Ausgabe 09/2016 - 04.03.2016
München (epd). Der Erzbischof kritisierte das Gerede über eine Spaltung der Gesellschaft. Inzwischen werde "von manchen geradezu herbeigeredet, dass unser Land gespalten sei. Ich sehe das nicht!", sagte Marx dem Evangelischen Pressedienst (epd) in München. Aus Briefen an ihn müsse er aber auch schließen, dass auch Christen aller Konfessionen "auf radikales und rechtspopulistisches Gedankengut ansprechbar sind". Die Fragen stellten Wiebke Rannenberg und Karsten Frerichs.
epd sozial: Seit Monaten beschäftigt die deutsche Öffentlichkeit ein Thema: die Aufnahme der Flüchtlinge im Land. Im September vergangenen Jahres wurden die Menschen am Münchner Hauptbahnhof freudig begrüßt, nicht mal ein halbes Jahr später vergeht kaum ein Tag ohne Meldungen über fremdenfeindliche Übergriffe und Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte. Wie erklären Sie sich das?
Kardinal Reinhard Marx: Ich halte das Offenhalten der deutschen Grenzen in einer dramatischen humanitären Situation für die Flüchtlinge im vergangenen Jahr nach wie vor für richtig. Und eine menschenwürdige Lösung kann nur in europäischer Solidarität und in der Überwindung der Ursachen der Flucht erreicht werden. Ich denke, es hat viele in Deutschland überrascht, wie nun in Europa nationale Egoismen und Fremdenfeindlichkeit zunehmen. Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass auch in unserem Land Ausgrenzung und Hass ein solches Ausmaß annehmen würden, wie wir das jetzt erleben. Es ist furchtbar.
epd: Aber Fremdenfeindlichkeit gab es schon immer.
Marx: Das stimmt, eine gewisse Anfälligkeit für Rechtspopulismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus war offensichtlich immer vorhanden. Aber es macht mir größte Sorgen, dass diese Gedanken inzwischen bis in die bürgerliche und intellektuelle Sphäre hineinreichen. Wir müssen jetzt unbedingt wieder einen Geist des Respekts, ja der Nächstenliebe befördern. Da sind wir als Christen gefordert.
epd: Wie nehmen Sie die deutsche Politik wahr?
Marx: Vielleicht hilft es in dieser historischen Situation, dass derzeit die großen Parteien in der Bundesregierung in einer Koalition zusammenarbeiten. Aber entscheidend ist jetzt, sich nicht in gegenseitigen Schuldzuweisungen zu ergehen, sondern zusammenzustehen und der Bevölkerung glaubwürdig zu vermitteln, dass gemeinsam an Lösungen gearbeitet wird. Eine zerstrittene politische Führung in einer solchen Situation ist nicht sehr hilfreich.
epd: Ist denn der politische Streit in einer Demokratie nicht geradezu notwendig?
Marx: Natürlich dürfen Politiker unterschiedliche Positionen vertreten, aber der menschenwürdige Umgang mit den Flüchtlingen ist doch nicht verhandelbar: Jeden Tag ertrinken Menschen im Mittelmeer! Wollen wir erleben, dass eines Tages Menschen an einem europäischen Grenzzaun erfrieren? Der Weg nach Europa darf nicht in einer Todesfalle enden.
epd: Sind die Deutschen denn weiter offen für die Aufnahme der Menschen?
Marx: Ich nehme wahr, dass eine überwältigende Zahl Empathie für die Flüchtlinge hat und auf eine gemeinsame europäische Lösung hofft. Doch inzwischen wird von manchen geradezu herbeigeredet, dass unser Land gespalten sei. Ich sehe das nicht!
epd: Wie würden Sie es ausdrücken?
Marx: Es ist eine sehr aufgeregte, äußerst angespannte Situation. Und manche Menschen denken vielleicht heute anders als noch vor zwei Monaten. Es ist auch durchaus eine gewisse Ratlosigkeit und Suche nach Orientierung da. Deshalb haben die politisch Verantwortlichen aus meiner Sicht die Pflicht, zusammenzustehen, gemeinsame Lösungen zu suchen und um das Vertrauen der Bürger zu werben. Wir als Kirchen unterstützen das dann und helfen karitativ und bei der Integration. Wir kämpfen auch gemeinsam gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Ausgrenzung. Überall dort, wo die Menschen sich begegnen und ein Austausch stattfindet, sinkt die Ausländerfeindlichkeit. Deshalb unser Engagement für Orte der Begegnung, auch in unseren Pfarreien.
epd: Viele Menschen fliehen vor dem andauernden Bürgerkrieg in Syrien. Wie sehen Sie die Chancen auf Frieden?
Marx: Das ist schwer zu sagen. Ich hoffe, dass ein längerer Waffenstillstand möglich ist, wenn die Vereinigten Staaten und Russland auch zu ihren eigenen Verbündeten sagen: Schluss, und jetzt wird geredet, bis wir zu einem Ergebnis kommen. Aber was danach sein wird, kann keiner sagen. Als Bischof möchte ich nicht pessimistisch sein, aber so richtig optimistisch bin ich noch nicht.