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Weltkulturerbe

Interview

"Genossenschaften aktueller denn je"




Werner Böhnke
epd-bild/Raiffeisen-Gesellschaft
Mit der Aufnahme der Genossenschaftsidee in die UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit hat das Modell des gemeinschaftlichen Wirtschaftens eine besondere Anerkennung erfahren. Die Grundlagen für die Genossenschaften legten vor über 150 Jahren die deutschen Sozialpioniere Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Hermann Schulze-Delitzsch.

Raiffeisen gründete Mitte des 19. Jahrhunderts Hilfsvereine, um große Teile der Landbevölkerung vor dem Hungertod zu bewahren. Der sogenannte "Brodverein" wurde zur Keimzelle der Genossenschaftsidee. Heute sind nach Angaben des Vorsitzenden der Deutschen Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-Gesellschaft, Werner Böhnke, in über 100 Staaten mehr als 800 Millionen Menschen in rund 900.000 Genossenschaften organisiert - und beeinflussen die wirtschaftliche und soziale Entwicklung vieler Länder. Mit einem "stolzen" Böhnke sprach Markus Jantzer.

epd sozial: Warum war es Ihnen wichtig, dass die Genossenschaftsidee in die UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen wird?

Werner Böhnke: Uns ging es zum einen darum, die "Gründerväter" des modernen Genossenschaftswesens in Deutschland, Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Herrmann Schulze-Delitzsch, zu würdigen. Gleichzeitig wollten wir auf die hohe Bedeutung und bleibende Aktualität genossenschaftlichen Wirkens in vielen Bereichen hinweisen. Die Repräsentative Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit der UNESCO bringt seit 2003 die Vielfalt an kulturellen Ausdrucksformen und menschlicher Kreativität aus allen Regionen der Welt zur Geltung. Wir sind stolz, dass Deutschland die Genossenschaftsidee als allererste deutsche Nominierung auf internationaler Ebene eingereicht hat.

epd: Was hat den Ausschlag für das positive Votum gegeben?

Böhnke: Überzeugt hat die UNESCO das bürgerschaftliche Engagement im sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereich, das durch Genossenschaften jenseits privater und staatlicher Wirtschaftsformen zum Ausdruck kommt - aufbauend auf ideellen Grundsätzen wie Solidarität, Ehrlichkeit, Verantwortung und Demokratie. Die Anerkennung der genossenschaftlichen Idee als Immaterielles Kulturerbe der Menschheit durch die UNESCO Ende November 2016 ist eine Würdigung all derer, die sich in genossenschaftlichen Initiativen und auf dem Fundament "Was einer nicht schafft, das schaffen viele" erfolgreich engagieren.

epd: Was lässt sich über die Jury sagen, die die Entscheidung in Addis Abeba getroffen hat?

Böhnke: Die Jury setzt sich aus Vertretern von 24 gewählten Vertragsstaaten der UNESCO-Konvention zum Immateriellen Kulturerbe zusammen. Die Vertreter der Jury haben sich im Vorfeld sehr intensiv mit unserer Bewerbung auseinandergesetzt und während der Sitzung eine ganze Reihe von fundierten Nachfragen an die deutsche Delegation gerichtet.

epd: Welche Folgen erwarten Sie nun aus der "Adelung" der Genossenschaftsidee?

Böhnke: Die zentralen Botschaften von Friedrich Wilhelm Raiffeisen sind heute aktueller denn je. Raiffeisen, der erfüllt war von der christlichen Nächstenliebe und der ständigen Bereitschaft, in Not geratene Menschen über die Hilfe zur Selbsthilfe zu unterstützen, hat seine Ideen konsequent und beharrlich in die Tat umgesetzt. Bei all seinem Handeln hat er nie danach gefragt: Was habe ich davon? - sondern stets: Was kann ich tun? Diese von Überzeugung und Konsequenz geprägte Haltung ist auch Maßstab beim Einsatz all derer, denen die Genossenschaftsidee am Herzen liegt. Die UNESCO-Auszeichnung macht deutlich: Die Genossenschaftsidee lebt! Und die ihr innewohnende Werteorientierung kann in vielerlei Hinsicht jene Begrenzung sein, in der Maß und Mitte nicht verloren gehen.

epd: Sollten Genossenschaften in Deutschland mehr als derzeit zum Einsatz kommen, um soziale und wirtschaftliche Ziele zu erreichen?

Böhnke: Der genossenschaftliche Gedanke ist in der deutschen Wirtschaft fest verankert. Beträchtliche Bereiche der Energieversorgung werden beispielsweise zunehmend über regionale Genossenschaften abgedeckt. Auch in sozialen Sektoren, in der Landwirtschaft, im Gewerbe und im Finanzwesen spielen Genossenschaften eine wichtige Rolle. Das in ihnen verankerte Regionalprinzip macht Dinge im besten Sinne begreifbar, nachvollziehbar und transparent. Gleichwohl lassen sich gerade mit Blick auf die gegenwärtigen Herausforderungen die Weichen für eine noch stärkere Verbreitung genossenschaftlicher Prinzipien in Wirtschaft und Gesellschaft stellen.

epd: In welchen Aufgabenfeldern sollte das geschehen?

Böhnke: Besonders am Herzen liegt mir die Jugend. Für viele junge Menschen sind heute Konsum, Besitz oder Profit kein Lebenselixier mehr. Sie wollen sich ideell verwirklichen und zu einer nachhaltigeren, gerechteren Gesellschaft beitragen. Die Genossenschaftsidee passt zum Lebensgefühl dieser Generation. Zeitgemäß formuliert hat Raiffeisen gesagt: Entdecke, was in dir steckt. Trau dir was zu. Verstehe Anstrengung nicht als Belastung, sondern als Herausforderung. Wer sich ein Ziel setzt, darauf hin arbeitet und es erreicht, der tankt Selbstvertrauen - und verspürt Lebensglück. Das versuche ich immer wieder, insbesondere jungen Menschen, zu vermitteln.

epd: Welches Gewicht haben Genossenschaften in der deutschen Wirtschafts- und Sozialbranche?

Böhnke: Lassen Sie mich einige aktuelle Zahlen nennen: Die Zahl der bei den Genossenschaften in Deutschland beschäftigten Personen beläuft sich auf rund 970.000 Voll- und Teilzeitkräfte. Außerdem bieten die Genossenschaften rund 47.000 jungen Menschen Ausbildungs- und Traineeplätze. Zum Jahresende 2016 gab es in Deutschland über 8.000 genossenschaftliche Unternehmen. Im vergangenen Jahr wurden rund 200 Genossenschaften neu gegründet. Zum Vergleich: Um die Jahrtausendwende wurden nur rund 45 Genossenschaften pro Jahr errichtet.

Übrigens gilt die Rechtsform der eingetragenen Genossenschaft eG aufgrund ihrer Struktur als die insolvenzärmste Rechtsform in Deutschland. Mittlerweile sind über 22 Millionen Menschen, also rund jeder vierte Bundesbürger, genossenschaftlich organisiert. Sie haben das Modell des "gemeinschaftlichen Wirtschaftens" für sich entdeckt. Sie organisieren gemeinschaftlich Lösungen für Wohnraum, Nahrung und Kredite, aber auch für Kranken- und Altenbetreuung sowie Energiefragen. Ich glaube, weitaus mehr Bürger könnten Gefallen an einer Nachahmung finden - wir müssen nur immer wieder an die eG und ihre Vorzüge erinnern.

epd: Sollte "der Staat" die Genossenschaftsidee und konkret die Gründung von Genossenschaften unterstützen? Oder ist die beste Unterstützung, dies der Entscheidungsfreiheit der Bürger zu überlassen?

Böhnke: Wir rufen nicht nach der Unterstützung des Staates, aber konkrete Handlungsfelder gibt es durchaus. Beispielsweise in der Existenzgründungsberatung: Industrie- und Handelskammern sowie Handwerkskammern könnten bei ihren diesbezüglichen Aktivitäten noch stärker darauf hinwirken, die eingetragene Genossenschaft als Rechtskleid zu wählen, um auf diese Weise den Rahmen für eine spezifische Unternehmenskultur zu schaffen.

epd: Welche Rolle spielt die Genossenschaftsidee in anderen Staaten?

Böhnke: Es gibt kaum ein Land auf dieser Welt ohne Genossenschaften. In über 100 Ländern sind heute mehr als 800 Millionen Menschen in rund 900.000 Genossenschaften organisiert. In Ländern wie Brasilien, Indien, Japan und auch in den USA haben sie eine herausragende volkswirtschaftliche Bedeutung. Die Kulturform der Genossenschaften verbindet Menschen auf der ganzen Welt. So trägt die Genossenschaftsidee zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen bei. Zugleich wird sie durch kreative Veränderungen immer wieder an moderne Gegebenheiten angepasst.


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