sozial-Thema

Bundesteilhabegesetz

Heftiges Knirschen im Reformprozess




Wohngruppe des Gesundheitspflegedienstes Helle Mitte in Berlin
epd-bild/Rolf Zöllner
Die Unterstützung von Menschen mit Behinderung wird vom Kopf auf die Füße gestellt. Das Mammutprojekt Bundesteilhabegesetz will mehr individuelle Freiräume schaffen. Doch Experten bezweifeln, dass die nächste Reformstufe 2020 rechtzeitig umsetzbar ist.

Es ist die größte Sozialreform der vergangenen Jahrzehnte, und sie vollzieht sich seit Dezember 2016 weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit. Die Rede ist von der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG), das Menschen mit Behinderung eine selbstbestimmtere Lebensführung ermöglichen will. Doch ob das fristgerecht und buchstabengetreu so funktioniert, wie vom Gesetzgeber erdacht, ist mehr als fraglich. Bei Betroffenen wie auch bei den Einrichtungen der Behindertenhilfe dominiert die Skepsis. Der Zeitdruck bis zum Start der nächsten Reformstufe 2020 steigt - und die Stimmung in der Branche ist schlecht.

Das BTHG will die Unterstützung für Menschen mit Handicap allein an ihren individuellen Bedürfnissen ausrichten, Stichwort Personenzentrierung. Dazu können künftig Einzelbausteine aus verschiedenen professionellen Hilfs- und Betreuungsangeboten ausgewählt werden. Die Vorwerker Diakonie in Lübeck nutzt dazu ein anschauliches Bild: "Die Grundidee gleicht der einer Reisebuchung: Neben All-inclusive-Pauschalurlaub gibt es ja auch individuelle Angebote, bei denen Flug, Unterkunft, Essen, Sport- oder Wellnessangebote je nach Bedarf und Verfügbarkeit individuell 'gebucht' werden können."

Individueller Teilhabeplan ist Pflicht

Für jede betroffene Person muss ein umfassender Teilhabeplan erstellt werden, der sich am individuellen Unterstützungsbedarf ausrichtet, egal, wie viele unterschiedliche Träger von Hilfsangeboten letzten Endes daran beteiligt sind. Wolfram Teschner, Geschäftsführer der Caritas Wohn- und Werkstätten Niederrhein (CWWN), sagte der Zeitschrift "caritas in nrw", derzeit gebe es mehr Fragen als Antworten.

Künftig werden sämtlich verfügbaren Leistungen in zwei Hilfearten unterteilt - und, auch das ist neu, getrennt finanziert. Unterschieden werden die Hilfe zum Lebensunterhalt und die Fachleistungen zum Bewältigen des Lebens. Auf diese Weise sollen Betroffene frei entscheiden können, ob sie alleine, in einer Wohngemeinschaft oder in betreuten Wohnungen etwa von Diakonie oder Caritas leben möchten.

Zu den Fachleistungen, die individuell ausgesucht werden können, gehören zum Beispiel therapeutische Angebote wie Ergotherapie, heilpädagogisches Reiten oder eine pädagogische Assistenz. Wer welche Unterstützung finanziert bekommt, hängt künftig allein vom persönlichen Bedarf ab.

In der Folge dieser Reform müssen Menschen mit Behinderung künftig wie andere Sozialhilfeempfänger auch ihre Unterstützung für Wohnen und Leben bei den Kommunen beantragen. Leben sie in einer Wohneinrichtung, dann erhalten sie vom Träger jeden Monat eine Rechnung, die sie selbst bezahlen müssen. Für alle anderen Betreuungsleistungen sind die Sozialträger und Fachbehörden zuständig.

Unterstützungsbedarf wird standardisiert ermittelt

Künftig gibt es dafür in jedem Bundesland ein standardisiertes Verfahren zur Ermittlung des persönlichen Unterstützungsbedarfes, das auf dem bundesweit gültigen Teilhabe- und Gesamtplanverfahren beruht. Alle Leistungsträger, also Krankenkassen, Rentenversicherungen und Sozialhilfeträger, beraten gemeinsam, welche Hilfen jemand braucht.

Dass das ein gewaltiges Reformprojekt ist, zeigen allein die Zahlen für Nordrhein-Westfalen: Zu regeln sind die Vertragsdetails für weit über 100.000 Menschen, die Unterstützung beim Wohnen benötigen, und für 70.000 Personen, die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben bekommen sollen. Geschätztes Finanzvolumen jährlich: Vier Milliarden Euro.

Was am grünen Tisch noch halbwegs machbar erscheint, hat jedoch erhebliche Tücken in der Praxis. So müssen die reinen Wohnkosten von den anderen Leistungen der Eingliederungshilfe akribisch getrennt werden. Das klingt bürokratisch - und ist auch.

In Gemeinschaftseinrichtungen sind nicht nur die persönlichen Wohnräume der Menschen mit Handicap, sondern auch Gemeinschaftsräume, Therapieräume und etwa Räume für das Personal zu finanzieren. Die Betriebs- und Investitionskosten jeder Fläche müssen auf den einzelnen Bewohner umgerechnet und dem zuständigen Kostenträger monatlich in Rechnung gestellt werden. Das Bundesarbeitsministerium empfiehlt den Einrichtungen, eine Aufteilung in Wohnflächen (Wohn- und Schlafzimmer, Bäder), Fachleistungsflächen (Therapieräume, Hobby- und Veranstaltungsräume) und Mischflächen (Treppenhäuser und Flure) vorzunehmen.

Uwe Mletzko, Vorsitzender des Bundesverbandes evangelischer Behindertenhilfe (BeB), spricht von einem riesigen Aufgabenberg: Für diesen Paradigmenwechsel müssten "ganz neue Instrumente der Bedarfserhebung und ihr Einsatz im Teilhabe- und Gesamtplanverfahren geschaffen werden". Diese Neujustierungen führten zu vielfältigen Herausforderungen an die Haltung, die Kommunikation und die Fachlichkeit der Mitarbeitenden der Leistungsträger und der Leistungserbringer. "Aber auch die Leistungsberechtigten und, sofern vorhanden, ihre gesetzlichen Betreuerinnen und Betreuer sind gefordert." Mletzko weiter: "Die Umstellung des Systems ist ein Kraftakt und bindet umfängliche Ressourcen bei den Trägern."

Gegenüber dem epd erläuterte der Fachmann: "Viele Regelungen im Gesetz sind unklar, müssen verstanden werden, auf Machbarkeit überprüft werden und in die strategische Neuausrichtung übersetzt werden." Viele Fragen seien noch nicht geklärt, weil in zahlreichen Bundesländern noch keine Landesrahmenverträge abgeschlossen seien, Bedarfserhebungsinstrumente noch nicht zur Verfügung stünden und auch die Ämter vor Ort an vielen Stellen nicht ausreichend vorbereitet seien.

Direktor Kessmann ist skeptisch

Heinz-Josef Kessmann, Diözesancaritasdirektor aus Münster, sieht die Reformen ebenfalls mit einer gewissen Skepsis. Er mache sich "nach wie vor Sorgen, dass gerade für die Menschen mit mehrfachen schweren Behinderungen keine geeigneten Lösungen gefunden werden". Viel werde davon abhängen, "dass die Bedarfserhebung und die Teilhabeplanung durch die Landschaftsverbände tatsächlich im Interesse der betroffenen Menschen mit Behinderung ablaufen", sagte er dem epd.

Nachdem der Landesrahmenvertrag in Nordrhein-Westfalen inhaltlich bis auf Kleinigkeiten ausverhandelt sei, werde es nun darum gehen, das Vereinbarte in praktisches Tun umzusetzen. Trotz aller Unsicherheiten und allen Verwaltungsaufwands scheine der Landesrahmenvertrag eine gute Grundlage für die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe im Sinne von mehr Selbstbestimmung und Personenzentrierung zu sein.

Einen Zuwachs an Personal bestätigt der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL), um künftig überhaupt arbeitsfähig zu sein. "Neue Aufgaben entstehen insbesondere wegen des Grundsatzes der Personenzentrierung. Viel genauer als bislang soll überlegt werden, wie die Selbstständigkeit der Menschen gefördert werden kann", sagte der Sozialdezernent des Kommunalverbandes, Matthias Münning, auf Anfrage. "Was kann der Mensch, und was braucht er? Das sind die Leitfragen, die ein neues System erforderlich machen. Und am Anfang macht eine Umstellung Arbeit beim Einführen", betont der Fachmann.

Zu den Kosten machte er keine Angaben: "Wie sich das finanziell genau auswirkt, wird erst untersucht." Der Gesetzgeber gehe davon aus, dass durch die bessere Steuerung auch Kosten eingespart würden, sagte Münning.

Er zeigte sich zuversichtlich, dass das Ziel der Reformen pünktlich ereicht wird. "Es gibt viel Arbeit und es gibt viele Detailfragen. Von Problemen kann man deshalb aber nicht sprechen." Derzeit sehe der LWL nichts, was nicht auch gelöst werden könne. Das Gesetz sei nicht perfekt, doch "von Konstruktionsfehlern kann deswegen nicht die Rede sein".

Die Caritas zeigt sich zurückhaltend. Die Verwaltungskosten würden auf jeden Fall steigen. Auch, weil nach ihren Angaben allein beim LWL rund 100 neue Stellen entstehen, um den künftigen Hilfebedarf für jeden einzelnen Bewohner und Beschäftigten mit Behinderung zu klären.

Stimmung in der Branche ist schlecht

Eher pessimistisch ist die Stimmung in der betroffenen Branche. Zumindest legen das die Ergebnisse einer Studie des Wirtschaftsprüfungsunternehmens Curacon (Münster) zu. Eine Umfrage bei den Trägern der Eingliederungshilfe kommt zu dem Ergebnis: "Spät verabschiedete Ausführungsgesetzte, noch ausstehende Landesrahmenverträge, hohe Aufwände im Vorbereitungsprozess und Zweifel an der Erreichung der kommunizierten Ziele des BTHG führen eher zu Verstimmungen unter den Studienteilnehmern." Im Vergleich zur Befragung 2018 habe "sich die Bewertung des BTHG nochmals verschlechtert", schrieben die Autoren Jan Appel und Simon Odenwald.

Die beiden Experten kommen zu dem Fazit: "Die Studienteilnehmer sind größtenteils auf einem guten Weg der Vorbereitung. Auf diesem Pfad haben sie aber in den nächsten Monaten noch einige steinige Abschnitte vor sich, insbesondere vor dem Hintergrund der in vielen Bundesländern noch laufenden Landesrahmenvertragsverhandlungen."

Für Wolfgang Teschner sind genau diese Gespräche der Knackpunkt im laufenden Reformprozess: Weil noch nicht in allen Bundesländern Ergebnisse vorliegen, die landesweit einheitliche Regelungen zum Ziel haben, kämen die Einrichtungen der Behindertenhilfe unter Zugzwang.

Sehr enger Zeitplan

Teschner zufolge ist es mehr als fraglich, dass der Zeitplan zur Umsetzung eingehalten werden könne. Dazu müssten zunächst bei den Rahmenplanverhandlungen Kompromisse gefunden, die sich daraus ergebenden Vertragsformulare entworfen und dann noch mit allen betroffenen Personen sogenannte Teilhabegespräche geführt werden.

Diese Probleme auf Landesebene bestätigt auch die Lebenshilfe. "Die Vorbereitung zum Trennen der Leistungen sind vielerorts noch nicht so weit, wie es für eine Gestaltung der neuen Leistungsbeziehungen erforderlich wäre", sagte Bundesgeschäftsführerin Jeanne Nicklas-Faust dem epd. Der hohe Zeitdruck in der Umsetzung des Systemwechsels sei von Anfang eine Herausforderung gewesen: "Das zeigt sich aktuell auch in der Umsetzung in den Ländern und bei der Trennung der Leistungen." Noch lasse sich aber kein Urteil über die Reformen fällen: Das Gesetz werde in seinen unterschiedlichen Teilen erst nach und vollzogen, sagte Nicklas-Faust: "Daher ist aktuell keine abschließende Bewertung möglich."

Für Wolfram Teschner führt das BTHG zu einem Übermaß an Bürokratie. Der eigentlich gute Ansatz, mehr Teilhabe zu ermöglichen, verkehre sich in sein Gegenteil, sagte der Geschäftsführer.

"Die Umstellung wird auf jede Fall einen erhöhten Verwaltungsaufwand bedeuten", ist auch Uwe Mletzko überzeugt. Vieles werde künftig davon abhängen, wie praktikabel die Regelungen umgesetzt würden, wie personenzentriert und auch mit wie viel Vertrauen in die Expertise der Einrichtungen und Dienste. Viele Kolleginnen und Kollegen hätten die Sorge, "dass der große Aufwand real keine Verbesserung der Lebenssituation der Leistungsberechtigten bringt". Manche Kritiker befürchteten gar Verschlechterungen. Fakt sei, so Mletzko: "Die neuen Gesamt- und Teilhabeplanverfahren sind kompliziert und wenig erprobt."

Dirk Baas