sozial-Branche

Pflege

Interview

"Suchtkranke Senioren müssen besser erreicht werden"




Verena Pfister
epd-bild/BruderhausDiakonie
Sucht im Alter wird häufig nicht erkannt. Auch Pflegefachkräfte, die Senioren betreuen, übersehen oder übergehen die Erkrankungen, von denen immerhin 15 Prozent ihrer Klienten betroffen sind. Diakonische Fachverbände haben deshalb einen Vorstoß unternommen, damit die Betreuungspraxis besser wird.

Die Diplom-Pflegewirtin Verena Pfister geht mit der eigenen Branche hart ins Gericht: Der Umgang mit älteren suchtkranken Menschen sei "durch fehlendes Wissen, Überforderung und Mangel an praxistauglichen Konzepten geprägt", sagte sie dem Evangelischen Pressedienst (epd) im Interview. Eine gemeinsame Arbeitsgruppe des Pflegeverbandes und des Suchtverbandes der Diakonie hat umfassende Empfehlungen vorgelegt, um die Hilfen zu professionalisieren und zu vernetzen. Mit Verena Pfister, Referentin in der Altenhilfe der BruderhausDiakonie in Reutlingen und Mitautorin des Konzeptpapiers, sprach Markus Jantzer.

epd sozial: Der Pflegeverband und der Suchtverband der Diakonie haben einen gemeinsamen Vorstoß unternommen, um die Betreuung suchtkranker Menschen im Alter zu verbessern. Sie haben dazu einen praxisorientierten Leitfaden mit dem Ziel vorgelegt, die konkrete Arbeit der Einrichtungen und Dienste auf diesem Feld zu verbessern. Was liegt im Argen?

Verena Pfister: Etwa 14 Prozent der älteren Menschen, die von ambulanten Pflegediensten oder im Heimen betreut werden, konsumieren Substanzen in riskantem Umfang. Die Dunkelziffer ist hoch. Aufgrund der demografischen Entwicklung wird diese Zahl weiter zunehmen. Viele suchtkranke Senioren werden von den Einrichtungen der kommunalen Suchthilfenetzwerke nicht erreicht.

epd: Woran liegt das?

Pfister: Das liegt zum einen daran, dass ältere Menschen Alkohol, Schmerzmittel oder Schlaftabletten eher im Verborgenen konsumieren. Zum anderen steht die Versorgung und Pflege suchtkranker älterer Menschen - abgesehen von wenigen speziellen Einrichtungen - bislang weder im Fokus fachlicher Altenpflege noch in dem der Suchthilfe. Und es liegen noch wenig Erfahrungen über zielgruppenspezifische Angebote, geeignete Zugangswege und erfolgreiche Kooperationen vor. Die Handreichung der diakonischen Fachverbände soll dazu beitragen, dies zu ändern.

epd: Abhängigkeiten von Alkohol oder Medikamenten sind kein neues Phänomen. Was hat sich in den letzten Jahren verändert, hat sich das Problem verschärft?

Pfister: Häufig werden die Folgen übermäßigen Alkohol- oder Tablettenkonsums mit normalen Alterserscheinungen verwechselt. Das führt wiederum dazu, dass die Hilfesysteme nicht auf die Gruppe älterer suchtkranker Menschen ausgelegt sind, Betroffene oftmals nicht erkannt oder eingeleitete Maßnahmen nicht zielführend oder ausreichend umgesetzt werden. Folglich ist der Alltag in der Begegnung mit älteren suchtkranken Menschen durch fehlendes Wissen, Überforderung und Mangel an praxistauglichen Konzepten geprägt. Angehörige entwickeln teilweise eine Co-Abhängigkeit oder bagatellisieren das Verhalten der Betroffenen, Pflegekräfte sind zum Teil zu wenig für die Thematik sensibilisiert.

epd: Beginnen Suchterkrankungen oft erst im hohen Alter? Etwa weil pflegebedürftige Menschen die Einsamkeit zu Hause oder im Heim nicht ertragen? Oder ist es vor allem die starke Medikation gegen multiple Krankheiten, die Abhängigkeiten von bestimmten Substanzen hervorruft?

Pfister: Einsamkeit oder Überforderung sind wesentliche Ursachen für die Suchtproblematik im Alter. Vor allem, wenn jemand allein zu Hause lebt und wenige Sozialkontakte hat. Auch die Umstellung nach Ende der Erwerbsfähigkeit, chronische Schmerzen oder das Bewusstsein der Endlichkeit des Lebens tragen wesentlich zum Beginn einer Abhängigkeitserkrankung bei. Aus diesem Grund braucht es eine andere Kultur und Grundhaltung des Umgangs mit älteren Personen. Viele ehrenamtlich engagierte Menschen setzen beispielsweise durch Besuchsdienste oder Veranstaltungen der Vereinsamung und Fehlentwicklungen wie Alkoholabhängigkeit etwas entgegen. Landesseniorenräte fordern deshalb z.B. in jeder Kommune eine hauptamtliche Stelle, die Ehrenamtliche begleitet und fördert.

epd: Was sollte eine professionelle Pflegekraft tun, wenn sie in ihrer beruflichen Praxis auf alkohol- oder medikamentenabhängige Pflegebedürftige trifft?

Pfister: Zunächst einmal muss die Pflegeperson die Abhängigkeit und den Missbrauch überhaupt erkennen, um überhaupt handeln zu können. Hierfür benötigt es bereits frühzeitig eine entsprechende Sensibilisierung der Beteiligten. Anschließend gilt es, das Vertrauen der Betroffenen zu gewinnen und einen Zugang zu erhalten, um in einem ersten Schritt lebensbedrohliche Einflüsse abwenden zu können, Grundbedürfnisse wie Ernährung und Pflege zu sichern sowie einen Zugang zur Pflegeversicherung herzustellen. Gerade bei Betroffenen in der häuslichen Umgebung spielt das eine essenzielle Rolle.

Eine wichtige Rolle spielt auch die Kommunikation zwischen Pflegeperson und Betroffenem. Durch eine Kommunikation, die eine Änderung und Stabilisierung unterstützt, tragfähige Beziehungen herstellt und sowohl Milieu und Umfeld stärkt, kann ein Umdenken angestoßen und der Alkohol- bzw. Medikamentenkonsum verringert oder stabilisiert werden. Gleichzeitig müssen Folgeerkrankungen erkannt und entsprechend behandelt werden. Die Vernetzung von pflegerischen Strategien der Suchthilfe und den Selbsthilfegruppen kann bei der Begleitung Unterstützung liefern.

epd: Sind Pflegekräfte ausreichend qualifiziert, um eine Sucht oder die Gefahr einer Suchterkrankung zu erkennen?

Pfister: Um die ersten Anzeichen einer Suchterkrankung richtig deuten zu können, benötigt es eine entsprechende Sensibilisierung und Schulung von Ärzten, Therapeuten, Ehrenamtlichen und Pflegemitarbeitern. Diese können in Form einer Basisschulung für alle Teammitglieder oder für einzelne Multiplikatoren, die ihr Wissen entsprechend weitervermitteln, durchgeführt werden. Zugleich müssen Abhängigkeitserkrankungen in stationären Einrichtungen und ambulanten Diensten im Sinne eines Qualitätsmanagements thematisiert werden.

epd: Was heißt das?

Pfister: Es bedarf der Entwicklung fachlicher Standards zum Umgang mit suchtkranken älteren Menschen. Wie beispielsweise eine Konzeption für Interventionsgespräche, welche die motivierende Gesprächsführung mit konstruktivem Druck verbindet und so Betroffene zum Handeln und Umdenken motiviert. Oder die Nutzung von Strategien, die sich Schritt für Schritt in der Geschwindigkeit den Möglichkeiten der Betroffenen anpassen können. Ebenfalls können Kurzinterventionen, wie der motivierende Anstoß von außen, im pflegerischen Alltag angewendet, sowie die Selbst- und Suchthilfe in den Betreuungsprozess einbezogen werden. Besondere Bedeutung hat die Gestaltung der Schnittstellen zwischen Alten- und Suchthilfe. Wichtige Anlaufstellen und Verbindungsglieder für Betroffene, Angehörige und Pflegemitarbeiter sind zum Beispiel der sozialpsychiatrische Dienst oder Beratungsstellen für Suchtfragen. Diese spezifischen Verbindungsglieder führen den Betroffenen im Sinne eines Case Managements in die Versorgungsstruktur der Suchthilfe ein. Zuständig für die Koordinierung dieser Stellen sind überwiegend die Landkreise.

epd: Fühlt sich eine ambulante Altenpflegerin für Suchthilfe überhaupt zuständig? Hierfür hat sie doch weder Zeit, noch wird der Pflegedienst dafür bezahlt.

Pfister: Die Finanzierung der Suchthilfe in der ambulanten Altenhilfe stellt sich häufig als große Herausforderung dar. Das führt dazu, dass Erkrankungen oft gar nicht erst erkannt werden oder erkannt werden wollen. Die richtige Deutung der Zeichen und der entsprechende Umgang mit suchtkranken älteren Personen muss für Pflegekräfte bereits in der Ausbildung selbstverständlich werden, da sie in der Praxis immer häufiger damit konfrontiert werden. Deshalb braucht es eine Verankerung der Thematik bereits in der Ausbildung der Pflegekräfte. Durch das Pflegestärkungsgesetz und die Finanzierung von Betreuungs- und Entlastungsleistungen ergeben sich neue Möglichkeiten für die Suchthilfe im Bereich der Altenhilfe.

epd: Müssen unterschiedliche Fachkräfte in der Gesundheits- und Sozialbranche in der Suchthilfe besser zusammenarbeiten?

Pfister: Pflegekräfte arbeiten am engsten mit den Betroffenen zusammen und können als erste Veränderungen in Verhaltensweisen oder gesundheitliche Probleme erkennen. Sie haben zumeist einen intensiveren Kontakt zu den betroffenen Personen als Ärzte oder sogar Angehörige selbst. Aus diesem Grund ist es ihre Aufgabe, Zeichen einer Suchterkrankung richtig zu deuten und an Leitung, Ärzte oder Angehörige weiterzuleiten. Netzwerke aus Sozialstationen, Hausärzten, Pflegeeinrichtungen, Suchtberatungsstellen und Ehrenamtlichen müssen eng zusammen arbeiten und relevante gesellschaftliche Gruppen wie Selbsthilfegruppen, offene Altenhilfe und Behörden einbeziehen, um einen möglichst niedrigschwelligen Zugang für Betroffene zu schaffen und den Weg in passende Versorgungsstrukturen zu ebnen.

epd: Wie soll das organisiert und bezahlt werden?

Pfister: Voraussetzung für viele Hilfsmöglichkeiten ist eine Anerkennung und Einordnung der Abhängigkeitskrankheit. Mit Hilfe der ICF´s (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) werden die Teilhabefähigkeiten und Kompetenzen einer Person erfasst. Leistungen zur Teilhabe können aus sehr unterschiedlichen Finanzierungsquellen kommen. Oft ergänzen sie einander. Letztendlich hängt es vom jeweiligen Krankheitsbild ab, wann die Krankenkasse einspringt, was gegebenenfalls die Pflegeversicherung zahlt, die Rentenversicherung oder eventuell auch der Sozialhilfeträger. Wichtig ist, dass sich diese Träger abstimmen und an einem Strang ziehen: Sie müssen gemeinsam sicherstellen, dass Teilhabe möglich ist!

epd: Sind neue Gesetz notwendig?

Pfister: Die übergreifende Pflegeausbildung und das neue Pflegeberufegesetz liefern eine Chance, zukünftige Pflegefachkräfte bereits während der Ausbildung in ihren suchtspezifischen Kompetenzen auszubilden und zu stärken. Gleichzeitig werden Wünsche laut nach einer digitalen Gesundheitskarte, mit deren Hilfe zum Beispiel angemessen medikamentös beraten und versorgt werden kann. Wechselwirkungen durch und eine Überzahl an verschriebenen Medikamenten kann hierdurch verhindert werden.


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