Ausgabe 28/2016 - 15.07.2016
Karlsruhe (epd). Rollstuhlfahrer müssen sich auf dem Fußgängerweg nicht im Rollstuhl anschnallen. Bei einem Unfall darf ihnen daher auch nicht das Schmerzensgeld wegen "Mitverschuldens" gekürzt werden, entschied das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in einem am 7. Juli veröffentlichten Beschluss.
Geklagt hatte ein Schüler, der an fortsetzendem Muskelschwund erkrankt ist und sich nur mit einem Elektro-Rollstuhl fortbewegen kann. Im November 2014 wurde er auf dem Weg zu seiner Schule auf einem Fußgängerüberweg von einem Auto angefahren. Der Schüler fiel aus dem Rollstuhl und erlitt eine Schädelprellung. Von dem Unfallverursacher forderte er ein Schmerzensgeld. Es ging um 700 Euro.
Das Amtsgericht Bretten in Baden-Württemberg kürzte den Schmerzensgeldanspruch um ein Drittel. Der behinderte Schüler habe sich in seinem Rollstuhl nicht angeschnallt. Ihn treffe daher ein Mitverschulden. Auch wenn der Beckengurt am Rollstuhl nur für Transporte mit dem Auto vorgesehen ist, hätte der Schüler mit dem Anschnallen die Verletzungen verhindern können.
Das Bundesverfassungsgericht sah darin jedoch eine verfassungswidrige Benachteiligung wegen der Behinderung. Es sei nicht ersichtlich, dass ein "ordentlicher und verständiger, auf den Rollstuhl angewiesener Mensch" immer den Beckengurt am Rollstuhl anlege, obwohl dieser nur für den Kfz-Transport vorgesehen ist. Das bloße Vorhandensein des Gurtes führe nicht zu einer höheren Sorgfaltspflicht des Behinderten. Das Amtsgericht muss nun über das Schmerzensgeld neu entscheiden.
Az.: 1 BvR 742/16