begründen Sie Ihren Ansatz?

Pflüger: Wir müssen Asylsuchende als selbstständige Individuen ernst nehmen. Sie dürfen nicht bloße Objekte staatlichen Handelns sein, sondern müssen ihr Leben selbst in die Hand nehmen können. Nur das entspricht dem christlichen Menschenbild.


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