Ausgabe 28/2016 - 15.07.2016
Frankfurt a.M. (epd). Ein aktuelles Forschungsprojekt aus Österreich, das in der Debatte über die Radikalisierung von Gesellschaften während der Flüchtlingskrise neue Erkenntnisse liefert, kommt zu dem Ergebnis: Der direkte Kontakt zu Flüchtlingen verändert die Einstellung zu ihnen: Die Haltung wird positiver, und auch die Zustimmung zu rechtsextremen Parteien sinkt.
Wirtschaftswissenschaftler Andreas Steinmayr von der Ludwig-Maximilians-Universität München untersucht im ländlichen Oberösterreich den Einfluss von Asylbewerbern in der Nachbarschaft auf die Unterstützung der rechten FPÖ, die ihren Zulauf nach einem auf die Flüchtlingskrise ausgerichtetem Wahlkampf vielerorts verdoppeln konnte. "Gibt es im Ort Flüchtlingsunterkünfte, verringert sich die Zustimmung zur FPÖ", sagt Steinmayr, der für die Studie Wahldaten ausgewertet und Interviews mit Anwohnern geführt hat. Gleichzeitig erhöhte sich bei Kontakt zu den Flüchtlingen die Zuversicht, die Integration bewältigen zu können.
Auch Befindlichkeiten können viel ausmachen. Denn: Persönliche Verbitterung führt tatsächlich zu feindlichen Einstellungen gegenüber Zuwanderern. Das zeigt eine andere aktuelle Studie des Wirtschaftsforschungsinstitut ifo. "Wer glaubt, selber nicht das im Leben zu bekommen, was ihm zusteht, macht sich mehr Sorgen um Einwanderung", sagt ifo-Forscher Panu Poutvaara, der dafür die Daten des Sozioökonomischen Panels ausgewertet hat.
"Das gilt auch für Menschen mit regelmäßigem Einkommen und für Rentner, die gar nicht mehr mit den Neuzuwanderern auf dem Arbeitsmarkt konkurrieren." Sorgen macht sich also auch die Mittelschicht, über die nach der Studie des Kompetenzzentrums Rechtsextremismus der Universität Leipzig zu autoritären und rechtsextremen Einstellungen mit dem Titel "Die enthemmte Mitte" heftig diskutiert wird.
Ökonomie-Professor Poutvaara hält die im europäischen Vergleich große mittlere Einkommensschicht in Deutschland trotz der Ergebnisse seiner Studie über die Wirkung von Verbitterung für ein stabilisierendes Element der deutschen Gesellschaft. Auch die gute Konjunktur nutze Deutschland in dieser Hinsicht. "In Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit wie Griechenland radikalisieren sich die Bürger viel stärker nach rechts und nationalistische Parteien haben mehr Zulauf."
Auch in Deutschland richteten sich populistische Gruppen gezielt an die Unzufriedenen und schürten deren Ängste. "Es sind Umbruchszeiten überall in Europa." Hierzulande sei das Klima aber gemäßigt, findet Poutvaara. "Es gibt ja vor Ort auch viel Unterstützung für Flüchtlinge."
Allerdings spricht auch die Kriminalstatistik eine deutliche Sprache: Um rund 30 Prozent stieg im Jahr 2015 nach Angaben des Bundeskriminalamts die Zahl rechter Straftaten – verübt auch von Menschen, die der Polizei vorher nie als rechtsextrem auffielen. "Es gibt einen neuen Tätertyp, der die Schwelle von der Ideologie zum Anschlag ohne Zwischenschritte überschreitet", warnte kürzlich auch NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) bei der Vorstellung des Landesverfassungsschutzberichts. Ist das "die enthemmte Mitte"?
Zwar seien rechtsextreme Einstellungen insgesamt in der Bevölkerung nicht gestiegen, schreiben die Autoren des Leipziger Kompetenzzentrums Rechtsextremismus in der umstrittenen Studie: Der Anteil von Menschen mit einem "geschlossenen rechtsextremen Weltbild" liegt bei fünf Prozent, der niedrigste je erhobene Wert der 14-jährigen Studienreihe.
Dafür wuchs aber die gemessene Bereitschaft der extrem Eingestellten, Ziele gewaltsam durchzusetzen. Und: Einzelne Gruppen wie Muslime, Sinti und Roma, Asylsuchende und auch Homosexuelle werden in der Bevölkerung stärker abgelehnt als noch 2014. Die Mitte polarisiere sich: "Wir haben Menschen, die sich aktiv um Flüchtlinge bemühen, und es gibt Menschen, die Flüchtlinge aktiv ablehnen", sagt Studienleiter Elmar Brähmer.
Zeichen für eine enthemmte Mitte der Gesellschaft? Für den Berliner Extremismusforscher Klaus Schröder wurde "viel zu pauschal gefragt und dann wurden skandalisierende Schlüsse gezogen". Es seien ja tatsächlich in kurzer Zeit mehr als eine Million Flüchtlinge aufgenommen worden und gleichzeitig durch die EU-Osterweiterung weitere Einwanderer gekommen. "Dass diese Quantität vielen Menschen Angst macht, macht sie nicht zu Radikalen", sagt der Politologe, der die deutsche Mitte für "stabil" hält.
Die meisten Bürger seien zufrieden mit ihrem Leben, "auch das lässt sich durch Umfragen belegen", sagt Schröder und verweist auf eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach, nach der 91 Prozent der 30- bis 59-Jährigen ihre Lebensqualität als gut oder sehr gut bewerten. "Dafür, dass es tatsächlich neue soziale Herausforderungen gibt, ist die deutsche Gesellschaft insgesamt sehr gemäßigt."