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Tumulte vor dem Bundestag, Wortgefechte am Rednerpult




Aktion in aufgeheizter Atmosphäre: Pro Asyl verteilte 1989 "Begrüßungsgeld" an Asylbewerber.
epd-bild/Norbert Neetz
Zur Asylrechtsreform kam es 1993 nicht ohne Grund. Immer mehr Flüchtlinge vom Balkan strömten nach Deutschland - und lösten rassistische Übergriffe aus. Die Regierung geriet unter Druck und wollte das Asylrecht verschärfen. Teile der SPD trugen unter Schmerzen die Reform mit. Deren einst schwer umkämpfte Bestandteile gelten noch heute.

Im Bonner Regierungsviertel geht nichts an diesem Morgen des 26. Mai 1993: Über 10.000 Demonstranten sind auf den Beinen. Sie protestieren lautstark gegen den "Asylkompromiss", für den der Bundestag erstmals das Grundgesetz ändern will - zum Schrecken der Kirchen, der Flüchtlingsinitiativen und auch weiten Teilen der oppositionellen SPD. Die Gegner der Reform sehen das bis dato uneingeschränkt gültige Recht auf Asyl in Gefahr und warnen davor, sich in der Flüchtlingspolitik dem Druck der Straße zu beugen.

Die Protestierenden schwenken nicht nur ihre selbst gemalten Transparente, sie blockieren auch die Zugänge zum Parlament. Einige entsetzte Abgeordnete müssen mit dem Hubschrauber oder per Schiff an ihren Arbeitsplatz gebracht werden. Draußen wird es handgreiflich, und auch im Plenum schlagen die Wellen hoch.

"Stark polarisierte Debatte"

Schon zuvor tobte eine stark polarisierte Debatte, die der Freiburger Historiker Ulrich Herbert als "eine der schärfsten, polemischsten und folgenreichsten innenpolitischen Auseinandersetzungen der deutschen Nachkriegsgeschichte" bezeichnet.

"Polemische politische und publizistische Debatten und populistische Kampagnen verstärkten die Krisenstimmung", sagt der Migrationsforscher Jochen Oltmer. Vielfach wurde der Eindruck vermittelt, der Staat sei in der Flüchtlingsfrage "handlungsunfähig angesichts einer Bedrohung, die durch alarmistische Begriffe wie 'Asylantenflut' und 'Das Boot ist voll' gekennzeichnet wurden." Sogar der Begriff des "Staatsnotstandes" machte die Runde.

4.000 Polizisten sind in der Bundeshauptstadt Bonn im Einsatz, halten sich aber trotz etlicher Provokationen durch die Demonstranten auffallend zurück. Deeskalation heißt die Strategie, die aber nicht verhindern kann, dass innerhalb der Bannmeile Farbbeutel und Fäuste fliegen.

Zahl der Asylanträge verdoppelt

Die Politik musste Handlungsfähigkeit demonstrieren: 1992 war die Zahl der Asylanträge auf 438.000 gestiegen, fast doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Grund: Der Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina trieb massenhaft Menschen gen Westen. Mehrfach kam es zu gewaltsamen Protesten - rassistische Anschläge in Rostock-Lichtenhagen (August 1992), Mölln (November 1992) und Solingen (Mai 1993) schockten die Republik - und ließen zugleich die Rechten jubeln.

Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth eröffnet trotz aller widrigen Umstände die Plenarsitzung pünktlich um neun Uhr. Und sie hat schnell ihre liebe Not, die wegen der zum Teil gewaltsamen Proteste vor dem Bundestag aufgewühlten Redner im Zaum zu halten. Schon nach wenigen Minuten muss die Präsidentin intervenieren: "Einen Augenblick! Gepfiffen wird hier im Saal nicht". Hitzig bleibt es trotzdem: Erwin Marschewski nennt den Linken Gregor Gysi einen "Geschichtsfälscher", später ruft er an anderer Stelle dazwischen: "Noch nie ist hier ein solcher Quatsch gesprochen worden."

Mammutdebatte mit 93 Rednern

Konrad Weiß, Grüne, muss sich gegen den Vorwurf wehren, zum Gesetzesbruch aufzurufen. Peter Hintze beklagt "geistlose Zwischenrufe" - immer wieder schreitet die Sitzungsleitung ein, denn so manchem der 93 Rednern gehen bei Provokationen die Gäule durch.

Weiß, erklärter Gegner der geplanten Einschränkungen, verteidigt vehement das Asylrecht als verbrieftes Menschenrecht, das individuell und einklagbar sein müsse - eine Konsequenz aus den Menschenrechtsverletzungen durch die Nationalsozialisten. Er sagt voraus, "die beabsichtigte Änderung des Grundgesetzes wird an den tatsächlichen Problemen nichts ändern." Und, lange vor dem fulminanten Erstarken des Rechtspopulismus warnt Weiß: "Wir dürfen es nicht zulassen, dass dem dumpfen Wahn der Nationalisten, ihrem Gebrüll und ihrer Gewalt Grundwerte unserer Demokratie geopfert werden."

Vor allem die vorgesehene Drittstaatenregelung stieß auf Widerstand. FDP-Innenpolitiker Burkhard Hirsch: "Es ist egal, ob er in seiner Heimat politisch verfolgt wird oder nicht. Es ist egal, ob ihm in seiner Heimat eine unmenschliche Behandlung oder die Todesstrafe droht. Es ist egal, ob das Transitland, dem wir den Flüchtling zuschieben, die Genfer Konvention nach denselben Grundsätzen auslegt und handhabt wie wir. Es ist egal, ob das Transitland nach seiner Asylpraxis den Flüchtling seinerseits weiterschieben wird oder nicht. Vor der Abschiebung aus der Bundesrepublik wird dem Flüchtling jeder noch so minimale Rechtsschutz verweigert."

Klose: "Probleme beherrschbar machen"

Dagegen wirbt der Sozialdemokrat Hans-Ulrich Klose dafür, das Grundgesetz zu ändern: "Ein Asylrecht und, vorgeschaltet, ein Recht auf ein Verfahren in einem Land ihrer Wahl gibt es für Asylbewerber nicht." Aber auch er bekennt: "Wir können das Problem nicht lösen, wir können es nur begrenzen und damit beherrschbar machen."

Wolfgang Schäuble (CDU) lenkt den Blick gezielt nach Europa. Man wolle "nichts anderes als eine faire Lastenverteilung in Europa erreichen". Die könne man aber erst erreichen, "wenn wir eben nicht mehr Schutz gewähren als alle anderen".

Gregor Gysi sorgt für einen Tumult mit seiner Feststellung: "Sie werden es noch erleben: Wer heute der faktischen Abschaffung des Asylrechts zustimmt, muss wissen, dass er Mitverantwortung trägt, wenn eines Tages an den Grenzen auf Flüchtlinge geschossen wird." Das ruft erneut Erwin Marschewski auf den Plan: Er nannte Gysi einen "Mauerschützen" - wofür er sich anschließend kryptisch entschuldigte.

521 Stimmen für Grundgesetzänderung

Zehn Stunden später melden die Agenturen: "Bundestag beschließt Grundgesetzänderung. 521 gegen 132 Stimmen für neues Asylrecht." Am 1. Juli 1993 tritt die Neuregelung in Kraft.

Der ursprünglich schrankenlose Satz in Artikel 16 "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" bleibt zwar als Absatz 1 des neuen Artikels 16a erhalten. Die folgenden Absätze schränken das Asylrecht aber massiv ein. Flüchtlinge können kein Asyl mehr beantragen, wenn sie aus einem Land der EU oder aus einem Land, das die Standards der Genfer Flüchtlingskonvention erfüllt, einreisen. Oder anders formuliert: Chancen auf ein ordentliches Verfahren und auf Anerkennung als Asylbewerber haben nur noch Flüchtlinge, die per Flugzeug oder Schiff aus einem Staat nach Deutschland kommen, in dem es politische Verfolgung gibt.

Leise Hoffnungen setzten die Gegner der Reform auf das Bundesverfassungsgericht. Das hatte im Mai 1996 in drei Fällen über die Klagen von Irakern auf Asyl zu entscheiden. Doch die Gerichtspräsidentin Jutta Limbach verkündete: "Die zu gemeinsamer Entscheidung verbundenen Verfassungsbeschwerden werden zurückgewiesen."

"Reform wäre nicht nötig gewesen"

Der Migrationsforscher Jochen Oltmer sieht die einstige Reform kritisch. "Eine Änderung des Grundgesetzes wäre nicht nötig gewesen", sagte er im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Beschränkung des Zugangs zum Asyl sei in den Vorjahren bereits mehrfach über einfache Gesetze erfolgt. "Das Asylrecht musste auch aus symbolischen Gründen geändert werden", urteilt der Professor. Denn: "Es war im jahrelangen Streit zum Symbol geworden, dass das Versagen des Staates zu repräsentieren schien."

Auch für die Konstellation der wieder massiv gestiegenen Flüchtlingszahlen im Jahr 2015 seien die Instrumente, die 1993 geschaffen wurden, faktisch belanglos geblieben. "Schutz gewährte die Bundesrepublik vor allem nach der Genfer Flüchtlingskonvention, nicht nach dem Asylgrundrecht."

Zahlen sprechen für sich

Das belegen die aktuellen Daten einddrucksvoll: In Deutschland lebten laut dem Ausländerzentralregister zum Stichtag 31.12.2017 ungefähr 900.000 Menschen, die unter verschiedenen Voraussetzungen Schutz bekommen haben. Darunter sind "nur" 41.700 Asylberechtigte nach Artikel 16a des Grundgesetzes. 602.500 Flüchtlinge genießen Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Rund 192.000 Personen haben subsidiären Schutz.

Beate Rudolf, die Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte: "Das Asylrecht nach Art. 16a I Grundgesetz hat im Zuge der Grundgesetzänderung von 1993 grundlegende Einschränkungen erfahren und praktisch an Relevanz verloren." Stattdessen habe das Recht auf Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention, der EU-Grundrechte-Charta und der Europäischen Menschenrechtskonvention an Bedeutung gewonnen. "Danach ist es nicht zulässig, einen Antrag auf Schutz ohne effektive Rechtschutzmöglichkeiten einfach zurückzuweisen."

Die Flüchtlingshilfeorganisation Pro Asyl warnte aus Anlass des 25. Jahrestages des Asylkompromisses vor weiterer Abschottung in der Flüchtlingspolitik gewarnt. "Die militärische Mauer vor Europa wird ergänzt um eine Mauer aus Gesetzen, die den Zugang zum Recht auf Asyl systematisch verhindern sollen", sagte Geschäftsführer Günter Burkhardt im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd): "Es gerät in Vergessenheit, dass Europa auf den Menschenrechten basiert."

Dirk Baas

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