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Behinderung

Menschenrechtsinstitut: Inklusive Bildung ist noch lange nicht erreicht




Gelebte Inklusion: Gian Luca Kahle (19), ein junger Mann mit Down-Syndrom, arbeitet als Bundesfreiwilliger (Archivbild).
epd-bild/Dieter Sell
Das UN-Übereinkommen zur besseren Förderung von Meschen mit Behinderungen trat vor zehn Jahren in Deutschland in Kraft. Anders als die Politik ziehen die meisten Verbände eine eher zurückhaltende Bilanz. Auch die Entwicklungshilfe meldete sich zu Wort.

Die UN-Behindertenrechtskonvention war in Deutschland am 26. März 2009 in Kraft getreten. Die Bundesrepublik hat sich damit verpflichtet, das "Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen" umzusetzen. Kernziel ist die vieldiskutierte Inklusion. Sozial- und Behindertenverbände zogen zum Jahrestag eine durchwachsene Bilanz der in den vergangenen zehn Jahren erfolgten Reformen. Bei der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe komme "nur eingeschränkte Feierlaune auf", sagte Geschäftsführer Martin Danner dem Evangelischen Pressedienst (epd). Es seien zwar Schritte in die richtige Richtung erkennbar, zum Beispiel mit dem Bundesteilhabegesetz, sagte Danner.

Doch die Liste der Lebensbereiche, in denen noch Handlungsbedarf besteht, sei lang, betonte der Fachmann. Er nannte die Felder Bildung und Ausbildung, Teilhabe am Arbeitsleben und auch die Barrierefreiheit, zu der auch private Unternehmen verpflichtet werden müssten. "Dazu kommt auch Nachholbedarf etwa beim Gewaltschutz, der Rehabilitation, beim Diskriminierungsschutz und auf dem Feld der Selbstbestimmung."

Diakonie: Sind lange noch nicht am Ziel

Auch die Sozialverbände sahen skeptisch auf den Jahrestag. Diakonie-Vorstand Maria Loheide sagte: "Eine inklusive Gesellschaft haben wir noch lange nicht." Besonders in den Schulen, in der Ausbildung und in der Kinder- und Jugendhilfe sei zu wenig erreicht worden.

Die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Verena Bentele, erneuerte die zentrale Forderung ihres Verbandes, private wie öffentliche Anbieter von Waren und Dienstleistungen zur Barrierefreiheit zu verpflichten. Nur zehn Prozent aller Hausarztpraxen etwa seien für alle zugänglich, kritisierte sie. Ähnlich äußerte sich der AWO-Bundesverband. "Menschen mit Behinderungen sehen sich tagtäglich mit kaum zu überwindenden Hindernissen konfrontiert", bilanzierte Vorstandsmitglied Brigitte Döcker.

Gewerkschaften werben für inklusive Schule

Die Bilanz des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) nach zehn Jahren Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) in der Bildung fällt ebenfalls ernüchternd aus. "Zwar haben einige Bundesländer Anstrengungen unternommen, um die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu verbessern. Unter dem Strich ist die UN-BRK im Bildungsbereich aber zu zögerlich und ohne großen Elan umgesetzt worden", sagte Ilka Hoffmann, GEW-Vorstandsmitglied für Schule. Aktuell erlebe man Stillstand und in einigen Ländern sogar einen Rückwärtsgang statt Weiterentwicklung.

Die stellvertretende DGB-Chefin Elke Hannack sagte, in den Schulen fehle Personal, so dass die individuelle Förderung von Kindern und Jugendlichen oft auf der Strecke bleibe. "So produziert unser Bildungssystem weiter unnötig Bildungsverlierer." Auch Kinder früh -auf Förderschulen zu schicken, hält Hannack für schädlich.

Auch Hoffmann machte deutlich, dass es zu wenig Bereitschaft gebe, mehr Geld zu investieren und in allen Bundesländern Strukturveränderungen anzupacken. Perspektivisch müssten die Sondereinrichtungen für Menschen mit Behinderungen überwunden werden. In manchen Bundesländern seien selbst zögerliche Ansätze, die UN-BRK umzusetzen, nach Regierungswechseln wieder zurückgenommen worden. "In Nordrhein-Westfalen, Niedersachen und Baden-Württemberg wird jetzt sogar der Rückwärtsgang eingelegt." Das sei ein Armutszeugnis.

Der Leiter der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention des Deutschen Instituts für Menschenrechte, Valentin Aichele, kritisierte, dass der gemeinsame Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderungen in Deutschland immer noch nicht die Regel sei. "Die Politik muss endlich die Rahmenbedingungen für eine qualitativ hochwertige inklusive Bildung schaffen."

"Pakt für Inklusion" gefordert

Mit einem "Pakt für Inklusion" könnte der Bund die Länder langfristig beim Aufbau der inklusiven Schule unterstützen, sagte Aichele. Es sei deren Aufgabe, Gesamtkonzepte zum Aufbau eines inklusiven Schulsystems auszuarbeiten, die konkrete Maßnahmen und zeitliche Vorgaben enthalten. Das bedeutet auch, personelle wie finanzielle Ressourcen umzuschichten.

Der Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Berufsbildungswerke, Tobias Schmidt, sagte, der Weg zur inklusiven Gesellschaft sei trotz vieler Fortschritte noch weit. "Berufliche Bildung und Ausbildung sind für viele Menschen weiterhin keine Selbstverständlichkeit."

So habe nicht jeder, der eine oder mehrere Teilhabeeinschränkungen vorweisen könne, auch einen Reha-Status. Viele junge Menschen litten an psychischen Problemen, Suchterkrankungen oder sozialen Benachteiligungen, die nicht immer als Behinderung anerkannt werden. "Gerade für diese Jugendlichen ist es aber wichtig, jemanden zu haben, der sie begleitet, ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen."

Ruf nach inklusiver Entwicklungshilfe

Auch Entwicklungshilfeorganisationen warben für mehr Unterstützung für Behinderte in Entwicklungsländern. "Inklusive Entwicklungspolitik muss zum Standard werden", teilte der Bundesverband entwicklungspolitischer und humanitärer Nichtregierungsorganisationen, Venro, in Berlin mit. Die Konvention müsse auch in der Entwicklungszusammenarbeit konsequent umgesetzt werden.

"Frauen, Männer und Kinder mit Behinderungen profitieren derzeit zu wenig von der Entwicklungszusammenarbeit", erklärte Bernd Bornhorst, Vorstandsvorsitzender von Venro. Menschen mit Behinderungen machten rund 15 Prozent der Weltbevölkerung aus, hieß es weiter. "Das ist fast jeder siebte Mensch." 80 Prozent von ihnen lebten in Armut.

Jana-Sophie Brüntjen, Dirk Baas


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