sozial-Politik

Hartz-IV-Sanktionen

"Geradezu absurd, welch ein Sanktionsapparat hier aufgebaut ist"




Ulrich Schneider
epd-bild/Die Hoffotografen/Paritaetische Gesamtverband
Der Paritätische Wohlfahrtsverband kritisiert die Hartz-IV-Sanktionen: Die Jobcenter sollten sich mehr um die Qualifizierung und Vermittlung der Arbeitslosen kümmern, sagte Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Nur ein kleiner Teil der Hartz-IV-Empfänger wird nach den Statistiken der Bundesagentur für Arbeit sanktioniert. Der größte Teil der Strafen werde wegen des Versäumens von Terminen und Ähnlichem verhängt, sagte Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes im Interview. "Es ist geradezu absurd, welch ein Sanktionsapparat hier aufgebaut ist, um nach vereinzelten Leistungsverweigerern zu fahnden und sie abzustrafen." Schneider antwortete auf Fragen von Markus Jantzer.

epd sozial: Der Hartz-IV-Regelsatz soll das Existenzminimum sichern. Mit Sanktionen der Jobcenter fallen Hartz-IV-Bezieher unter diese Haltelinie. Wieso hat bis heute noch niemand dagegen erfolgreich vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt?

Ulrich Schneider: Bisher gelang es den beklagten Jobcentern immer, sich irgendwie "durchzulavieren". So wird etwa darauf abgehoben, dass es sich beim Regelsatz ja um das soziokulturelle Existenzminimum handele und nicht etwa um das absolute Existenzminimum. Oder es wird darauf verwiesen, dass die Sanktionierung ja zeitlich befristet sei oder Ähnliches. Das Bundesverfassungsgericht lässt dem Gesetzgeber, was die Regelsätze anbelangt, einen weitest möglichen Spielraum. Das macht es den Klägern sehr schwer.

epd: Der Paritätische Gesamtverband fordert, das Instrument der Sanktionen komplett zu streichen. Sie plädieren also für leistungslose Transfers für erwerbsfähige Hilfebezieher?

Schneider: Wir müssen sehen: Lediglich rund 1,6 Millionen der fast sechs Millionen Hartz-IV-Bezieher sind arbeitslos. Nur ein ganz verschwindend geringer Teil, nämlich etwas über drei Prozent, wird sanktioniert. Und der größte Teil der Sanktionen wird nicht wegen Arbeitsverweigerung verhängt, sondern wegen "verschusselter" Termine oder Ähnlichem. Es ist vor diesem Hintergrund geradezu absurd, welch ein Sanktionsapparat hier aufgebaut ist, um nach vereinzelten Leistungsverweigerern zu fahnden und sie abzustrafen. Die Jobcenter und die politischen Verantwortlichen täten besser daran, sich endlich wirkungsvoll um die Qualifizierung und Vermittlung der 1,6 Millionen Arbeitslosen zu kümmern.

epd: Müssen die heutigen Sanktionen ersetzt werden durch negative Anreize anderer Art zur Aufnahme von Erwerbsarbeit?

Schneider: Negative Anreize für Langzeitarbeitslose bringen nichts. Die sehr schlechte Vermittlungsquote der Arbeitsverwaltung, die faktisch bei rund sechs Prozent liegen dürfte, rührt ja nicht daher, dass die Arbeitslosen nicht wollen. Hauptgrund für dieses Versagen sind fehlende Arbeitsstellen und individuelle Vermittlungshemmnisse wie fehlende Qualifikationen oder auch Probleme wie gesundheitliche Einschränkungen oder anderes. Wir wissen, dass etwa 400.000 der rund 900.000 Langzeitarbeitslosen im Hartz-IV-Bezug derzeit auf dem ersten Arbeitsmarkt so gut wie gar nicht vermittelbar sind. Der Sanktionsapparat und die ganzen Diskussionen um Sanktionen dienen in erster Linie dazu, gegenüber der Öffentlichkeit die Problematik von Langzeitarbeitslosigkeit zu individualisieren und die Schuld dem Einzelnen zuzuschreiben.

epd: Müssen Langzeitarbeitslose nach Ihrer Ansicht Pflichten erfüllen?

Schneider: Langzeitarbeitslose an sich brauchen keine Pflichten erfüllen. Erst in dem Moment, in dem eine staatliche Leistung in Anspruch genommen wird, kann die Gemeinschaft verlangen, dass der Langzeitarbeitslose alles Zumutbare tut, um seinen Lebensunterhalt aus eigener Kraft sicherzustellen. Da ein großer Teil der Langzeitarbeitslosen auf unserem Arbeitsmarkt, der ganz auf Effizienz und Rendite ausgerichtet ist, überhaupt keine Chance und Perspektive hat, muss man sarkastisch feststellen, dass sie nicht einmal mehr Leistungen verweigern können. Wir sollten daher die Diskussion um Sanktionen und Pflichten endlich vom Kopf auf die Füße stellen und sehr realistisch führen.

epd: Welche Pflichten haben Gesellschaft und Politik, um Menschen vor dem Schicksal der Langzeitarbeitslosigkeit zu bewahren?

Schneider: Wenn es der erste Arbeitsmarkt nicht schafft, all jenen, die arbeiten wollen, aber nicht können, Arbeit zu geben, ist in einer Arbeitsgesellschaft, die wir nun einmal sind, der Staat gefordert. Es gibt in unserer Gesellschaft ein moralisches Recht auf Arbeit, die ja mehr bedeutet als Gelderwerb. Arbeit ist die Nabelschnur zu dieser Gesellschaft. Der soziale Arbeitsmarkt ist daher überfällig.

Es geht um sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze, die auch für jene vorgehalten werden, die nicht zur Leistungsspitze dieser Leistungsgesellschaft gehören. Es geht um Arbeitsplätze, in denen Potenziale von Menschen geweckt und gefördert werden, gerade wenn sie sehr lange aus dem Arbeitsprozess draußen waren. Es geht um Arbeitsplätze, die - wo nötig - auch mit sozialer Arbeit flankiert sind, um die Menschen nicht zu überfordern. Solche Arbeitsplätze brauchen wir nicht nur im gemeinnützigen Sektor, sondern sie können durchaus auch bei gewerblichen Betrieben angesiedelt sein, wenn die entsprechende Begleitung flankierend eingerichtet und sichergestellt werden kann.

epd: Ist eine Langzeitarbeitslosenquote von null Prozent machbar – etwa durch ein entsprechendes Volumen öffentlich geförderter Beschäftigung?

Schneider: Zumindest ist eine Langzeitarbeitslosenquote von annähernd Null machbar. Könnte man sich zu einer guten Struktur für einen sozialen Arbeitsmarkt durchringen, wäre es in der Tat eine Frage des Volumens, das man bereit ist, an Finanzmitteln in die Förderung einfließen zu lassen.

epd: Wie bewerten Sie die Absicht der Bundesregierung, 150.000 Stellenangebote auf einem sozialen Arbeitsmarkt zu schaffen?

Schneider: Die Absicht der Bundesregierung, 150.000 Stellen in einem sozialen Arbeitsmarkt zu schaffen, ist in jeder Hinsicht begrüßenswert. Das Volumen ist angesichts deutlich mehr Arbeitsloser und sehr schwer vermittelbarer Menschen natürlich zu gering. Doch ist es zumindest ein Einstieg, der mit seiner Fokussierung auf sozialversicherungspflichtig Beschäftigte und seiner Längerfristigkeit der Beschäftigungsverhältnisse eine Grundlage schafft, auf der man künftig aufbauen kann, sofern denn die Mittel zur Verfügung gestellt werden. Seitens des Paritätischen werden wir jede Hilfe leisten, damit dieses Projekt ein Erfolg wird.



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