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Interview

"Asylrecht musste aus symbolischen Gründen geändert werden"




Jochen Oltmer
epd-bild/Michael Gründel
Der "Asylrechtskompromiss" vor 25 Jahren fiel in eine politisch unruhige Zeit. Jochen Oltmer, der als Professor an der Universität Osnabrück lehrt, erinnert sich an heftige polemische politische Debatten und populistische Kampagnen. Es sei "vielfach der Eindruck vermittelt worden, der Staat sei angesichts hoher Flüchtlingszahlen handlungsunfähig, sagte er im Interview mit dem epd. Für ihn wurde das Asylrecht aus symbolischen Gründen geändert. Für Oltmer war die damalige Grundgesetzänderung unnötig.

Jochen Oltmer, Vorstandsmitglied des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS), betont, auch für die Konstellation 2015 mit stark gestiegenen Flüchtlingszahlen sei der Asylkompromiss ohne Bedeutung gewesen. Denn, so das Mitglied im "Rat für Migration": Schutz gewährte die Bundesrepublik vor allem nach der Genfer Flüchtlingskonvention, nicht nach dem Asylgrundrecht.

epd sozial: Tumulte am Bundestag, heiße Wortgefechte im Parlament, eine Mammutsitzung mit 93 Rednern. Haben Sie persönlich noch eine Erinnerung an den denkwürdigen 26. Mai, als der Bundesrat den sogenannten "Asylkompromiss" beschloss?

Jochen Oltmer: Ich erinnere mich zwar nicht mehr an Details, aber durchaus an die Emotionalität der Debatte der vorangegangenen Monate. Alle hatten den Eindruck: Es steht viel für die Bundesrepublik auf dem Spiel.

epd: Der Begriff ist in der Rückschau irritierend. Wie kam dieser bis heute umstrittene Kompromiss zustande?

Oltmer: Heftig umstritten war das Asylgrundrecht nicht erst Anfang der 1990er Jahre. Bereits seit den 1970er Jahren drängten Stimmen aus Politik, Verwaltung und Medien auf eine Beschränkung des Zugangs zum Asyl: Ein Großteil der Antragstellenden sei nicht politisch verfolgt, sondern wolle aus ökonomischen Gründen die Bundesrepublik erreichen. Das Asylrecht werde als Möglichkeit zur ansonsten ausgeschlossenen Einwanderung genutzt.

epd: Aber der Asylrechtsanspruch steht nun mal im Grundgesetz...

Oltmer: Ja. Das Grundrecht auf Asyl blieb zunächst auch noch unangetastet. Je häufiger es aber seit den späten 1970er Jahren in Anspruch genommen wurde, desto stärker schränkten gesetzliche Maßnahmen und Verordnungen es ein. Und je stärker der Zugang zum Asyl beschränkt wurde, desto lauter war die Debatte um den 'Missbrauch des Asylrechts'.

epd: Und in dieser bereits angespannten Situation kamen weitere Flüchtlinge...

Oltmer: Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre war die Zahl der Asylsuchenden wegen des Zusammenbruchs des 'Ostblocks' stark angestiegen, zeitlich wuchs die Zuwanderung von Aussiedlerinnen und Aussiedlern, von Menschen aus der DDR beziehungsweise den neuen Bundesländern. Vorstellungen von einer 'Überflutung' Deutschlands durch 'neue Völkerwanderungen' verbreiteten sich. Vielen galt nicht nur die Stabilität der Arbeitsmärkte und des Sozialsystems als gefährdet, ein Anstieg gesellschaftlicher Konflikte schien zu drohen.

epd: Kann man sagen, dass die Stimung schon sehr aufgeheizt war?

Oltmer: Ja. Polemische politische und publizistische Debatten und populistische Kampagnen verstärkten die Krisenstimmung, in der vielfach der Eindruck vermittelt wurde, der Staat sei handlungsunfähig angesichts einer Bedrohung, die durch alarmistische Begriffe wie 'Asylantenflut' und 'Das Boot ist voll' gekennzeichnet wurden.

epd: Kommen wir auf die Formulierung "Kompromiss" zurück.

Oltmer: Ein Kompromiss war die Regelung insofern, als das Asylgrundrecht nicht, wie vielfach vor allem aus der Union gefordert, abgeschafft wurde. Und ein Kompromiss ergab sich auch deshalb, weil die SPD die Zustimmung abhängig machte von Beschränkungen der Aussiedlerzuwanderung und die Union sich einverstanden erklären musste, zukünftig über neue Einwanderungsregelungen zu sprechen. Das hielt die SPD angesichts von Fachkräftemangel und demographischem Wandel unbedingt für nötig.

epd: Musste es zwingend zu dieser Regelung kommen?

Oltmer: Alternativen gab es viele: Allein schon deshalb, weil sich die Polarisierungen zwischen den politischen Lagern und die populistischen Pauschalisierungen hätten vermeiden lassen, die schließlich in das mündete, was der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) als 'Staatskrise' bezeichnete. Es war auch eine selbstgemachte Staatskrise, weil sie Ergebnis der Geister war, die die Politik im Kampf um Mehrheiten in einer Selbstfindungsphase der neuen vereinigten Republik rief.

epd: Der Druck der Straße war hoch, mehrfach brannten Asylbewerberheime.

Oltmer: Eine Änderung des Grundgesetzes wäre dennoch nicht nötig gewesen. Die Beschränkung des Zugangs zum Asyl war in den Vorjahren bereits mehrfach über einfache Gesetze erfolgt. Das Asylrecht bot außerdem die mehr oder minder einzige Einwanderungsmöglichkeit nach Deutschland, je stärker in den 1990er Jahren aber Abkommen mit den Herkunftsländern in Ost-, Ostmittel- und Osteuropa über die Zulassung von Arbeitsmigration getroffen wurden, desto weniger war das Asylrecht für die Migration von Ost nach West relevant. Das Asylgrundrecht war im jahrelangen Streit zum Symbol geworden, dass das Versagen des Staates zu repräsentieren schien. Es musste auch aus symbolischen Gründen geändert werden.

epd: Kritiker sahen in dem Beschluss einen Scheinkompromiss, der zulasten Dritter, nämlich den umliegenden, für sicher erklärten Staaten ging. Wie ist das in der Rückschau zu bewerten?

Oltmer: Ja, mit der Änderung von Artikel 16 des Grundgesetzes begann die Geschichte einer bis heute wirkenden Externalisierung: Die Nachbarstaaten Deutschland wurden zunächst stärker belastet, weil Schutzsuchende nun hier Asylanträge stellten. Sie arbeiteten deshalb Regelungen aus, die den bundesdeutschen ähnelten. Schließlich schufen Einzelstaaten und die EU insgesamt in Fortsetzung der Regelungen zur Verlagerung der Verantwortung für die Asylverfahren, wie sie der bundesdeutsche Asylkompromiss zulasten Dritter einführte, ein System von Verträgen mit Drittstaaten jenseits der Grenzen der Union (zum Beispiel Ukraine, Albanien, Libyen, Marokko), die sich verpflichteten, potentielle Asylsuchende gar nicht erst an die Grenzen der EU kommen zu lassen. Über ein Jahrzehnt lang trug dieses System erheblich zur Verringerung der Zahl der Asylanträge in der EU bei.

epd: Was geschah dann?

Oltmer: Es kam zur globalen Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008, die zum Teil zur politischen Krise wurde. Staaten wie die Ukraine oder Nordafrikas konnten und wollten Fliehende nicht mehr aufhalten, sondern wurden selbst zu Herkunftsländern – womit die Vorgeschichte einer verstärkten Zuwanderung von Asylsuchenden nach Europa im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts begann, die 2015 ihren Höhepunkt erreichte.

epd: Wäre es nicht besser gewesen, zu beschließen, dass Deutschland Verfolgten "nach Maßgabe ihrer Aufnahme- und Integrationsfähigkeit" Asyl gewährt, wie das viele andere Länder praktizieren? Es ging ja im Kern darum, die hohen Rechtsstandards in Deutschland abzusenken, in der Hoffnung, dann weniger attraktiv für Flüchtlinge zu sein.

Oltmer: Attraktiv war die Bundesrepublik nicht in erster Linie wegen des Asylgrundrechts, sondern wegen der Nähe zu den Staaten im Osten Europas, die nach 1989 ihre politischen Systeme konfliktreich umwälzten, in schwere wirtschaftliche und gesellschaftliche Krisen gerieten oder, wie insbesondere Jugoslawien, im Krieg zerfielen.

epd: Aus dem Osten Europas kamen ohnehin schon viele Menschen.

Oltmer: Ja. Man darf nicht unterschätzen, dass viele Menschen aus Polen sowie der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten über die Aussiedler- und Asylzuwanderung insbesondere der 1980er und frühen 1990er Jahre – oder im Falle Jugoslawien über die Zuwanderung von 'Gastarbeitern' seit Ende der 1960er Jahre – viele Verwandte, Bekannte und Freunde in der Bundesrepublik hatten. Solche verwandtschaftlich-bekanntschaftlichen Netzwerke waren wichtiger für die Wahl des Ziels Deutschland als asylrechtliche Regelungen. Außerdem wissen wir, dass das Asylgrundrecht Anfang der 1990er Jahre schon lange bedeutungslos für die Zuerkennung eines Schutzstatus war: als viel wichtiger erwies sich, dass die Bundesrepublik schon in den 1950er Jahren die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet hatte. Jene, die in Deutschland bleiben durften, erhielten in der Regel keinen Schutzstatus nach dem Grundgesetz, sondern nach der Genfer Flüchtlingskonvention.

epd: Blicken wir von damals auf heute: Die Kernelemente der damaligen Regelungen gelten noch immer? Hat sich der heiß umkämpfte Kompromiss bewährt, vor allem mit Blick auf die hohen Zuzugszahlen im Jahr 2015?

Oltmer: Auch 2015 galt: Schutz gewährte die Bundesrepublik vor allem nach der Genfer Flüchtlingskonvention, nicht nach dem Asylgrundrecht. Auch die Instrumente, die 1993 geschaffen wurden, also die ›sicheren Herkunftsländer‹ und ›sicheren Drittstaaten‹ blieben faktisch belanglos. Für die Konstellation 2015 war der Asylkompromiss ohne Bedeutung.

epd: Immer wieder wurde das Asylrecht reformiert, meist gar verschärft, wie Kritiker sagen. Die Grundprobleme wurden indes nicht gelöst, Stichwort Obergrenze. Wäre es nicht höchste Zeit, eine EU-weite Lösung der Flüchtlingsaufnahme- und -verteilung zu erreichen? Warum geht es hier nicht voran?

Oltmer: Gewiss muss neu und intensiv diskutiert werden: über EU-weite asylrechtliche Regelungen, über eine Verbesserung der Position des Flüchtlingshochkommissars der Vereinten Nationen, der bislang nur bedingt in der Lage ist, bei einer Zunahme der Zahl der Schutzsuchenden weltweit rasch zu reagieren, aber auch über gemeinsamen Aktivitäten zur Begrenzung von inner- und zwischenstaatlichen Konflikten. Überall aber hakt es: Die Interessen der beteiligten Staaten sind sehr unterschiedlich, weithin hoffen sie darauf oder streben danach, dass sich andere Staaten um Schutzsuchende kümmern – das Grundprinzip des Abkommens der EU mit der Türkei oder mit Staaten Nord- und Westafrikas, wie sie seit 2016 in größerer Zahl abgeschlossen wurden.

epd: Die neue Regierung ist im Amt. Was erhoffen Sie sich als Experte von ihrer Migrationspolitik?

Oltmer: Deutschland hat international eine starke Position. Es könnte sich deutlich intensiver als bislang dafür einsetzen, dass es zu gemeinsamen Anstrengungen weltweit und in der EU kommt, das Thema Asyl und Aufnahme von Schutzsuchenden neu anzugehen. Ideen gibt es viele, allein am politischen Willen mangelt es.


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