sozial-Branche

Pflege

Gastbeitrag

Wenn die Pflege zum Renditeobjekt wird




Ulrike Kempchen
epd-bild/BIVA
Im Pflegemarkt werden Milliarden umgesetzt. Doch der Begriff "Markt" führe in die Irre, sagt Pflegeschutz-Expertin Ulrike Kempchen. Tatsache sei, dass wir im Pflegesektor keinen echten Markt mit kritischen Marktteilnehmern haben, die sich die qualitativ besten Angebote heraussuchen können. Das ist strukturell bedingt und führt zu vielen Möglichkeiten des Missbrauchs, wie Kempchen in ihrem Gastbeitrag für epd sozial darlegt.

In der Pflege geht es um viel Geld. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts gab es 2015 rund 2,9 Millionen pflegebedürftige Menschen in Deutschland, was zu Ausgaben von rund 31 Milliarden Euro geführt hat - Tendenz steigend. Wir werden in Deutschland immer älter und die Medizin macht weitere Fortschritte in der Lebenserhaltung. Pflege ist längst zu einem Wirtschaftsfaktor geworden.

Zwar setzt die Pflegeversicherung selbst auf die regulierende Wirkung der Marktwirtschaft, die Verbraucher aber bleiben dabei oftmals auf der Strecke. Denn auch die Kostenoptimierung ist Ziel der Marktwirtschaft. Im Pflegesektor kann sich das verheerend auswirken: Wenn die Pflegebedürftigkeit zu einem Renditeobjekt wird, öffnet das schwarzen Schafen und betrügerischen Absichten Tür und Tor. Die integren Anbieter leiden darunter. Die Gründe für die prekäre Situation sind vielfältig.

Kein echter Markt im Pflegesektor

Ausgangslage für die Privatisierung in der Pflege war die Annahme der Politik, dass sich der Pflegemarkt selbst regulieren wird, das heißt, dass sich gute Angebote entsprechend den Regeln der freien Marktwirtschaft von selbst durchsetzen beziehungsweise schlechte Angebote untergehen werden. Das ist aber gerade nicht der Fall.

Tatsache ist, dass wir im Pflegesektor keinen echten Markt mit kritischen Marktteilnehmern haben, die sich die qualitativ besten Angebote heraussuchen können. Bei den Verbrauchern handelt es sich um hilfebedürftige Menschen, die von der Versorgung durch Dritte abhängig sind. Sie haben aufgrund der hohen Nachfrage meist gar keine andere Wahl als das zu nehmen, was sie an - oft unzureichenden - Versorgungsangeboten bekommen können.

Wenn es um Pflegemissstände geht, erregen vor allem die großen Pflegeskandale die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Wesentlich häufiger belasten aber die kleineren "Unregelmäßigkeiten" die Beziehung zwischen Pflegebedürftigen und Pflegeanbietern.

Beim Informations- und Beratungsdienst des BIVA-Pflegeschutzbundes melden beispielsweise immer wieder Betroffene und deren Angehörige, dass Kostenvoranschläge zur ambulanten Versorgung nicht erstellt oder zu niedrig kalkuliert werden, dass Leistungsnachweise "nachbearbeitet" oder von kognitiv eingeschränkten Personen unterzeichnet oder dass abgerechnete Leistungen oder Zeitkontingente nicht erbracht werden. Auch der Einsatz nicht qualifizierter Personen, die als Fachkräfte abgerechnet werden, wird immer wieder thematisiert.

Verbraucher sind bei kleineren Betrügereien hilflos

Viele Betroffene haben Angst, selbst gegen solche Unregelmäßigkeiten vorzugehen, weil sie eine Kündigung des ambulanten Dienstes befürchten. Denn das Angebot an Pflegediensten deckt bei weitem nicht die Nachfrage. Während Betroffene kaum eine Chance haben, einen Ersatz auf dem Markt zu finden, haben die Pflegedienst-Betreiber in den meisten Gegenden die freie Auswahl unter dem potenziellen Kunden. Bei anderweitigen Dienstleistungen könnte sich ein qualitativ schlechter Dienstleister nicht lange auf dem Markt halten. Aber wegen des riesigen Bedarfs an pflegerischer Versorgung bleiben auch nachlässige Dienste am Markt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Pflegekassen kaum in der Lage sind, allen Beschwerden nachzugehen.

Neben solchen unrechtmäßigen Missständen sind es vor allem auch die legalen Möglichkeiten der "Kostenoptimierung", die sich negativ auf die Finanzen der Betroffenen und auf das gesamte Pflegesystem auswirken.

Pflege-Wohngemeinschaften zum Beispiel kosten mitunter mehr als eine stationäre Versorgung, obwohl es noch nicht einmal geeignete Qualitätssicherungsinstrumente für diese Wohnform gibt. Denn das Leistungsrecht kennt die Wohngemeinschaft als solche eigentlich gar nicht.

Legale Tricks bei Wohngemeinschaften

Werden Leistungsansprüchen in diesem Rahmen geschickt kombiniert, kann das fast zu einer Verdoppelung der Zuschüsse der Pflegeversicherung zulasten der Allgemeinheit führen. Die gesonderten vertraglichen Vereinbarungen und Abrechnungen von Wohnkosten, Betreuung, Pflege, Haushaltskasse und sonstigen Leistungen können die Bewohner finanziell schwer belasten – und zwar ganz legal und bei geschickter Vertragsgestaltung auch unter dem Radar der Aufsichtsbehörden nach den jeweiligen Landesheimgesetzen. So entstehen auf dem Papier vermeintlich selbstbestimmte Wohngemeinschaften.

Auch im stationären Bereich liegt einiges im Argen: So lassen die Kostenstrukturen in stationären Einrichtungen die Verbraucher als Vertragspartner komplett außen vor. Die Entgelte für Pflege, Unterkunft und Verpflegung werden im Rahmen von Pflegesatzverhandlungen nur zwischen den Leistungserbringern und den Kostenträgern ausgehandelt. Die Pflegekassen verhandeln dabei als Sachwalter ihrer Versicherten, obwohl sie selbst lediglich die gesetzlich festgelegten Zuschüsse zahlen. Sie bestimmen so über die Portemonnaies der pflegebedürftigen Menschen, die sich nicht gegen das Ergebnis wehren können.

Die Ergebnisse dieser Verhandlungen gelten für Empfänger von Leistungen der Pflegeversicherung automatisch als angemessen. Ob diese Angemessenheit im Einzelfall auch tatsächlich zutrifft, steht jedoch dahin. So können etwa auch Kosten, die nicht unmittelbar aus dem Pflegeverhältnis entspringen, von großen Pflegekonzernen als sogenannte Overheadkosten eingepreist werden. Die können regelmäßig ebenso zu Gewinnen bei renditeorientierten Anbietern führen, wie zum Beispiel nicht weitergegebene Synergieeffekte und Einsparpotenziale.

Kostensätze werden nur selten angepasst

Auch Pflegeimmobilien sind in den Fokus von Anlegern gerückt, gezahlt wird im Endeffekt vom Verbraucher. Der leer gefegte Personalmarkt tut sein Übriges. Können Stellen über einen längeren Zeitraum nicht besetzt werden, müssten die Kostensätze eigentlich zum Wohl der Bewohnerinnen und Bewohner angepasst werden, was selten geschieht. Die Betroffenen hätten das Recht, ihre Zahlungen zu mindern, also nur noch ein angemessen herabgesetztes Entgelt zu zahlen. Das tun sie in der Regel aber nicht, weil sie Repressalien fürchten. Das bedeutet, sie werden Opfer von Qualitätseinbußen und Einsparungen, obwohl sie nach wie vor den vollen Preis entrichten.

Leider verhalten sich viele Pflegekassen in solchen Fällen eher restriktiv. So ergaben BIVA-Recherchen, dass in den vergangenen zwei Jahren in acht Bundesländern nur in einem einzigen Fall aufgrund von Pflegemängeln durch die Kasse eine Minderung vorgenommen wurde.

Das gleiche Verhalten zeigen Kassen auch, wenn Angehörige etwa den Missbrauch von zusätzlichen Betreuungskräften als Helfer in der Pflege oder der Hauswirtschaft anzeigen. Ein solches System ermöglicht es somit Anbietern, Gewinne zu generieren, ohne eine entsprechende Qualität zu bieten.

Was kann der Gesetzgeber tun, um Betroffene zu schützen?

• Sicherstellen, dass Qualitätseinbußen geahndet werden

• Ausbau des Beschwerdesystems. Vorhandene Beschwerdestellen müssen den Kunden besser kommuniziert werden, leichter erreichbar sein und mit ausreichenden Ressourcen zur Aufklärung ausgestattet werden.

• Ergebnisse von Qualitätsprüfungen verbraucherfreundlich veröffentlichen. Der Verbraucher muss befähigt werden, sich ein Bild zu machen, Angebote miteinander zu vergleichen und eine bewusste Auswahl zu treffen.

• Die Verbraucher über Betroffenenvertreter in Verhandlungen zu Leistungen, Vergütungen und Qualitätskriterien mit einbeziehen

• Versicherungen müssen als Sachwalter ihrer Versicherten stärker in die Pflicht genommen werden

Ulrike Kempchen ist Rechtsanwältin und leitet die Rechtsabteilung der Bundesinteressenvertretung für alte und pflegebetroffene Menschen (BIVA)