sozial-Branche

Interview

Flüchtlinge

"18-Jährige hängen zwischen den Leistungssystemen"




Birgit Löwe
epd-bild/Diakonisches Werk Bayern
Für die Begleitung und Betreuung minderjähriger Flüchtlinge sind nach Auffassung von Birgit Löwe mehr Fachkräfte notwendig. Das Vorstandsmitglied der Diakonie Bayern fordert deshalb eine jährliche Aufstockung der Gelder für die Jugendmigrationsdienste um zehn Millionen Euro.

Besonders schwierig ist laut der Birgit Löwe die Situation für junge Menschen an der Schwelle zur Volljährigkeit. Gerade der Freistaat Bayern setze diese Gruppe unter Druck, indem er hier rigide Hilfsleistungen streiche. Die Expertin füpr Jugendarbeit kritisiert im Interview mit epd sozial, dass dies nicht helfe, um junge Menschen auf eine selbstständige Lebensführung vorzubereiten. Löwe verlässt nach 17 Jahren den Vorstand der Diakonie Bayern, um in Zukunft als Psychotherapeutin zu arbeiten. Die Fragen stellte Markus Jantzer.

epd sozial: In Deutschland leben nach offiziellen Schätzungen fast 400.000 minderjährige Flüchtlinge. Davon flohen rund 65.000 ohne ihre Eltern hierher. Wie geht es ihnen?

Birgit Löwe: Die meisten Kinder und Jugendlichen leben in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und können von der fachlichen und sozialpädagogischen Begleitung und Betreuung profitieren. Dies ist für deren Sicherheit und Integration von entscheidender Bedeutung. Sie brauchen fachkundige Unterstützung bei den notwendigen Behördengängen, beim Erlernen der Sprache, in Schule und Ausbildung, um damit auch Kultur, Land und Leute kennenzulernen. Und letztendlich brauchen sie heilpädagogische Begleitung, um die Erfahrungen auf der Flucht und Trennungen von den Familien verarbeiten zu können.

epd: Sind diese Kinder und Jugendlichen, die vor Krieg und Terror geflohen sind, hier in Sicherheit? Welchen Gefährdungen sind sie hier ausgesetzt?

Löwe: Sicherlich sind die Kinder und Jugendlichen vor Krieg und Terror sicher, und für ihre Grundbedürfnisse ist gesorgt. Doch in vielerlei Hinsicht bleibt das Leben für sie unsicher. Gerade, wenn sie an der Schwelle zur Volljährigkeit stehen. In Bayern wird zunehmend rigide gehandelt, und die Leistungen aus der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) mit dem 18. Lebensjahr eingestellt. Da werden häufige Integrationsangebote nicht weitergeführt. Und die jungen Menschen "hängen" zwischen den verschiedenen Leistungssystemen. Oder es droht ihnen, dass sie in ihr Herkunftsland zurückgeschickt werden.

Auch beobachten wir häufig, dass für die Kinder und Jugendliche – gerade, wenn sie zur Ruhe kommen, Sicherheit und Vertrauen erleben - traumatische Erlebnisse sich ihren Ausdruck suchen. Häufig genug werden sie auch durch scheinbar harmlose Situationen in konflikthaften Auseinandersetzungen oder durch Verluste retraumatisiert. Hier bedarf es dann der fachkundigen heilpädagogischen, bisweilen auch therapeutischen Begleitung.

epd: Werden die Flüchtlingskinder im schulpflichtigen Alter auch wirklich in einer Regelschule unterrichtet? Oder fehlen ihnen dafür die erforderlichen Deutschkenntnisse?

Löwe: Unserer Kenntnis nach werden die Kinder im schulpflichtigen Alter in die Regelschule eingeschult, häufig genug ohne ausreichende Deutschkenntnisse. Die Beschulung selbst scheint örtlich sehr unterschiedlich zu sein, ebenso wie die fachkundige Betreuung und Begleitung. Schwierig gestaltet sich – neben der Beschulung der Kinder – die Zusammenarbeit mit den Eltern.

Schwieriger gestaltet sich die Beschulung bei der Berufsschulpflicht. Nicht immer stehen ausreichend Plätze oder fachkundiges Personal zur Verfügung.

epd: Wie bewerten Sie die sozialpädagogische Betreuung der minderjährigen Flüchtlinge?

Löwe: Solange die Kinder und Jugendlichen in einer sozial- bzw. heilpädagogischen Einrichtung leben, ist die fachpädagogische Begleitung und Unterstützung im Großen und Ganzen gewährleistet. Je älter die unbegleiteten ausländischen Jugendlichen werden, desto schwieriger wird deren Situation. Die Übergänge von Schule und Ausbildung problematisch. Wenn die Flüchtlinge volljährig werden, droht der Abbruch der bisherigen Betreuung und Begleitung durch die Jugendmigrationsdienste. Das Betreuungsverhältnis war in Bayern im vergangenen Jahr 1 zu 250 - eine Vollzeitkraft betreute also 250 Jugendliche. Da ist eine individuelle und spezifische Begleitung nur bedingt möglich.

epd: Welche Aufgaben übernehmen hier die 450 Jugendmigrationsdienste in Deutschland?

Löwe: Der Jugendmigrationsdienst ist heute faktisch der Regel-Migrationsdienst des Bundes für junge, darunter auch neu zugewanderte Menschen mit Migrationshintergrund, wenn sie eine dauerhafte Aufenthaltsperspektive haben. Sie sind ein Angebot der Jugendsozialarbeit und unterstützen junge Menschen mit Migrationshintergrund in ihrer sprachlichen, schulischen, beruflichen und sozialen Integration. Sie haben Anlauf-, Koordinierungs- und Vermittlungsfunktion.

Die Jugendmigrationsdienste beraten und begleiten junge Menschen im Alter von 12 bis 27 Jahren, die in erhöhten Maße Unterstützung am Übergang Schule – Ausbildung – Beruf benötigen, mit dem Verfahren des Case Managements. Darüber hinaus bieten sie allen jungen Menschen sozialpädagogische Begleitung während und nach den Integrationskursen und den Sprachkursen. Jugendmigrationsdienste setzen sich dafür ein, dass den jungen Menschen dauerhaft eine gesellschaftliche und berufliche Perspektive geboten wird. Zudem fördern sie das kulturelle Miteinander und tragen auch damit zur Sicherung des sozialen Friedens bei.

epd: Wie kommen die Jugendmigrationsdienste mit dem sprunghaft gestiegenen Unterstützungsbedarf zurecht? Konkurrieren hier Jugendliche mit Migrationshintergrund mit den neuen Flüchtlingen um die Leistungen der Migrationsdienste?

Löwe: Die Kapazitäts- und Belastungsgrenzen der Fachkräfte sind bereits seit langer Zeit überschritten: im Jahr 2015 wurden bundesweit 91.834 junge Menschen beraten, davon 44.470 im Rahmen des Case Managements intensiv begleitet. Dies ist eine Steigerung um 44 Prozent innerhalb von drei Jahren. Aufgrund des gestiegenen Bedarfs ist der Ausbau des Angebotes nicht nur fachlich notwendig und geboten, sondern unabdingbar. Gerade in Bayern gibt es noch zahlreiche Regionen, die gar kein Jugendmigrationsdienst vorhalten.

Der dringend notwendige Ausbau fordert die Erhöhung der Mittel des Kinder- und Jugendplanes des Bundes. Es ist gelungen, die anvisierte Kürzung der Mittel um acht Millionen Euro abzuwenden. Aber es ist noch nicht gelungen, die zwingend notwendigen weiteren Mittel in Höhe von zehn Millionen Euro für 2017 und darüber hinaus durchzusetzen.

epd: Brauchen Mädchen andere Hilfsangebote als Jungs? Und bekommen sie diese auch?

Löwe: Mädchen brauchen größere und klarere Schutzräume, um nicht weiteren Gefährdungen ausgesetzt zu sein und sich entwickeln zu können. Damit ist eine genderspezifische Begleitung und Beratung erforderlich, die die besonderen (Schutz-)Bedürfnisse im Blick behält, sowie Integration in einer freiheitlichen Gesellschaft unterstützt.

epd: Die Chancen auf einen Ausbildungsplatz für Flüchtlinge sind mit der Novelle des Integrationsgesetzes verbessert worden. Wie wirkt sich das in der Praxis aus?

Löwe: Neben dem Zugang zu einem Ausbildungsplatz ist es erforderlich, auch die Ausbildungsfähigkeit im Blick zu halten. Dies bedarf in der Regel auch einer Vorbereitungsphase zur Ausbildung bzw. eine intensive – sozialpädagogische bzw. fachtheoretische - Begleitung der Auszubildenden. Das bedeutet, dass sich Ausbildungsbetriebe entsprechender Fachkompetenzen bedienen müssen, um die Ausbildung der jungen Menschen mit Migrationshintergrund entsprechend begleiten zu können. Dies bedeutet jedoch auch, dass differenzierte Formen der berufsbezogenen Jugendsozialarbeit mit Angeboten wie Jugendwerkstätten, assistierte Ausbildung, Jugendmigrationsdiensten etc. ausgebaut und auskömmlich finanziert werden müssen.

epd: Inwieweit ändern sich für die jungen Menschen die Hilfsangebote, wenn sie das Erwachsenenalter erreicht haben. Gibt es hier gleitende Übergänge?

Löwe: In Bayern wird die Regelung, Jugendhilfeleistungen mit dem 18. Lebensjahr zu beenden, in der Regel rigide gehandhabt, häufig genug ohne die Übergänge entsprechend zu gestalten. Dem nach SGB VIII möglichen individuellen Anspruch bei Bedarf wird nicht stattgegeben oder kann nicht durchgesetzt werden, da eine entsprechende fachliche Beratung und Begleitung nicht mehr vorhanden ist.

Der aktuelle Beschluss bei der Jahreskonferenz der Regierungschefs und -chefinnen der Länder am 28. Oktober in Rostock, das Jugendwohnen im Rahmen der Jugendsozialarbeit zu stärken, wird für einen Teil der jungen Menschen mit Migrationshintergrund ein passendes und geeignetes Angebot sein. Allerdings ist das Angebot des Jugendwohnens, das darauf zielt, Mobilität zu ermöglichen, und das einem erfolgreichen Schul- und Ausbildungsabschluss dient, keine Hinführung und Begleitung zur Verselbstständigung junger Menschen, die einen erhöhten Betreuungsbedarf haben. Und diesen brauchen die jungen Menschen, die unbegleitet aufgrund von Flucht bei uns sind, dringend.

Eine Veränderung des SGB VIII für die Zielgruppe der unbegleiteten minderjährigen jungen Menschen unter dem Gesichtspunkt der Kostenreduzierung ist für deren Integration und Vorbereitung auf deren selbstständige Lebensführung kontraproduktiv.


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