sozial-Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,




Dirk Baas
epd-bild/Heike Lyding

die Corona-Pandemie hat sämtliche soziale Arbeit in ihren Grundfesten erschüttert - von der Pflege bis hin zur Behindertenhilfe und Obdachlosenarbeit sind alle Träger betroffen. In Zeiten der Kontaktsperren traten viele Schwächen ungefiltert zutage, vor allem bei der Digitalisierung. Hier besteht gewaltiger Nachholbedarf. Doch wie der Weg zu mehr digitalen Angeboten und zur Vernetzung verlaufen soll, ist noch weithin unklar. epd sozial beginnt heute eine Serie, die die vorhandenen Ansätze bei den Trägern darstellt und Experten mit ihren Visionen und Forderungen zu Wort kommen lässt - zum Auftakt AWO-Chef Wolfgang Stadler.

Seit Jahren gibt es unüberhörbare Kritik von AWO, Diakonie, Caritas & Co an der Berechnung und der Höhe der Hartz-IV-Regelsätze. Jetzt beschloss die Bundesregierung zwar eine Erhöhung zum Jahreswechsel um in der Regel sieben Euro, doch die Sozialverbände halten das erwartungsgemäß für völlig unzureichend. Gerade mit Blick auf die Folgen von Corona für die Ärmsten in der Bevölkerung müsse deutlich mehr Hilfe bezahlt werden, heißt es - das Thema bleibt also aus gutem Grund weiter auf der Agenda.

Wann immer es darum geht, Misshandlungsspuren bei Mädchen oder Jungen zu sichern, kommen die Kinderschutzambulanzen ins Spiel. Doch trotz immer neuer Gewaltskandale sind diese wichtigen Einrichtungen oft unterfinanziert. Ohne Spendengelder hätten viele schon dichtgemacht. Ein Situationsbericht.

Für ihre Arbeit hat Alke Meyer jüngst einen Preis der Vereinten Nationen bekommen - im Wettbewerb "Soziale Natur - Natur für alle". Sie pflegt und gestaltet seit zehn Jahren den zauberhaften Garten im Kinderhospiz "Löwenherz" bei Bremen. "Meine Philosophie ist, einen naturnahen, nachhaltigen Garten zu schaffen, der die Menschen erfreut", sagt die 58-Jährige. Und das tut er. Martina Schwager weiß davon zu berichten.

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Hier geht es zur Gesamtausgabe von epd sozial 34/2020.

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Dirk Baas




sozial-Thema

Digitalisierung

Mit Tempo ins Online-Zeitalter - wie gelingt das der Sozialbranche?




Sinnbild der Digialisierung: ein Roboter für die Altenpflege
epd-bild/Guido Schiefer
Die soziale Arbeit der Zukunft wird vernetzter, digitaler, flexibler sein. Da scheinen sich alle Experten einig. Die Corona-Pandemie hat der Branche einen Digitalisierungsschub gegeben - aber zugleich viele Probleme offengelegt. Wie begegnen die Sozialverbände der Herausforderung des digitalen Wandels? Wo gibt es Hürden? epd sozial hat nachgefragt.

"Die sozialen Auswirkungen der Digitalisierung sind immens. Das Digitale in den Dienst der Gesellschaft zu stellen, ist ein großer Gestaltungsauftrag unserer Zeit." Große Worte - von Autoren des Beratungsunternehmens Phineo (Berlin), das den Report "Digitalisierung braucht Zivilgesellschaft" vorgelegt hat. Die Experten wollen die großen Potenziale aufzeigen, die der digitale Wandel in der sozialen Arbeit bringen kann: mehr bürgerschaftliches Engagement, die Überwindung sozialer Benachteiligungen und einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Und weiter heißt es da an die Adresse der Verbände, Sozialträger und Stiftungen: "Wir sind überzeugt: Der Dritte Sektor muss und sollte nicht alles digitalisieren, aber er braucht eine Strategie fürs digitale Zeitalter." Genau die fehlt aber noch, auch wenn es längst Versuche einzelner Branchen gibt, die Digitalisierung weiter voranzubringen.

"Um das System Pflege 'auf digital' umzustellen, reicht kein Drehen an einzelnen Stellschrauben", heißt es in einem Positionspapier mehrerer Fachverbände, die sich anschicken, die Pflegebranche ins nächste Jahrtausend zu katapultieren: "Trotz punktueller Fortschritte steht die Digitalisierung im Pflegesektor verglichen mit anderen Bereichen noch am Anfang. Um die Potenziale der Digitalisierung nachhaltig freizusetzen, braucht es zeitnah strategische Weichenstellungen", heißt es in dem vom Verband der diakonischen Dienstgeber in Deutschland (VdDD) initiierten Papier.

Klare Strategien nur selten erkennbar

Das klingt schlüssig, doch für andere Bereiche als der Pflege ist eine solche grundlegende Strategie zur Bewältigung des digitalen Umbaues noch nicht in Sicht. Es existieren allenfalls vereinzelte Ansätze, sich mit der Digitalisierung der verschiedenen Arbeitsbereiche zu befassen. Als Beispiel sei hier die Jahreskampagne 2019 der Caritas genannt ("Sozial braucht digital") oder auch die neueste Initiative des Deutschen Roten Kreuzes (Aufbau der "DRK-Social Innovation Community").

Notgedrungen mussten die Träger in der Corona-Pandemie viele ihrer Hilfs- und Beratungsangebote unter Zeitdruck völlig neu aufsetzen - und ins Internet verlegen. Was zunächst nur als Provisorium gedacht war, hat sich inzwischen zwar verstetigt. Aber die Wohlfahrtsverbände wollen ihre Angebotsqualität aufrechterhalten oder noch verbessern, sie müssen sich und ihr Personal fitmachen für einen gewaltigen digitalen Umbauprozess.

Caritas-Präsident Peter Neher sieht das jedenfalls so. Er sagte epd sozial: "Wir brauchen eine Personalentwicklungsoffensive in Sachen Digitalisierung - und zwar auf allen Ebenen." Denn: "Unsere Beraterinnen und Berater müssen trainieren, wie sie sowohl in Präsenzterminen als auch digital beraten können." Dazu bräuchten sie zum Beispiel Sicherheit im Umgang mit Konferenz-Software. "Bei all dem müssen wir auch unsere Ehrenamtlichen mitnehmen, die vor Ort unverzichtbar sind."

VdK: Veränderungen langfristig nutzen

"Die Digitalisierung hat in den vergangenen Monaten einen enormen Schub bekommen", bestätigt Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbandes VdK. Krankschreibung und Rezepte per Telefon, Videokonferenzen als Zugang zum Gesundheitssystem und zur Verwaltung - "während der Corona-Krise ging vieles, was vorher als unmöglich galt". Jetzt komme es darauf an, die schnellen Veränderungen langfristig zu nutzen und in die richtigen Bahnen zu lenken: "Die Digitalisierung ist eine Chance, wenn von vornherein an alle gedacht wird. Digitale Lösungen müssen für alle zugänglich sein. Das Schlagwort ist auch hier Barrierefreiheit, vor allem online", sagte Bentele epd sozial.

Diakonie-Präsident Ulrich Lilie nimmt einen anderen Aspekt ins Visier: den der digitalen Chancengleichheit. Die Pandemie verdeutliche wie unter einem Brennglas ungelöste Probleme der Gesellschaft: "Nicht teilhaben zu können, ist in einer digitalen Gesellschaft hochriskant", sagt Lilie. Ein Laptop oder Smartphone zu besitzen und Zugang zu schnellem Internet zu haben, sei eben nicht "nice to have". Es sei eine Grundvoraussetzung, um nicht endgültig abgehängt zu werden.

"Gerade zu Beginn der Corona-Krise gab es eine wahre Flut neuer Digitalinitiativen, auch im sozialen Sektor", berichtet DRK-Präsidentin Gerda Hasselfeldt. Doch statt in erster Linie auf übereilt aus dem Boden gestampfte Entwicklungen zu setzen, sei es deutlich gewinnbringender, die Modernisierung der Wohlfahrtspflege im Digitalen langfristiger und nachhaltiger zu gestalten.

DRK: Erste Ansätze gibt es bereits

Dass das gelinge könne, zeigten die etwa die Online-Angebote der DRK-Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer. Hasselfeldt verwies gegenüber epd sozial auf den Einsatz der vom DRK mitentwickelten App "mbeon". Über die können sich Zugewanderte mit ihren Fragen direkt an Migrationsberaterinnen und -berater wenden. "In diesem Jahr hat sich die Zahl der angeschlossenen Beratungsstellen dann mehr als verdoppelt", heißt es beim DRK.

Das Beispiel belegt aus der Sicht der Präsidentin, dass nicht zwingend eine gänzlich neue Entwicklung erforderlich sei. Mitunter könnten auch bereits bestehende und gut funktionierende digitale Angebote weiter ausgebaut werden können. "Solche auf Langfristigkeit und Nachhaltigkeit ausgerichteten digitalen Strukturen zu schaffen, ist für das DRK zukunftsweisend", betonte Hasselfeldt.

Sämtliche Einrichtungen und Dienste des Sozial- und Gesundheitswesens müssen sich in den kommenden Jahren von Grund auf verändern, um ihre Hilfen auch digital transformiert anbieten zu können. Dabei geht es nicht nur darum, mal eben eine neue Software zu nutzen und digitale Endgeräte anzuschaffen. Die gesamte soziale DNA wird sich ändern müssen, Strukturen und Prozesse müssen sich wandeln, ein Prozess, der nicht zuletzt wegen der Lehren aus Corona eine erhebliche Dynamik gewinnen dürfte. Auch Ulrich Lilie sagt: "Viele Abläufe innerhalb der Diakonie werden sich ändern, etwa durch mobiles Arbeiten. Der Digitalisierungsprozess beschleunigt sich, Prioritäten verschieben sich."

Das eigene Selbstverständnis klären

Auch wird zu klären sein, welche Aufgaben künftig der Mensch übernehmen soll. Und welche Computer und Roboter. Damit ist das Selbstverständnis des eigenen Tuns tangiert, wenn Routinetätigkeiten und Prozesse zunehmend von integrierten Computersystemen erledigt werden - auch wenn etwa die Robotik in der Pflege noch eher Zukunftsmusik ist.

Und natürlich muss dringend bestimmt werden, welche Fähigkeiten zukünftige Fachkräfte haben müssen, um in einer digital vernetzten Arbeitswelt zu bestehen. Welche Anforderungen stellt der digitale Wandel an die Kompetenzen von Fachkräften, wie beispielsweise Erziehende oder Pflegefachkräfte? Und welche Kanäle nutzen Ratsuchende?

Klar sein dürfte schon heute, dass die Sozialbranche ihre digitale Transformation nicht ohne staatliche Hilfe hinbekommt. "Die öffentliche Hand ist gefordert, den Digitalisierungsprozess in der Freien Wohlfahrt angemessen zu unterstützen." Bei Gerda Hasselfeldt klingt das aus eigener Erfahrung so: Sechs Millionen Euro, die der Bund in zwei Jahren für digitalen Wandel in sechs Verbänden, darunter das DRK, bereitgestellt habe, würden der Größe der Aufgabe nicht im Ansatz gerecht. "Wer den Sozialstaat weiter modernisieren und zukunftsfähig aufstellen möchte, der sollte zu höheren Investitionen bereit sein."

Allzu viele Wegmarken gibt es noch nicht, und das Terrain ist unübersichtlich. Jedes soziale - und eben auch spezialisierte - Arbeitsfeld muss die digitale Transformation unter eigenen Vorzeichen angehen.

Wie das geschehen könnte, beschreibt epd sozial in den nächsten Ausgaben in einer Serie. Sie soll die Lehren aus Corona sichtbar machen, die Motive, die Ziele und die Herangehensweise der Träger und ihrer Fachverbände ausleuchten, wenn Reformen angegangen werden. Wo das möglich ist, sollen Experten zu Wort kommen, die ihre Sicht, ihre Visionen vom Aufbruch in neue Arbeitswelten schildern.

Dirk Baas


Digitalisierung

Dokumentation

"Prozess, der sich auf Aktivitäten und Struktur auswirkt"




Nutzung einer App zur Blutzuckermessung
epd-bild/Heike Lyding
Welche Chancen bietet die Digitalisierung dem sozialen Sektor? Das Beratungsunternehmen Phineo hat den Report "Digital dabei!? - So gelingt der digitale Wandel des sozialen Sektors" zusammengestellt, der als Kompass dienen soll. Er zeigt Strategien auf und präsentiert erfolgreiche Beispiele. epd sozial dokumentiert Kernaussagen in Auszügen.

Die Experten der auf die Sozialbranche spezialisierten Beratungsfirma Phineo stellen ausdrücklich die Vorzüge der Digitalisierung in den Vordergrund. Innovationsdruck bietet nach ihrer Auffassung erhebliche Chancen. Denn Digitalisierung könne auch heißen: mehr Teilhabe, effektivere Arbeitsabläufe und innovativere Geschäftsmodelle. Hier die wichtigsten Passagen des Reports:

"Der Report skizziert Möglichkeiten, wie Akteure aus dem sozialen Bereich digitaler werden können, berichtet, wie es gelingt, Digitalisierung als Tool zur Organisationsentwicklung zu nutzen und diskutiert verschiedene Digitalisierungsstrategien, für Verbände und Stiftungen ebenso wie für Vereine und Initiativen.

Zielsetzung und Vorgehen des Reports

Der Report will:

+ Digitalisierung als vielschichtigen Veränderungsprozess für den Dritten Sektor einordnen und als Begriff schärfen.

+ Digitalisierung als Gestaltungsaufgabe der Zivilgesellschaft platzieren und konkrete Digitale Gestaltungsfelder für gemeinnützige Organisationen benennen.

+ Beispiele beschreiben, wie Nonprofits in Deutschland und international ihre digitale Gestaltungsaufgabe mit Leben füllen.

+ Stolpersteine identifizieren.

+ Lösungsansätze diskutieren, wie diese Barrieren durch Kooperation und Unterstützung durch FörderInnen überwunden werden können.

Der Report arbeitet empirisch, qualitativ, explorativ und anekdotisch. (...) Hier geht es darum, wie Digitalisierung den Kernauftrag einer Non-Profit verändert. Der Report fokussiert auf "Digitalisierung gestalten", ohne aber "Digitalisierung nutzen" außen vor zu lassen.

Digitale Gestaltungsfelder der Zivilgesellschaft (...):

Zugang zu Netz und Technik schaffen

Die Grundvoraussetzung für digitale Teilhabe ist technische Ausstattung. Mangelt es an Anschluss, Netz, Endgerät und Software, bleiben Teile der Bevölkerung außen vor. Das birgt nicht nur für den Einzelnen die Gefahr neuer Gerechtigkeitslücken, sondern auch für ganze oft ohnehin schon benachteiligte Gruppen. Der Faktor Zeit verschärft das Problem: Wer heute ausgeschlossen wird, läuft Gefahr, in Zukunft den Anschluss vollständig zu verlieren. In einer chancengerechten, digitalen Gesellschaft hat jede/r Zugang zu der notwendigen Technologie, die Teilhabe ermöglicht.

Digitale Kompetenzen vermitteln

Unter digitaler Kompetenz wird die Häufigkeit, Selbstverständlichkeit und Bewusstheit verstanden, mit der Menschen digitale Technologien in Alltag und Beruf nutzen. Es geht neben Programmierkenntnissen auch um emotionale und soziale Fähigkeiten, die unverzichtbar für Lernen und Teilhabe in einer digitalen Gesellschaft sind. Es kommt darauf an, dass relevante digitale Kompetenzen über alle Schichten, Altersgruppen und Berufsfelder hinweg erlernt werden können.

Datenbasierte Innovationen für die Gesellschaft ermöglichen

Daten sind die Währung des digitalen Zeitalters: Sie bilden die Grundlage für neue Geschäftsmodelle und Anwendungen. Außerdem schaffen gut aufbereitete Daten Transparenz und Vertrauen - allerdings nur für jene, die Zugriff haben und mit Daten umzugehen wissen. Entsprechend sind die gemeinwohlorientierte Nutzung und Bereitstellung von Daten und Algorithmen eine gesamtgesellschaftliche Gestaltungsaufgabe.

Auszug aus den Erkenntnissen:

+ In welcher Form sich Verbände engagieren, hängt von zwei Faktoren ab: Erstens, in welchem Umfang ihr Geschäftsfeld bereits jetzt schon von Digitalisierung betroffen ist, und zweitens von der Veränderungsbereitschaft eines Verbandes.

+ Verbände können Digitalisierung thematisieren und Unterstützung bieten. Dabei nehmen sie externe wie interne Impulse auf und geben genauso auch Impulse an ihre Mitglieder und als Vertretung ihrer Mitglieder an Politik und andere AkteurInnen. Die eigentliche digitale Gestaltungsaufgabe liegt aber in der Regel bei den einzelnen Vereinen, Stiftungen und Wohlfahrtsorganisationen.

+ Es braucht Mut, sich auf das neue Thema Digitalisierung einzulassen. Es braucht Ausdauer, da der Weg zur Lösung erst noch auf der Karte eingezeichnet werden muss. Es braucht Menschen, die die Schnittstelle zwischen dem eigentlichen Thema der Organisation und Digitalisierung denken können und wollen.

+ Es braucht auch Mut zu investieren, und zwar nicht nur in die Technik, sondern vor allem in die eigene Organisation. Digitalisierung sollte dabei nicht als einzelnes Projekt verstanden werden, sondern als ein organisationaler Prozess, der sich auf die einzelnen Aktivitäten genauso auswirkt wie auf die Strategie."



Digitalisierung

Interview

AWO: Politik muss innovative Infrastruktur dauerhaft fördern




Wolfgang Stadler
epd-bild/AWO
Die Arbeiterwohlfahrt hat sich nach den Aussagen ihres Bundesvorsitzenden Wolfgang Stadler schon länger auf den Weg des digitalen Wandels gemacht. Nun müsse der Reformprozess auch wegen Corona beschleunigt werden, sagt der AWO-Chef im Interview. Wichtig sei es, die neuen digitalen Angebote für jedermann nutzbar zu machen - eine komplexe Aufgabe.

Der Bundesvorsitzende der Arbeiterwohlfahrt, Wolfgang Stadler, berichtet, die Corona-Pandemie habe bei der Digitalisierung "zu Kompromissen gezwungen, die langfristig nicht akzeptabel sind". Jetzt müssten dauerhafte Strukturen etwa in der Onlineberatung geschaffen werden. Dazu brauche es staatliche Hilfen für die Verbände, auch "um Dinge ausprobieren zu können und eine positive Lern- und Fehlerkultur zu entwickeln". Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Herr Stadler, was ist zu tun in Sachen Digitalisierung angesichts der Corona-Pandemie?

Wolfgang Stadler: Zunächst möchte ich sagen, dass der digitale Wandel der Gesellschaft weder ein Corona-bedingtes Phänomen noch ein neues Thema auf unserer Agenda ist. Aber die Pandemie hat uns eine ungewohnte Innovationsschnelligkeit abverlangt, die uns herausgefordert und gestärkt hat. Bereits begonnene Veränderungsprozesse haben schlagartig an Bedeutung gewonnen und Fahrt aufgenommen. Experten und Expertinnen der AWO für digitale Themen waren plötzlich mehr denn je gefragt.

epd: Welche Schwächen hat die Pandemie offengelegt? Wo besteht der größte Nachholbedarf?

Stadler: Es wurden unterschiedliche Probleme deutlich, die nur teilweise in den vergangenen Wochen und Monaten behoben werden konnten. Die beziehen sich zum Beispiel auf die Refinanzierung unserer Angebote. So musste bei manchen Dienstleistungen, die umgestellt wurden, zunächst geklärt werden, ob auch die digitale Variante in den Förderrahmen fällt. Viele Angebote, die für die Menschen in ihren Sozialräumen wichtig sind, standen deshalb zwischendurch auf wackligen Beinen: von Beratungsstellen über Ferienangebote für Kinder bis hin zu stationären Einrichtungen.

epd: Und weiter?

Stadler: Hinzu kam die fehlende Verfügbarkeit digitaler Infrastrukturen, die bezahlbar sind und ein zufriedenstellendes Maß an Nutzerfreundlichkeit mit sich bringen, zugleich aber auch den Anforderungen an IT-Sicherheit und Datenschutz Genüge tun. Hier wurden wir immer wieder zu Kompromissen gezwungen, die langfristig nicht akzeptabel sind. Ganz klar wurde auch: Gesellschaftliche Teilhabe setzt gerade in dieser Ausnahmesituation digitale Teilhabe voraus. Für uns war deutlich spürbar, dass große Teile der Zielgruppen, denen wir durch unsere Dienstleistungen Teilhabe ermöglichen wollen, von digitaler Teilhabe ausgeschlossen sind.

epd: Welche Hilfen erwarten die AWO bei den Reformen von der Politik?

Stadler: Innovation ist notwendig und braucht organisierte Experimentierräume. Das muss sich auch in der Finanzierung der freien Wohlfahrtspflege abbilden. Hier geht es nicht nur um die sporadische Finanzierung einzelner innovativer Leuchtturmprojekte. Es braucht eine beständige Infrastruktur zur Innovationsförderung in den Verbänden sowie finanzielle Spielräume, um Dinge ausprobieren zu können und eine positive Lern- und Fehlerkultur zu entwickeln. Beim Thema Digitalisierung wurde durch die Pandemie noch einmal deutlich, wie wichtig eine funktionierende, sichere und möglichst unabhängige digitale Infrastruktur ist. Die Förderung von Open Source Projekten kann hierbei eine wichtige Rolle spielen.




sozial-Politik

Bundesregierung

Hartz IV steigt um mindestens sieben Euro




Hartz-IV-Antrag
epd-bild/Norbert Neetz
Eigentlich eine gute Nachricht: Die Regelsätze für Hartz-IV-Empfänger steigen. Doch die Anhebung ist aus Sicht sämtlicher Sozialverbände zu gering, um das Existenzminimum abzudecken. Sie werfen der Regierung vor, die Sätze bewusst kleinzurechnen.

Das Bundeskabinett hat am 19. August eine Erhöhung der Regelsätze für Hartz-IV-Empfänger beschlossen. Sozialexperten und -verbände erklärten einhellig, die Steigerung falle zu gering aus, um eine würdevolle Existenz zu sichern. Die Diakonie kritisierte, Fehler der Vergangenheit würden wiederholt, Armut festgeschrieben und Menschen vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Im Zentrum der Kritik stand die Berechnungsmethode. Die Diakonie prangerte wie andere Sozialverbände auch willkürliche Streichungen an.

Das Arbeitsministerium wies die Vorwürfe zurück. Eine Sprecherin von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sagte, die Berechnungsmethode werde den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gerecht und sei "transparent und nachprüfbar". Heil selbst erklärte, es gehöre zum Kern des Sozialstaats, allen Menschen ein Existenzminimum und Teilhabe am sozialen Leben zu garantieren.

Regelsatz wird alle fünf Jahre neu berechnet

Der Regelsatz für Grundsicherungsempfänger wird etwa alle fünf Jahre neu berechnet. Grundlage ist die jeweils aktuelle Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundesamts, die Auskunft gibt über die Einkommen, Schulden und Konsumausgaben privater Haushalte sowie deren Wohnsituation. Für die Berechnung der Hartz-IV-Sätze werden die Ausgaben der einkommensschwächsten 20 bzw. 15 Prozent der Haushalte herangezogen und davon wiederum Beträge abgezogen, etwa für einen Weihnachtsbaum, Grabschmuck, Speiseeis, chemische Reinigung oder einen Gaststättenbesuch.

EVS 2018 ist jetzt Grundlage

Der Gesetzentwurf aus dem Bundesarbeitsministerium legt die künftigen Regelsätze auf Basis der EVS von 2018 fest. Danach steigen Anfang 2021 die monatlichen Leistungen für einen Hartz-IV-Empfänger um mindestens sieben auf 439 Euro. Kleinkinder bekommen 278 Euro und damit 28 Euro mehr. Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren erhalten 39 Euro mehr, ihre Bezüge steigen auf 367 Euro. Der Satz von 308 Euro für sechs- bis 13-jährige Kinder wird nicht erhöht. Ehegatten und Partner erhalten im kommenden Jahr 395 Euro und damit pro Monat sechs Euro mehr. Von dem Geld müssen alle Ausgaben außer Miete und Heizung gedeckt werden. Die Beträge können sich geringfügig erhöhen, weil die jährliche Anpassung an die Preis- und Lohnentwicklung noch nicht berücksichtigt ist.

Das Deutsche Kinderhilfswerk erklärte, auf den ersten Blick sehe die Anhebung der Beträge für Kinder bis zu sechs Jahren und Jugendliche ab 14 Jahren gut aus, doch werde "lediglich ein Stück weit das nachgeholt, was den Kindern und Jugendlichen durch politisches Herunterrechnen der Regelsätze seit Jahren vorenthalten wird", erklärte Bundesgeschäftsführer Holger Hofmann: "Und dass die Sechs- bis 13-Jährigen mit einer Nullrunde abgespeist werden sollen, ist ein armutspolitischer Skandal."

Bentele: 23 Cent mehr am Tag reichen nicht

Ähnlich äußerten sich der Sozialverband VdK, die Nationale Armutskonferenz (NAK), die AWO, die Caritas und Politiker der Grünen und Linken. VdK-Präsidentin Verena Bentele sagte, sieben Euro bedeuteten 23 Cent mehr am Tag: "Armut bekämpfen wir damit ganz sicher nicht."

Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik der Diakonie, monierte, die beschlossene Regelsatzberechnung schreibe die Fehler der Vergangenheit fort. "Es werden beliebig Regelsätze festgelegt, die Armut manifestieren und eine Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben erschweren. Kinder aus Familien, die von der Grundsicherung leben, sind besonders betroffen." Schon jetzt gehörten sie zu den Bildungsverlierern, weil ihnen die notwendige Ausstattung fehlt und sie nicht mithalten können.

NAK: Regelsätze seit Jahren unzureichend

Gerwin Stöcken, Sprecher der Nationalen Armutskonferenz, sagte: "Die Neuberechnung der Regelbedarfe überzeugt uns auch diesmal nicht." Seit Jahren sei bekannt, dass die Regelbedarfe zu niedrig ausfallen, um die täglichen Bedarfe sorgenfrei zu decken und ohne Scham und Stigma am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. "Das kann nicht der Anspruch an einen starken Sozialstaat sein. Dieser sollte das menschenwürdige Existenzminimum aller Menschen verlässlich bereitstellen."

Auch die Arbeiterwohlfahrt (AWO) ging auf Distanz. Bundesgeschäftsführer Jens M. Schubert, rügte, die Regierung habe es mit dem Gesetz versäumt, "den politischen Gestaltungsspielraum bei der Berechnung der Regelbedarfe im Sinne der betroffenen Menschen zu nutzen". Damit blieben spürbare Verbesserungen der finanziellen Situation für über sieben Millionen Grundsicherungsbeziehenden aus.

"Das vorliegende Gesetz wiederholt weitestgehend das kritikwürdige Berechnungsverfahren aus den Jahren 2011 und 2016. Wir hoffen, dass nun im parlamentarischen Verfahren nachgebessert wird", so Schubert.

Die Caritas kritisierte, die Menschen hätten zu wenig Geld für Strom und warmes Wasser. Es sei seit Jahren bekannt, dass ihre Ausgaben doppelt so hoch seien wie die Pauschalen im Regelsatz. Vorstand Eva M. Welskop-Deffaa verwies auf eine gemeinsam mit dem Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung erstellte Studie, die deutlich zeige, "dass der Anteil für Strom im Regelsatz die tatsächlichen Stromkosten von Grundsicherungsempfängern nicht deckt".

Beschlüsse von Bundestag und Bundesrat stehen aus

Mit dem Gesetz werden zugleich die Regelsätze für Sozialhilfeempfänger, Rentner und Asylbewerber festgelegt. Sie müssen noch vom Bundestag und Bundesrat beschlossen werden.

Der sozialpolitische Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, Sven Lehmann, kündigte an, seine Partei werde ein alternatives Konzept zur Regelsatzermittlung ins Parlament einbringen, wonach die Sätze auf rund 600 Euro steigen müssten. Das soziokulturelle Existenzminimum von sieben Millionen Menschen sei nicht gedeckt, kritisierte Lehmann. Linken-Chefin Katja Kipping warf Heil eine Politik der "Verarmung und Vereinsamung" vor.

Bettina Markmeyer, Dirk Baas


Familie

Kinderschutzambulanzen meist schlecht finanziert




Ultraschallgerät in einer Kinderschutzambulanz
epd-bild/Peter Endig
Ungeachtet immer neuer Missbrauchsskandale sind Kinderschutzambulanzen meist unterfinanziert. Die Anlaufstellen für die Abklärung und Aufdeckung von Missbrauchsfällen sind in der Regel auf Spenden angewiesen.

Das kleine Mädchen will seinen Vater nicht mehr besuchen. Die Kleine sage, der getrennt lebende Vater tue ihr weh, berichtet die Mutter. Wird die Vierjährige vom Vater misshandelt? Es ist ein Fall, wie ihn die Therapeuten der Kinderschutzambulanz der Evangelischen Jugendhilfe Iserlohn-Hagen immer wieder erleben.

Manchmal bitten Mütter oder Väter die Therapeuten um Aufklärung. Häufig schickt aber auch das Jugendamt Familien zur Kinderschutzambulanz. Wie etwa die beiden vier- und elfjährigen Geschwister, die aufgefallen waren, weil sie von den Eltern offensichtlich vernachlässigt wurden. "Es hat sich sehr schnell herausgestellt, dass der Fall in eine ganz andere Richtung geht", sagt der Leiter der Kinderschutzambulanz, Reiner Rohrhirsch. "Es offenbarte sich massiver sexueller Missbrauch und Kinderpornografie."

"Kinderschutzambulanzen sind wichtige Anlaufstellen für die Abklärung von Kindesmisshandlungen", sagt der Geschäftsführer des Deutschen Kindervereins, Rainer Rettinger. Die Einrichtungen hätten eine besondere Expertise in Sachen Missbrauch, die etwa Kinderärzten in der Regel fehle. "Es ist deshalb unfassbar, dass Kinderschutzambulanzen nicht durchfinanziert sind. Da muss dringend etwas getan werden", fordert Rettinger. Auch der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, kritisiert: "Es gibt zu wenige Kinderschutzambulanzen, und sie sind zu schlecht finanziert." Vor allem der ländliche Raum sei unterversorgt.

Einrichtungen fehlt oft volle Finanzierung

Kinderschutzambulanzen sind an Krankenhäusern oder bei Trägern der Jugendhilfe angesiedelt. Meist werden sie nicht voll finanziert. Sie erhalten zum Teil lediglich Zuschüsse von Kommunen oder Ländern. Zudem bekommen sie Pauschalen für Fälle, die sie im Auftrag der Jugendämter im Rahmen einer Diagnostik abklären. Doch oft reichen diese Einnahmen nicht aus.

"Unsere aktuellen Pauschalen sind nicht kostendeckend", sagt etwa Gabriele Komesker, Ärztliche Leiterin der Kinderschutzambulanz am Evangelischen Krankenhaus Düsseldorf. Ihre Einrichtung sei deshalb - wie viele andere auch - dauerhaft auf Spenden von Firmen und privaten Geldgebern angewiesen. Das liege auch daran, dass ein guter Teil der Arbeit ihrer Kinderschutzambulanz überhaupt nicht bezahlt werde, erklärt Komesker. Zum Beispiel, wenn aufmerksame Menschen aus dem Umfeld eines Kindes wie etwa Nachbarn oder Erzieherinnen dort anfragen, weil sie sich sorgen.

Nachfrage wird steigen

Der Beratungsbedarf werde aber weiter steigen, erwartet Hilgers. Die Berichte über Missbrauchs-Skandale führten dazu, dass Menschen genauer hinschauen und sich vermehrt an Beratungsstellen wendeten. "Aber dort treffen sie dann auf völlig überlastete Strukturen." Tatsächlich nimmt laut Komesker in der Düsseldorfer Kinderschutzambulanz in jüngster Zeit die Zahl der Verdachtsfälle auf sexuellen Missbrauch zu. Auch ihr Hagener Kollege Rohrhirsch beobachtet, dass inzwischen Erzieherinnen, Lehrer, Kinderärzte und auch Nachbarn aufmerksamer seien und Gewalt an Kindern schneller gemeldet werde. Im vergangenen Jahr kletterte die Zahl der erfassten Fälle von Kindesmissbrauch laut Bundeskriminalamt um elf Prozent auf 13.670.

Der Anstieg der Fallzahlen sei auch der Tatsache zu verdanken, dass die Polizei sich stärker um das Thema kümmere und erfolgreicher ermittele, sagt Hilgers. Zugleich hätten aber Pädophile durch das Internet neue Möglichkeiten bekommen, beobachtet Rohrhirsch. Angesichts dieser Situation gebe es in Deutschland zu wenige Kinderschutzambulanzen. "Das ist sicherlich ein Grund dafür, dass dann Fälle wie in Münster oder Lügde manchmal lange übersehen werden."

Die Arbeit der Kinderschutzambulanzen sei zeitintensiv und koste eben Geld, sagt Hilgers. Die Mitarbeiter der Kinderschutzambulanzen nähmen sich Zeit, sich Stück für Stück auf die Suche nach den Erlebnissen des Kindes zu machen, sagt Komesker. Wichtig sei eine Präventionsstrategie mit einem guten Beratungssystem, um Missbrauch möglichst früh aufzudecken. "Wenn wir früh mit der Therapie beginnen können, ist die Chance am größten, dass die betroffenen Kinder später ein selbstbestimmtes Leben führen können", sagt Hilgers.

Komesker kann das bestätigen. Immer wieder gebe es auch ermutigende Beispiele von Kindern, denen nach der Diagnostik in der Kinderschutzambulanz rechtzeitig geholfen werden konnte. "Bei uns melden sich hin und wieder einmal Erwachsene, die als Kind bei uns waren und nun berichten, dass sie sich ein eigenes Leben aufgebaut haben und Familien haben."

Claudia Rometsch


Familie

Überforderte Eltern brauchen mehr Hilfsangebote



Die wenigsten Eltern wollen ihren Kindern körperliche oder seelische Gewalt antun. Und trotzdem passiert es immer wieder. Unter anderem wegen Überforderung bei der Erziehung und Betreuung. Politiker und Experten fordern mehr Hilfsangebote für Eltern.

Eltern, die mit ihrem Latein am Ende sind, weil das Kind einfach nicht zu bändigen ist, können dazu neigen, heftig zuzuschlagen. In Bayern etwa wurden 2019 rund 1.450 Mal Kinder zum Schutz vor ihren Eltern in Obhut genommen. Experten befürchten, dass die Zahlen durch die Corona-Pandemie weiter nach oben schnellen könnten. Das lässt den Ruf nach mehr Kinderschutz laut werden.

Politiker aller Parteien wollen Kindeswohlgefährdungen den Kampf ansagen. Der CSU geht es unter anderem darum, Kindern einen leichten Zugang zu Hilfsangeboten zu ermöglichen: etwa via SMS oder Chat. Die SPD fordert für den Freistaat die Stelle eines Missbrauchsbeauftragten. Die Grünen setzen sich für eine gute Ausstattung der Jugendämter ein. Gefordert werden außerdem Initiativen zur Stärkung der Erziehungskompetenz der Eltern.

Harmonisches Miteinander gelingt nicht immer

So gut wie alle Eltern wünschen sich ein harmonisches Miteinander in der Familie. Doch dieser Wunsch geht oft nicht in Erfüllung. Warum, das erlebt Marcel Romanos, Direktor der Würzburger Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, fast täglich. In seiner Klinik werden rund 2.500 Kinder und Jugendliche pro Jahr behandelt, darunter "viele potenzielle Kinderschutzfälle" mit verschiedenen Schweregraden. Die Kinder wurden vernachlässigt oder geschlagen. Mindestens einmal im Jahr hat es Romanos mit einem drastischen Fall zu tun: "Unlängst hatten wir ein Kind, das Male ausgedrückter Zigaretten auf der Haut hatte."

Körperliche Misshandlungen müssten eigentlich in Arztpraxen auffallen: "Doch von dort kommen nur wenige Meldungen." Womöglich deshalb, weil Ärzte unsicher sind, was sie wem melden dürfen.

Beim Kinderschutz hat Deutschland einen großen Nachholbedarf, sagt Christina Kohlhauser-Vollmuth, Chefärztin der Missio Kinderklinik in Würzburg. Ihr zufolge muss bei den Jugendämtern angesetzt werden. In manchen Regionen gebe es "große Defizite" bei der personellen Ausstattung und der fachlichen Ausbildung. Bei dringendem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung müsse Kinderschutz vor Schweigepflicht und Datenschutz gehen, fordert sie weiter. Sinnvoll wäre schließlich eine Vernetzung aller Einrichtungen: "Um Aussagen wie: 'Dafür bin ich nicht zuständig' zu vermeiden."

In den vergangenen Jahren haben sich Experten vieler Fachrichtungen intensiv mit dem Thema "Kinderschutz" befasst. Vertreter von Medizin, Jugendhilfe und Pädagogik haben eine rund 360 Seiten umfassende "Kinderschutzleitlinie" entwickelt. "Deren pure Seitenzahl zeigt, wie komplex das Thema ist", sagt Kohlhauser-Vollmuth. Detailliert gehe es um Fragen der Diagnostik, um Verhaltensauffälligkeiten, um psychisch belastete Eltern sowie um Geschwisterkinder.

Auf dem Land fehlen Kinderschutzzentren

Das Thema "Kindesmisshandlung" wird immer dann an die Öffentlichkeit gebracht, wenn mal wieder ein "spektakuläre Fall" publik wird. Doch weil so viele Kinder betroffen sind, müsste kontinuierlich aufgeklärt und sensibilisiert werden, sagt Kohlhauser-Vollmuth. Menschen müssten ermutigt werden, genau hinzuschauen und Verdachtsfälle zu melden. Nach den Zahlen des Bayerischen Landesamtes für Statistik geschah dies 2019 mehr als 19.500 Mal. In 14 Prozent der Fälle war das Kindeswohl tatsächlich akut gefährdet.

Insgesamt waren weit mehr als die Hälfte der Meldungen berechtigt. In mehr als jedem dritten Fall wurde ein konkreter Hilfebedarf ermittelt. Den Eltern wurde zum Beispiel Erziehungsberatung nahegelegt. Die Meldungen kamen in erster Linie von der Polizei, von Gerichten oder der Staatsanwaltschaft. Aber auch Bekannte oder Nachbarn riefen das Jugendamt an.

Die wenigsten Eltern wollen ihren Kindern körperliche oder seelische Qualen zufügen, sagt Dawin: "Fast alle haben den großen Wunsch, gute Eltern zu sein." Doch das können sie nicht aus eigener Kraft. Dafür brauchen sie Hilfe. Die ist aber vor allem in den ländlichen Regionen Bayerns Mangelware. Wenn die Politik tatsächlich etwas dagegen tun will, dass so viele Kinder geschlagen, missbraucht oder vernachlässigt werden, soll sie mehr Kinderschutzzentren errichten, meint Kirstin Dawin vom Münchner Kinderschutzzentrum: "Und zwar gerade auf dem Land." Derzeit gibt es in Bayern nur zwei solcher Zentren in Kulmbach und in München.

Pat Christ


Asyl

Ungeliebte Erinnerung an Ausschreitungen gegen Flüchtlinge




Vor fünf Jahren eskalierte die Gewalt bei Protesten gegen ein Flüchtlingsheim in Heidenau.
epd-bild/Christian Ditsch
Die Krawalle gegen eine Flüchtlingsunterkunft im sächsischen Heidenau haben 2015 für einen Aufschrei gesorgt. Fünf Jahre später bemüht sich die Stadt um Normalität. Eine öffentliche Erinnerung gibt es indes bis heute nicht.

Im sächsischen Heidenau spricht heute kaum einer mehr von dem Hass auf Flüchtlinge im August 2015. Die Stadt will sich von ihrem Negativ-Image nach den schweren Ausschreitungen befreien. Dabei ist noch nicht einmal die juristische Aufarbeitung abgeschlossen. Damals geriet die Kommune in die Schlagzeilen, stand für eine neue Eskalationsstufe im Protest gegen die Aufnahme geflüchteter Menschen.

Am 21. und 22. August schlug in Heidenau der Hass in Gewalt um: Vor einer Flüchtlingsunterkunft flogen Steine, wurden Böller gezündet und mehr als 30 Polizisten zum Teil schwer verletzt. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wenige Tage später die Einrichtung besuchte, wurde sie von Einheimischen übel beschimpft.

Einstiges Lager ist längst geräumt

Dort, wo die Randale vor fünf Jahren tobte, ist es jetzt ruhig. Im April 2016 waren die letzten Flüchtlinge ausgezogen. In der früheren Erstaufnahmeeinrichtung stehen Möbel. Ein Unternehmen der Region nutzt die Räume jetzt als Lager.

"Integration ist in der Stadt kein Reizthema mehr", sagt die evangelisch-lutherische Pfarrerin Erdmute Gustke. Sie werde in Kindertagesstätten, Schulen und im Wohnumfeld praktiziert. Es gebe Initiativen für Integration und ehrenamtliches Engagement.

Integration funktioniert im Kleinen

In der evangelischen Christuskirche findet einmal im Monat ein Begegnungscafé statt. Zudem wird etwa für Frauen Deutschunterricht organisiert - und parallel dazu eine Kinderbetreuung. Vieles, was Integration und gute Beziehungen fördert, geschehe "im Kleinen", sagt Gustke.

Nur 115 Asylbewerber leben derzeit laut dem zuständigen Landratsamt Sächsische Schweiz-Osterzgebirge in Heidenau - bei rund 16.000 Einwohnern eine absolute Minderheit. Untergebracht seien sie dezentral in Wohnungen.

Eine gemeinsame öffentliche Erinnerung der Stadtgesellschaft an die Ausschreitungen gibt es nicht. Heidenaus Bürgermeister Jürgen Opitz (CDU) hatte damals von einem tiefen Riss gesprochen, der durch die Stadt gehe. Klare Worte hatte er auch zu den Ausschreitungen gefunden: "Hass und Verblendung sitzen so tief, dass es schwer ist, diese Menschen zu erreichen."

Fünf Jahre später will er sich zu den Krawallen aber nicht mehr äußern. Dem CDU-Politiker, der im vergangenen Jahr als Bürgermeister wiedergewählt wurde, war 2015 wegen seines Engagements für Flüchtlinge von Rechtsextremen Gewalt angedroht worden.

Randale von einst heute kein Thema mehr

"Die Ausschreitungen sind vor Ort kein Thema mehr", sagt auch Angela Tomalka, Referentin bei Aktion Zivilcourage Pirna. Sie betreut Integrationsprojekte in Heidenau. Von den Teilnehmenden bekomme sie gute Rückmeldungen. Sie fühlten sich wohl in Heidenau, schätzten die Stadt als Lebens- und Alltagsort.

Bürgermeister Opitz hat sich früh um gesellschaftlichen Dialog bemüht. Die Stadt unterstützte ein Projekt von Hüseyin Arda. Der deutsch-türkische Metallkünstler installierte nur wenige Wochen nach der Randale mitten in Heidenau den 15 Meter langen Schriftzug "Miteinander". Eine Wortskulptur als Zeichen der Toleranz - 1,5 Tonnen schwer und mehr als zwei Meter hoch.

Fast sieben Monate blieb sie im öffentlichen Raum. Heidenauer haben ihre Gedanken auf die elf Riesenbuchstaben aus Stahl gesprüht. Die Interaktion war vom Künstler gewollt. Schablonen wurden hergestellt - für das Wort "Miteinander" in 18 Sprachen.

Die Skulptur habe erfüllt, was sie beabsichtigt hatte, sagt Arda heute im Rückblick, sie regte tatsächlich zu Gesprächen an. Es habe sehr viel Resonanz gegeben und es sei kontrovers diskutiert worden, aber eben friedlich. Als die Wort-Skulptur komplett in den NS-"Reichsfarben" schwarz-weiß-rot übersprüht wurde, habe er Nachrichten erhalten, dass das Kunstwerk geschändet worden sei. Doch, "Rechtsextremisten, die malen, sind ungefährlich", findet Arda.

Die juristische Aufarbeitung der Ausschreitungen vor fünf Jahren hält indes an. Laut der Sprecherin der Generalstaatsanwaltschaft Dresden, Nicole Geisler, sind noch fünf Strafverfahren gegen insgesamt zwölf Angeklagte anhängig. Darunter seien zehn Personen bereits verurteilt, aber noch nicht rechtskräftig.

Insgesamt sind laut Geisler 77 Ermittlungsverfahren geführt worden. Die Vorwürfe lauteten unter anderem: schwerer Landfriedensbruch, gefährliche Körperverletzung und Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. 31 Angeklagte wurden Geisler zufolge rechtskräftig verurteilt.

Pfarrerin Gustke sagt: Viele Heidenauer ärgert es, dass ihre Stadt beim Thema Ausländerfeindlichkeit immer wieder mit genannt wird. "Allerdings", räumt die Theologin ein, "kann Heidenau auch nicht mit einer beeindruckenden Integrationskampagne glänzen, die ein positives Image befördern würde."

Katharina Rögner


Arbeit

Erstes Forschungsprojekt zu Grundeinkommen gestartet



Was passiert mit Menschen, die 1.200 Euro im Monat geschenkt bekommen, drei Jahre lang, ohne Bedingungen? Das soll in der Praxis erforscht werden. Renommierte Wissenschaftler und der Berliner Verein "Mein Grundeinkommen" haben sich dafür zusammengetan.

Drei Stunden nach dem Start hatten sich schon mehr als 90.000 Menschen beworben. Sie alle wollen zu den Teilnehmern eines Forschungsprojekts gehören, das am 18. August in Berlin vom Verein "Mein Grundeinkommen" und dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) gestartet wurde. Ihre Chance ist denkbar gering: Aus einer Million Bewerbern wollen die Forscher 120 Personen auswählen, die von kommendem Frühjahr an drei Jahre lang 1.200 Euro pro Monat bekommen, bedingungslos. Im halbjährlichen Abstand werden sie befragt und ihre Antworten abgeglichen mit denen einer knapp 1.400 Personen umfassenden Vergleichsgruppe ohne Grundeinkommen.

Das Experiment ist die erste Langzeitstudie in Deutschland zum bedingungslosen Grundeinkommen. Ziel ist laut Initiator Michael Bohmeyer vom Verein "Mein Grundeinkommen", die Wirkung der Zahlung auf den Einzelnen und Auswirkungen auf das gesellschaftliche Zusammenleben zu erforschen.

Folgen für Erwerbstätigkeit untersuchen

Für den Soziologen und DIW-Forscher Jürgen Schupp steht im Zentrum, ob und wie sich die Zahlung auf die Berufstätigkeit der Testpersonen auswirkt. Führt das Geld und die Sicherheit, die damit verbunden ist, zu Veränderungen im Empfinden und Verhalten der Teilnehmer? Geben sie etwa einen ungeliebten Job auf und machen sich selbstständig? Arbeiten sie weniger? Und wie verbringen sie die gewonnene Zeit? Man werde auch erfassen, ob sich Teilnehmer einfach aufs Sofa legen und mehr fernsehen, kündigte Schupp bei der Vorstellung der Versuchsanordnung an. Schupp war jahrelang Leiter des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) am DIW, einer Langzeit-Befragung Zehntausender Haushalte, deren Daten grundlegend sind für die Sozial- und Wirtschaftsforschung in Deutschland.

Eine Forschungsgruppe des Max-Planck-Instituts untersucht die psychologischen Aspekte, etwa ob ein Grundeinkommen hilft, Stress zu verringern und in der Folge die Lebenszufriedenheit und gesellschaftliches Engagement zu erhöhen, wovon Anhänger des bedingungslosen Grundeinkommens wie Bohmeyer überzeugt sind. Erfahrungsberichte der Menschen, die ein Jahr lang das von seinem Verein regelmäßig verloste Grundeinkommen von 1.000 Euro monatlich bezogen haben, legten das nahe, berichtete Bohmeyer. Häufig wichen Ohnmachtsgefühle einem Aufbruchsgefühl, sagt er.

Erstes Forschungsvorhaben in Deutschland

In Deutschland wird die Wirkung eines bedingungslosen Grundeinkommens in der Praxis erstmals untersucht. Ähnliche Experimente mit verschiedenen Grundeinkommen gab es seit den 1970er Jahren in mehreren Ländern, zuletzt in Finnland. Das deutsche Modellprojekt wird allein aus den Spenden von rund 140.000 Privatleuten finanziert. Die Ergebnisse sollen 2024 veröffentlicht werden. Rechtlich gesehen erhalten die Teilnehmer eine Schenkung von 1.200 Euro im Monat, die sie nicht versteuern müssen. Anders sieht es bei Grundsicherungsempfängern (Hartz IV) aus. Als Projektteilnehmer müssen sie sich entscheiden, weiter von Sozialleistungen oder den 1.200 Euro zu leben. Für sie gibt es das Grundeinkommen nicht obendrauf.

Der Verein "Mein Grundeinkommen" mit Sitz in Berlin verlost seit 2014 bedingungslose Grundeinkommen von 1.000 Euro pro Monat für jeweils ein Jahr, sobald 12.000 Euro an Spenden zusammengekommen sind. Er hat nach eigenen Angaben bisher mehr als 650 Grundeinkommen vergeben.

Bettina Markmeyer


Corona

Spahn will Priorisierung bei erneuten Corona-Beschränkungen




Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU)
epd-bild/Christian Ditsch
Die Corona-Infektionszahlen steigen, die Bundesregierung ist besorgt. Gesundheitsminister Spahn wirbt für eine Diskussion über Prioritäten, sollten neue Beschränkungen nötig werden. Schule, Kita und Einzelhandel will er möglichst offen halten.

Angesichts steigender Corona-Infektionszahlen will Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) Prioritäten festlegen, sollten neue Beschränkungen notwendig werden. Bei einer Video-Pressekonferenz sprach sich Spahn am 17. August dafür aus, Schulen und Kindertagesstätten möglichst offen zu halten. Der Regelbetrieb sei wichtig für die Kinder. Die Schließungen im Frühjahr seien für die Familien sehr belastend gewesen, sagte Spahn.

Zudem sprach er sich dafür aus, Läden geöffnet zu halten, auch weil es dort keine Infektionsherde gegeben habe. Möglichkeiten für Beschränkungen sieht er bei Festen. Er wolle mit den Ländern darüber reden, welche Form von Veranstaltungen und Feiern stattfinden können, sagte Spahn. Er wolle nicht der "Spielverderber" sein, sagte er, ergänzte aber, er habe von vielen Seiten gehört, dass sich bei Veranstaltungen mit Alkohol selbst 20 Gäste schnell nicht mehr an die Abstands- und Hygieneregeln hielten.

Hauptziel: Risiken vermeiden

Es gehe darum, Risiken zu vermeiden, sagte Spahn. Das gelte auch für das Fahrgastaufkommen in Bussen und Bahnen. Berufspendler und Schüler sollten fahren können. Um volle Bahnen zu vermeiden, wolle er aber nicht diejenigen in den öffentlichen Verkehrsmitteln, die zum Stadion fahren, erklärte Spahn mit Blick auf die Entscheidung, Fußball-Bundesligaspiele weiter ohne Publikum stattfinden zu lassen.

Den Anstieg der Neuinfektionen nannte Spahn "besorgniserregend". Das Robert Koch-Institut meldete am 17. August 561 Neuinfektionen gegenüber dem Vortag. Allerdings melden nicht alle Gesundheitsämter über das Wochenende neue Fälle. Die Zahl der Neuinfektionen hatte in der vergangenen Woche auch schon bei weit mehr als 1.000 gelegen. Seit Beginn der Pandemie haben sich in Deutschland 224.014 Menschen nachweislich mit dem Coronavirus infiziert.

Fast flächendeckend mehr Infektionen

Der Anstieg der Infektionszahlen hänge nicht nur mit Reiserückkehrern zusammen, sagte Spahn. Auch in Deutschland selbst habe das Ausbruchsgeschehen nahezu überall zugenommen. Es gebe fast keinen Landkreis mehr, in dem es in den vergangenen sieben Tagen keine Neuinfektion gegeben habe, sagte der Minister.

Spahn verteidigte erneut, dass die Corona-Tests für Reiserückkehrer kostenlos sind. Möglichst viele sollten sich dem Test unterziehen. Wenn sie bezahlt werden müssten, setze das den Anreiz, sich den Tests zu entziehen, sagte er. Zudem entspräche das nicht der Logik des solidarischen Systems in Deutschland. Die Frage sei dann auch, ob jemand, der sich den Skiurlaub leisten könne, die Folgen des Beinbruchs selbst zahlen müsse, sagte Spahn.

Während Spahn eine Debatte um mögliche erneute Beschränkungen von Veranstaltungen anregte, legten Forscher dagegen für einen Bereich sogar neue Lockerungen an. Forscher der Berliner Charité halten voll besetzte Säle bei Klassikkonzerten und Opervorstellungen für möglich, wenn die Besucher einen Mund-Nasen-Schutz tragen. Unter dieser Maßgabe "ist eine Vollbesetzung der Sitzplätze möglich", heißt es in einer am 17. August in Berlin veröffentlichten "Stellungnahme zum Publikumsbetrieb von Konzert- und Opernhäusern während der Covid-19 Pandemie" der Charité Institute für Sozialmedizin und Epidemiologie sowie für Hygiene und Umweltmedizin.

Einen Tag später ruderte die wieder Charité zurück. Das Papier sei nicht abgestimmt gewesen und gebe nicht die Posotion des Vorstandes wieder. Es sei kein Handlungsvorschlag, sondern nur eine Gesprächsgrundlage, hieß es.

Diakonie rügt Minister

Der Präsident der Diakonie Deutschland, Ulrich Lilie, übte am 17. August scharfe Kritik an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Die in der Corona-Krise zugesagte einmalige Sonderprämie für Pflegekräfte zählte er zu Spahns "größten Fehltritten". "Diese Prämie ging nur an einige wenige, während andere in die Röhre gucken mussten, die in den Einrichtungen genauso hart gearbeitet haben", sagte Lilie. Das werde in der Branche als ungerecht empfunden.

Lilie forderte, "noch einmal neu darüber nachdenken, wie man eine echte Anerkennung hinbekommt. Dazu gehört aber mehr als ein einmaliger Bonus", sagte der Chef des evangelischen Wohlfahrtsverbandes. Notwendig sei eine systematische Aufwertung der Pflegeberufe.

Corinna Buschow, Markus Jantzer


Corona

Jugendherbergen bekommen knapp 30 Millionen Euro



Die in der Corona-Krise in Not geratenen Jugendherbergen und anderen Jugend- und Familieneinrichtungen bekommen Geld vom Land Niedersachsen. Über den zweiten Nachtragshaushalt würden den Einrichtungen insgesamt 29,8 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, sagte Sozialministerin Carola Reimann (SPD) am 14. August beim Besuch in der neuen Jugendherberge Oldenburg.

Für außerschulische Begegnungen seien Jugendherbergen ein wichtiger Ort für soziales Lernen, fügte Reimann hinzu. Deswegen sei es ein erklärtes Ziel der Landesregierung, den Einrichtungen und Organisationen zu helfen, die in existenzielle Schwierigkeiten geraten seien. Jugendherbergen seien zwar gemeinnützige Einrichtungen, sie funktionierten aber nur aufgrund ihrer betriebswirtschaftlichen Ausrichtung.

In Niedersachsen betreibt das Deutsche Jugendherbergswerk mit seinen drei Landesverbänden 53 Jugendherbergen.




sozial-Branche

Hospiz

Ein Meer von Sonnenhut




Krankenschwester Birgit Wrede mit Lotta im Garten des Kinderhospizes Löwenherz
epd-bild/Detlef Heese
Eine Wohltat für beladene Seelen: In Kinder- und Jugendhospizen wie dem "Löwenherz" können Gäste und Mitarbeiter im eigens gestalteten Garten entspannen, spielen, auftanken. Mittendrin wird mit bunt bemalten Kieseln der gestorbenen Kinder gedacht.

Der einjährige Sonnenhut hat es Lotta angetan. Die Fünfjährige greift aus ihrem Rollstuhl mit beiden Händen in die gelb-braunen Blüten. Sie ist geistig und körperlich schwerbehindert, hat immer wieder schwere epileptische Anfälle. Wie ein Meer wogen die Sonnenhüte zu Hunderten vor dem Eingang des Kinder- und Jugendhospizes "Löwenherz" im Wind auf und ab. Drum herum gruppieren sich weiße, lila, rosa und blaue Felder von Schönaster, Lavendel, Kugeldistel und Katzenminze.

Krankenschwester Birgit Wrede spaziert mit Lotta die Wege im Garten des Hospizes in Syke bei Bremen entlang. Mutter Adriane besucht währenddessen mit der zweijährigen Schwester Ida einen nahen Tierpark. Juchzend knautscht Lotta die bauschigen braunen Sonnenhut-Dolden und reißt die gelben Blätter von den langen Stängeln. Alke Meyer lächelt dazu süß-sauer, aber lässt es geschehen. "Schließlich ist der Garten für die Gäste da", sagt die Staudengärtnerin und Gartentherapeutin.

Naturnaher und nachhaltiger Garten

Die 58-Jährige gestaltet und pflegt seit zehn Jahren den Garten im Kinderhospiz. "Meine Philosophie ist, einen naturnahen, nachhaltigen Garten zu schaffen, der die Menschen erfreut", sagt Meyer. Er soll die Gäste, die Kinder und auch die Mitarbeitenden zusammenführen. Hinter hohen Hecken, unter Schatten spendenden Bäumen oder rund um den Spielplatz laden Bänke zum Verweilen ein. Für ihre Arbeit hat Alke Meyer jüngst sogar einen Preis der Vereinten Nationen bekommen - im Wettbewerb "Soziale Natur - Natur für alle".

In allen 17 stationären Kinder- und Jugendhospizen in Deutschland spielen Gärten eine große Rolle, sagt Sabine Kraft, Geschäftsführerin des Bundesverbands Kinderhospiz. Familien können sich mit ihren schwersterkrankten Kindern in diesen spezialisierten Hospizen für bis zu vier Wochen im Jahr von der kraftraubenden Pflege zu Hause erholen.

Ort des Friedens und der Freude

Dafür ist ein Garten unverzichtbar. "Der Garten gehört zum Lebensraum von Kindern und Familien. Er ist ein Ort des Friedens und der Freude und trägt zur Gesundheit bei", sagt Kraft. In allen Gärten gibt es Spielgeräte, Blumenbeete und einen Erinnerungsbereich, manchmal zusätzlich Teiche, Hütten oder sogar einen Streichelzoo.

Familie Brink schiebt Tochter Lina (21) im Rollstuhl über die geschwungenen Wege im Löwenherz. In den Hochbeeten mit Kräutern und Duftpflanzen gibt es immer etwas zu entdecken. Vater Gerhard Brink pflückt ein pelzig weiß-grünes Blatt des Wollziest und streicht Lina damit über die Wange. Ihr Gesicht zeigt keine Regung. "Wir haben aber das Gefühl, dass sie noch viel mitbekommt", sagt Mutter Britta Brink.

Mehrmalige Auszeit im Jahr

Lina ist durch eine Epilepsie schwer hirngeschädigt. Ihre Eltern genießen es, zwei bis drei Mal im Jahr eine Auszeit zu nehmen - früher nebenan im Kinderhospiz, jetzt im Jugendhospiz. Schwestern, Pfleger und Therapeuten kümmern sich dann um Lina. "Wir setzen uns in einen der Strandkörbe und lesen. Dazu komme ich zu Hause fast nie", sagt die Mutter. Oder sie spazieren über die Wege und naschen von Himbeeren, Blaubeeren oder den kleinen Tomaten, die in großen Töpfen nah am Haus stehen.

Über den Garten, die Pflanzen und Tiere ins Gespräch kommen - auch das ist eine wichtige soziale Funktion eines Gartens, findet Gartentherapeutin Alke Meyer. Und wer sich praktisch einbringen will, darf Rasen mähen, Unkraut jäten oder beim Anlegen neuer Beete helfen.

Währenddessen düst Geschwisterkind Levin mit einem Kettcar über die Wege vorbei am riesigen Sandkasten mit Matschstelle, windschiefer Hütte und Wippe. Gleich daneben auf der großen Rasenfläche hüpft der vierjährige Ajub mit seiner Mutter Rehab auf dem Trampolin.

Gartenbetreuung über Spenden finanziert

"Für uns ist der Garten ein wichtiger Teil der Arbeit im Kinderhospiz", sagt Leiterin Gaby Letzing. Deshalb finanziere der Verein über Spenden die Arbeit von Alke Meyer und einer Kollegin. Der Garten gebe Trost und sei Ausdruck dafür, dass Leben und Sterben zusammengehörten: "Es ist eine Wohltat für beladene Seelen, einfach nur im Garten zu sitzen, die vielen Blumen zu sehen und zu riechen und eine Weite in sich zu spüren, die einfach gut tut."

Gärten aktivierten alle Sinne des Menschen, sagt auch Expertin Bettina Ellerbrock, Geschäftsführerin der staatlich anerkannten Europäischen Gesundheitsakademie. Sich an Pflanzen zu erfreuen, könne dazu beitragen, Leiden zu lindern oder sogar zu heilen. Das werde zunehmend in der Altenhilfe, der Jugendhilfe und auch im Hospizwesen genutzt.

In den Kinder- und Jugendhospizen aber sind die Gärten nicht nur zum Spielen und Entspannen da: In eigens gestalteten Erinnerungsbereichen können Eltern, Geschwister, Angehörige, Freunde und Mitarbeiterinnen der gestorbenen Kinder gedenken. Im Löwenherz in Syke bemalen die Eltern Erinnerungs-Steine für einen Kiesgarten. Zwischen den Steinen wachsen Salbei und Katzenminze, auf denen sich an diesem sonnigen Tag zahlreiche Schmetterlinge niedergelassen haben.

"Unsere Erinnerungsgärten sind ganz bewusst offen gestaltet und von überall her zu sehen. Sie liegen nicht am Rand, sondern mittendrin", sagt Alke Meyer. Für Gaby Letzing ist der Erinnerungsgarten der Jugendlichen einer ihrer Lieblingsplätze im Löwenherz-Garten. "Die vielen Steine erzählen von unseren Gästen, die die letzte große Reise hinter den Horizont angetreten und Spuren hinterlassen haben."

Währenddessen streift Alke Meyer durch ihre Beete, schneidet Blumen und bindet sie zu einem üppigen bunten Strauß zusammen: "Eine Mutter hat morgen Geburtstag. Da stelle ich ihr den heute Abend schon auf ihr Zimmer."

Martina Schwager


Altenpflege

Gastbeitrag

Jahresgehalt von Einrichtungsleitern liegt im Schnitt bei 68.000 Euro




Gabriele Moos, Thomas Müller
epd-bild/contec
Eine neue Studie legt den Fokus auf die Bezahlung von Heimleitern in der Pflege. Befragt wurden dazu rund 650 Leitungskräfte aus der stationären Altenhilfe. Damit, so die Autoren, liege eine gute Basis vor, an der sich Führungskräfte im Wettbewerb orientieren könnten.

Als Ergänzung zu der im Zwei-Jahres-Turnus erscheinenden Vergütungsstudie des Beratungsunternehmens contec für das Top-Management der Sozialwirtschaft ist nun die Vergütungsstudie 2019 mit Fokus auf Einrichtungsleitungen der stationären Altenhilfe erschienen. Für die Studie, die contec in Zusammenarbeit mit dem IEGUS – Institut für europäische Gesundheits- und Sozialwirtschaft sowie mit dem RheinAhrCampus der Hochschule Koblenz erstellt hat, wurden 650 Leitungskräfte der stationären Altenhilfe über die Höhe und Zusammensetzung ihrer Vergütung befragt.

Nach der Bereinigung von unvollständigen, doppelten oder unplausiblen Antworten gingen 226 Datensätze in die Auswertung ein. Auch wenn die Studie statistisch nicht repräsentativ ist, bietet sie eine sehr gute Orientierungsgröße sowohl für Führungskräfte und deren Gehaltsverhandlungen als auch für Arbeitgeber, um sich im Wettbewerb einordnen zu können. Die Angaben über die Vergütungshöhe erfolgen anhand der beiden Parameter Median und 75-Prozent-Quartil, die auch von der Rechtsprechung bei externen Vergleichen zur Überprüfung der Angemessenheit der Vergütung für Geschäftsführungen herangezogen werden.

Vergütung steigt mit Größe der Einrichtung

Das Hauptaugenmerk der Studie liegt auf dem Bruttogesamtgehalt der Führungskräfte sowie den verschiedenen Gehaltskomponenten, aus denen sich dieses zusammensetzt. Die Angaben werden anhand der Einrichtungsgröße verglichen, die sich durch die Beschäftigtenzahl (pro Kopf und Vollzeitäquivalente), die Anzahl vollstationärer Betten/Plätze und den Umsatz darstellen lässt. Das Bruttogesamtgehalt der befragten Einrichtungsleitungen beträgt im Median 67.875 Euro.

Eine Kernbeobachtung ist: Wie schon bei der letzten Top-Management Studie lässt sich bei Einrichtungsleitungen ein struktureller Zusammenhang zwischen Einrichtungsgröße und Vergütungshöhe feststellen. Je größer die Einrichtung, desto höher die Vergütung. Neben dem Jahresfestgehalt zählen zum Bruttogesamtgehalt: variable bzw. leistungsbezogene Vergütungen, Firmenwagen (zur privaten Nutzung), Zuschüsse zur Altersversorgung und vermögenswirksame Leistungen, aber auch Fahrtkosten-, Verpflegungs-, Miet- oder Kinderbetreuungszuschüsse. Das Jahresfestgehalt macht bei den befragten Führungskräften rund 95 Prozent des Bruttogesamtgehalts aus. Variable Gehaltskomponenten erhalten 34 Prozent der befragten Führungskräfte, der Median dieser variablen Vergütung liegt bei 4.500 Euro pro Jahr.

Weitere Einflussfaktoren, die die Studie untersucht hat, sind die Trägerschaft des Unternehmens, das Geschlecht der Führungskraft, deren Qualifikation und mögliche zusätzliche Organfunktionen (Geschäftsführung oder Vorstand). Alle diese Faktoren beeinflussen die Vergütung. So zeigt sich bei Einrichtungsleitungen ein Gender-Gap: Frauen verdienen im Median rund 13 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. Führungskräfte, die neben der Einrichtungsleitung auch noch eine geschäftsführende oder Vorstandsfunktion innehaben, werden dagegen besser vergütet.

Dienstwagen und betriebliche Altersversorgung

Die befragten Leitungskräfte freigemeinnütziger Träger erhalten im Median eine knapp sieben Prozent höhere Vergütung als ihre Kolleginnen und Kollegen aus privater Trägerschaft. Erwartungsgemäß verdienen Führungskräfte auch mehr, wenn sie eine höhere Qualifikation vorweisen können. Das gilt sowohl für den Schulabschluss (Einrichtungsleitungen mit Fachabitur oder allgemeiner Hochschulreife verdienen besser als jene mit einer mittleren Reife) als auch für den Abschluss der Ausbildung (ein Hochschulabschluss sorgt für bessere Vergütung gegenüber der Berufsausbildung). Die dargestellten Zusammenhänge können zwar jeweils auch in Teilen auf die Einrichtungsgröße zurückgeführt werden, lassen sich aber nicht vollständig dadurch erklären. Ein möglicher Anhaltspunkt für die höhere Vergütung bei freigemeinnützigen Trägern könnten deren jeweilige Tarifverträge sein.

Mit Blick auf die Zusatzleistungen ist unter den Einrichtungsleitungen insbesondere die betriebliche Altersversorgung verbreitet. Einen Arbeitgeberzuschuss zur Altersversorgung erhalten 65 Prozent der befragten Führungskräfte (in Form eines Arbeitgeberzuschusses zu Pensions- und Unterstützungskassen, Direkt- oder Lebensversicherungen). Weniger verbreitet sind Firmenwagen zur privaten Nutzung. Lediglich ein Drittel der Befragten bekommt einen solchen zur Verfügung gestellt.

57 Prozent: Bezahlung nicht angemessen

Die Umfrage war sowohl an Einrichtungs- als auch an Pflegedienstleitungen (PDL) gerichtet. Aufgrund eines relativ geringen Rücklaufs von PDL werden die Ergebnisse für diese Position nicht in den allgemeinen Vergleich aufgenommen. Auch bei den PDL lässt sich ein struktureller Zusammenhang zwischen Unternehmensgröße und Vergütung erkennen. Im Median beträgt das Bruttogesamtgehalt der befragten Pflegedienstleitungen 54.211 Euro und liegt damit rund 20 Prozent niedriger als das der Einrichtungsleitungen. Variable Vergütungsbestandteile spielen für die Befragten in dieser Position kaum mehr eine Rolle. Bei den hier vorliegenden Ergebnissen macht das Jahresfestgehalt 99 Prozent des Bruttogesamtgehalts aus.

Interessant ist die Beobachtung über die allgemeine Zufriedenheit der Einrichtungsleitungen mit ihrer Vergütung und ihrem Arbeitsplatz. Nur 57 Prozent, also etwas über die Hälfte der Befragten, geben an, ihre Vergütung als angemessen zu empfinden. Zugleich würden mehr als drei Viertel der Führungskräfte ihren Arbeitgeber weiterempfehlen und zwei Drittel geben an, im Großen und Ganzen zufrieden mit ihrem Arbeitsplatz zu sein. Arbeitgeber sollten also ihren Blick nicht nur auf die materiellen Vergütungsbestandteile richten, sondern auch weitere potenziell attraktivitätssteigernde Faktoren und nicht-monetäre Vergütungsbestandteile in Erwägung ziehen, beispielsweise flexible Arbeitszeitmodelle und Vertrauensarbeitszeit.

Thomas Müller ist Geschäftsführer der contec GmbH, Gabriele Moos ist Hochschulprofessorin am RheinAhrCampus der Hochschule Koblenz.


Freiwilligendienst

Ziemlich engagiert im Ruhestand




Wolfgang Hauck führt Besucher durch eine Ausstellung in der Pirmasenser Begegnungsstätte "Mittendrin".
epd-bild/Martin Seebald
Der Jungpensionär Wolfgang Hauck hat einen Bundesfreiwilligendienst in einer diakonischen Einrichtung absolviert und ein Jahr lang einen Seniorentreff organisiert. Beide Seiten profitierten davon.

Wolfgang Hauck schied als Telekom-Beamter vorzeitig aus dem Job. Möglich machte es das Programm "Engagierter Ruhestand" im Rahmen eines Bundesfreiwilligendienstes. Der heute 60-Jährige aus der Südwestpfalz war der erste Teilnehmer bei der Diakonie.

Hauck hilft nun 15 Stunden in der Woche ehrenamtlich weiter mit im Begegnungszentrum "Mittendrin" der pfälzischen Diakonie in Pirmasens. "Man braucht eine Beschäftigung und ein Ziel", sagt der ehemalige Telekom-Mitarbeiter aus Höheinöd im Landkreis Südwestpfalz.

Leiter des Seniorentreffs

Gemeinsam mit einer anderen Helferin organisierte er ein Jahr lang den Seniorentreff in der Einrichtung: Er besuchte ältere Menschen, veranstaltete Gesprächsrunden und Vorträge. Bereits Ende vergangenen Jahres hatte Hauck seinen Bundesfreiwilligendienst (BFD) abgeleistet, vermittelt hatte ihn das Referat für Freiwilligendienste der Diakonie in Speyer.

Abschlagsfrei war Hauck, der auch Presbyter in seiner Heimatgemeinde ist, aus seinem Job in das Programm "Engagierter Ruhestand" gewechselt - als erster Absolvent überhaupt im Bereich der pfälzischen Diakonie. Es bietet Beamtinnen und Beamten der Postnachfolgeunternehmen Deutsche Post, Postbank und Telekom ab 55 Jahren die Möglichkeit, früher in den Genuss des Ruhestands zu kommen. Voraussetzung: Sie müssen einen zwölfmonatigen Bundesfreiwilligendienst absolvieren, eine gemeinnützige Tätigkeit im Umfang von 1.000 Stunden verrichten oder einen Familienangehörigen pflegen.

Im Job als "unerwünschter Posten" gefühlt

Als Mittfünfziger habe er sich bei der Telekom als "unerwünschter Posten" gefühlt und sei gerne ausgeschieden, erzählt Hauck. Ursprünglich arbeitete er im Bereich Fernsprech-Entstörung und übernahm dann verschiedene Verwaltungstätigkeiten. Sein berufliches Wissen konnte der junge Ruheständler gut für sein Ehrenamt nutzen. Er kümmerte sich um Senioren, machte für sie Erledigungen, führte durch eine Fotoausstellung mit Ansichten von Alt-Pirmasens. Das Begegnungszentrum sei gerade für ältere Bewohner in der unter Armut und hoher Arbeitslosigkeit leidenden Stadt eine wichtige Adresse, sagt er. "Die Leute suchen einen Halt, eine Station, wo sie andocken können."

Mehr als 8.000 Besucherkontakte habe das vor zwei Jahren eröffnete "Mittendrin" im vergangenen Jahr gezählt - und sei deshalb sehr dankbar für den Einsatz von älteren Ehrenamtlichen, sagt Sozialpädagogin Hanna Neu. Diese könnten in allen Arbeitsbereichen ihre Lebenserfahrung einbringen und das hauptamtliche Team ergänzen. Die BFD-Absolventen höheren Lebensalters bildeten eine Schnittstelle zu älteren Bürgerinnen und Bürgern in der Stadt.

Damit die Ehrenamtlichen des Diakonischen Werks sich bei ihrer Tätigkeit wohlfühlen, werden sie betreut. Regelmäßig gibt es Seminare, wo sie sich gegenseitig austauschen und mögliche Sorgen ansprechen können. Ein 65-jähriger Nachfolger von Wolfgang Hauck kümmert sich derzeit um die Gäste des Begegnungszentrums.

Besonders den Austausch mit den meist jüngeren Teilnehmerinnen und Teilnehmern bei Seminartagen schätzte BFD-Absolvent Hauck. "Es war ein offenes Miteinander", erinnert er sich. Wichtig sei es für ältere Menschen, die sich für den ehrenamtlichen Dienst interessieren, dass sie auf andere offen zugehen und gut zuhören könnten, sagt er.

Seine Frau, Freunde und Bekannte hätten seinen Einsatz als "engagierter Ruheständler" übrigens prima gefunden. Einen solchen Dienst würde er jederzeit wieder machen, versichert Wolfgang Hauck. "Es bringt einem selbst etwas, und man lernt viele Leute kennen."

Alexander Lang


Medizinforschung

Belege für Contergan-Experimente an Kindern aufgetaucht




Verheerendes Medikament: Contergan Tabletten
epd-bild/Joke /Jörg Loeffke
Contergan hat wegen dramatischer Nebenwirkungen den größten Arzneimittelskandal der bundesdeutschen Geschichte ausgelöst. Neue Recherchen haben nun ergeben, dass das Beruhigungsmittel unter anderem in Rheinland-Pfalz an Kindern getestet wurde - auch in Caritas-Einrichtungen.

Das für schwere Fehlbildungen bei rund 10.000 Babys verantwortliche Schlafmittel Contergan ist offenbar noch 1960 an Kindern gestestet worden. Das ARD-Politikmagazin "Report Mainz" berichtete am 18. August nach Recherchen über mehrere Studien. Man habe Hinweise darauf gefunden, dass Kindern im Alter zwischen zwei und 14 Jahren teilweise gezielt Überdosen des Medikaments verabreicht wurden.

Die Experimente fanden demnach unter anderem in der Caritas-Lungenheilanstalt "Maria Grünewald" im rheinland-pfälzischen Wittlich an tuberkulosekranken Patienten aus dem gesamten Bundesgebiet statt. Zum Zeitpunkt der Medikamententests habe es bereits zahlreiche Hinweise auf schwere Nebenwirkungen von Contergan gegeben.

Kinderarzt aus Stuttgart ebenfalls involviert

Auch ein Kinderarzt aus Stuttgart soll das Beruhungsmittel zu Testzwecken Säuglingen verabreicht haben. Trotz intensiver Recherche fand die "Report Mainz"-Redaktion keine Unterlagen darüber, welche Kinder an den Tests teilgenommen haben. Hinweise darauf, dass das Einverständnis von Eltern eingeholt wurde, habe es ebenfalls nicht gegeben. Die Abschlussstudie zu den Untersuchungen in Wittlich vermerkte lediglich leichte Nebenwirkungen. Mögliche Langzeitfolgen bei den Kindern wurden offenbar nicht dokumentiert.

Der katholische Trierer Weihbischof und Vorsitzende des Caritasverbandes für die Diözese Trier, Franz Josef Gebert, sagte dem Magazin, man habe nichts von den Versuchen gewusst und sei erschüttert. Er versprach, die Geschehnisse aufzuklären und bat um Entschuldigung für "Fehler, die unter dem Namen der Caritas passiert sind." Auch der Contergan-Hersteller Grünenthal äußerte sein Bedauern. Aus heutiger Sicht seien Medikamentenstudien an Kindern nicht mehr nachzuvollziehen, hieß es.

Caritas verspricht Aufklärung

Der Caritas-Verband der Diözese Trier teilte dem epd auf Nachfrage mit, es sei unklar, ob und welche Vereinbarungen den Tests zugrunde gelegen haben. Gemeinsam mit der St. Raphael Caritas Alten- und Behindertenhilfe GmbH, dem jetzigen Träger der Einrichtung in Wittlich, und dem damals für die Betreuung der Kinder verantwortlichen Orden der Armen Dienstmägde Jesu Christi, werde versucht, die Vorgänge zu recherchieren. Die einstige Heilanstalt für lungenkranke Kinder in Wittlich sei bereits 1972 in eine Einrichtung der Behindertenhilfe umgewandelt worden.

Das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan war von 1957 bis 1961 auf dem Markt. Bei der Zulassung des Medikaments war nicht bekannt, dass der Wirkstoff Thalidomid fatale Folgen für die Entwicklung von Embryos hat. Schwangere, die das rezeptfrei erhältliche Mittel auch gegen Übelkeit einnahmen, brachten Kinder mit schweren Missbildungen an Armen und Beinen zur Welt. Die Contergan-Affäre gilt als folgenschwerster Arzneimittelskanal in der Geschichte der Bundesrepublik.

Karsten Packeiser


Corona

Flüchtlingshelfer: Pandemie bremst Asylsuchende aus



Der coronabedingte Lockdown hat die Lage von Asylsuchenden auch in Deutschland offenbar verschärft. So sei es viel schwieriger geworden, mit den Ausländerbehörden in Kontakt zu treten und den Aufenthaltsstatus zu klären, sagte der Direktor des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes in Deutschland, Pater Claus Pfuff. Über eine längere Zeit sei es nicht möglich gewesen, bei einer Ausländerbehörde persönlich vorzusprechen.

"Häufig konnten Anträge nur online gestellt werden", sagte Pfuff in Berlin dem Evangelischen Pressedienst (epd). Dies sei für Menschen ohne entsprechende Technik fast unmöglich gewesen. Durch das Homeoffice vieler Sachbearbeiter, konnten Probleme und Fragen nicht durch den persönlichen Kontakt geklärt werden, sagte der Leiter des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes. Die weltweit tätige katholische Hilfsorganisation engagiert sich in Deutschland für Abschiebungshäftlinge und Menschen mit unsicherem oder ohne Aufenthaltsstatus.

Von Pontius zu Pilatus

Als wiederkehrendes Problem mit Ausländer- und Sozialbehörden nannte Pfuff die Frage der Zuständigkeit: "Dann werden Menschen buchstäblich von Pontius zu Pilatus und zurückgeschickt, weil jede Behörde erst einmal für sich die Übernahme des Falles ablehnt." Zudem würden die Gründe für viele Behördenentscheidungen "nicht so kommuniziert, dass sie die Betroffenen verstehen könnten". Wer einmal einen ausländer- oder flüchtlingsrechtlichen Bescheid gelesen hat, der wisse, wie verquast und selbst für deutsche Muttersprachler unverständlich dort die Sprache sein könne, sagte Pfuff.

Ähnliches gelte häufig für die Argumentation: So müsse immer wieder auch deutschen Helfern erklärt werden, dass Ausländerrecht mit gesundem Menschenverstand wenig zu tun habe, kritisierte Pfuff: "Mit normaler Logik kommt man in Asylverfahren oder bei aufenthaltsrechtlichen Fragen häufig nicht weiter." Auch Sprachprobleme stünden häufig einer effizienten Kommunikation mit Behörden und Gerichten wegen fehlender Englisch-Kenntnisse der Mitarbeiter entgegen. Asylsuchende reagierten angesichts dieser Hürden oft "frustriert, verängstigt, ratlos". Manche würden dadurch erneut traumatisiert.

Pfuff kritisierte, dass Vorschriften im Ausländer- und Asylrecht für Behörden und Betroffene oft unverständlich seien. Der Gesetzgeber sollte aufhören, "im ständigen Schweinsgalopp dauernd die Vorschriften zu ändern". Stattdessen sollten vorhandene Vorschriften erst einmal in ihrer praktischen Wirkung überprüft werden, bevor man über Änderungen nachdenkt. Viele Mitarbeiter bei Behörden und Gerichten seien durchaus gutwillig, aber die sich ständig ändernde Gesetzes- und Vorschriftenlage mache es auch für sie ungemein schwierig.



Krankenhäuser

Jede fünfte Klinik ruft Gelder für Familienfreundlichkeit ab



Die gesetzlichen Krankenkassen haben nach Angaben des GKV-Spitzenverbands im vergangenen Jahr Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf mit 7,8 Millionen Euro gefördert. Die von der Bundesregierung mit dem Pflegepersonal-Stärkungsgesetz zur Verfügung gestellten Mittel wurden von 213 der förderfähigen rund 1.030 Krankenhäuser abgerufen, wie aus einem Bericht des GKV-Spitzenverbands hervorgeht. Das entspreche etwa 20 Prozent der Kliniken, die die Voraussetzungen zur Teilnahme an dem Programm erfüllten.

Bisher seien vor allem Maßnahmen zur Sicherstellung der Kinderbetreuung und Pflege von Angehörigen sowie zur Einführung flexibler Arbeitszeitmodelle unterstützt worden, hieß es. Die Hälfte der jeweiligen Maßnahme werde von den Krankenkassen finanziert, die andere Hälfte müssten die Häuser selbst tragen.

Ziel der Förderung sei, bessere Arbeitsstrukturen für Pflegekräfte und Hebammen zu schaffen und damit dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, erklärte der GKV-Spitzenverband. "Attraktive Arbeitsbedingungen sind besonders in Pflege-Berufen wichtig und können helfen, mehr Krankenhauspersonal zu gewinnen", sagte Stefanie Stoff-Ahnis vom Vorstand der GKV.

Kritik der Linken

Bernd Riexinger, Vorsitzender der Linkspartei, sagte , die Bundesregierung mache hier beispielhaft vor, wie man ein sinnvolles Instrument vor die Wand fährt. "Wegen den hohen Eigenanteilen verzichten sich die auf Wirtschaftlichkeit getrimmten Krankenhäuser mehrheitlich auf die Unterstützung des Bundes." Der Eigenanteil gehöre abgeschafft. "Das Grundproblem ist hier die Profitorientierung der Krankenhäuser. Mehrkosten für Personal werden von den unter hartem Wirtschaftlichkeitsdruck stehenden Häusern nur im äußersten Notfall in Kauf genommen", so der Linke.



Kirchen

Evangelisches Siedlungswerk will bezahlbar bauen



Mehr als 1.800 neue Wohneinheiten und Investitionen in Höhe von 540 Millionen Euro will das Evangelische Siedlungswerk (ESW) bis ins Jahr 2029 bayerweit schaffen. Wie das nachhaltig und gleichzeitig bezahlbar geschehen kann, erklärten die beiden Geschäftsführer Hannes B. Erhardt und Robert Flock am 18. August bei der Jahrespressekonferenz in Fürth.

Seit April 2019 entstehen auf dem ehemaligen Norma-Gelände im Fürther Stadtteil Hardhöhe auf 18.572 Quadratmetern 190 Mietwohnungen, eine Kita, ein Wohnprojekt sowie Tiefgaragenplätze mit Gesamtkosten von rund 54,5 Millionen Euro. Rund 600 Menschen sollen hier leben, wenn das Projekt "Westwinkel" im Frühjahr 2021 abgeschlossen ist. Für den vierten Bauabschnitt mit 38 Wohnungen in Holzhybridbauweise strebt das ESW ein "Gold"-Zertifikat der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltigkeit an.

Aktiv in Erlangen, Nürnberg, Augsburg und München

Im Erlanger Stadtteil Büchenbach baut das ESW derzeit 88 Mietwohnungen, von denen 58 öffentlich gefördert sind. Ab Herbst 2020 entsteht im Nürnberger Stadtteil Wöhrd ein Neubau mit 45 Mietwohnungen, im Stadtteil Lichtenreuth 86 weitere einkommensgeförderte Wohnungen, wie auch rund 95 im Nürnberger Westen. Im Münchener Norden will das ESW 159 Wohnungen durch Aufstockung eines bestehenden und Neubau eines Gebäudes schaffen. In Augsburg will das ESW Studentenwohnungen sowie eine evangelische Schule bauen. Nicht zuletzt sollen im Frühsommer 2021 die neuen Büroräume am Nürnberger Hans-Sachs-Platz bezogen werden.



Hamburg

Armutskonferenz deckt "Hartz-IV-Tafel" und fordert Regelsatzerhöhung



Die Landesarmutskonferenz (LAK) Niedersachsen hat am 17. August in Hannovers Innenstadt mit einer Aktion auf wachsende Armut aufmerksam gemacht und eine Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes um 100 Euro gefordert. Eine "Hartz-IV-Tafel", gedeckt mit Lebensmitteln vom Discounter, sollte veranschaulichen, dass eine gesunde Ernährung mit dem Regelsatz kaum finanzierbar ist.

Laut LAK stehen rechnerisch 5,02 Euro am Tag für Lebensmittel zur Verfügung. Entsprechend sei die geplante Regelsatz-Erhöhung für 2021 um 7 Euro auf 439 Euro für Alleinlebende viel zu gering: "Das entspricht 23 Cent pro Tag: dem Preis für ein Ei", kritisiert der Geschäftsführer der LAK Klaus-Dieter Gleitze.

Zu den Forderungen zählen außerdem ein einmaliges Corona-Geld in Höhe von 1.000 Euro für Arme zur Deckung von Corona-Sonderausgaben, kostenlose Corona-Masken und Tests für Bedürftige sowie die Anmietung von Hotels zur Unterbringung von Obdach- und Wohnungslosen vor dem Winterbeginn. Zudem plädiert die LAK für eine Vermögensabgabe von Superreichen zur sozial gerechten Bewältigung der Corona-Krisenfolgen.



Medien

Richtfest für Hamburger Straßenzeitung "Hinz&Kunzt"



Die Hamburger Straßenzeitung "Hinz&Kunzt" bekommt ein neues Haus für Redaktion, Vertrieb und Sozialarbeit. Der Umzug aus der City in das Stiftsviertel im Stadtteil St. Georg ist für Sommer 2021 geplant - am 14. August wurde Richtfest gefeiert. Direkt nebenan baut die Amalie Sieveking-Stiftung 70 überwiegend öffentlich geförderte Seniorenwohnungen, eine Pflegewohnung sowie eine Wohnpflegegemeinschaft. Auch hier wurde Richtfest gefeiert. Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) sprach von "kultureller und sozialer Vielfalt im Quartier". Mit der Einbindung von "Hinz&Kunzt" entstehe "ein wirklich integratives Projekt mit großer Strahlkraft", sagte sie.

Die neue Geschäftsstelle für "Hinz&Kunzt" wird für rund sechs Millionen Euro von der Mara und Holger Cassens Stiftung als Bauherrin und künftige Vermieterin errichtet. Auf dem Gelände an der Minenstraße 9 sollen zugleich sechs Wohngemeinschaften für 24 ehemals wohnungslose "Hinz&Kunzt"-ler entstehen.

Der Neubau der Amalie Sieveking-Stiftung entsteht für rund 15 Millionen Euro in dem denkmalgeschützten Ensemble rund um das erste Amalienstift aus der Zeit um 1840. Die Wohnpflegegemeinschaft soll ambulant betreuten Wohnraum für Menschen mit Demenz bieten - in bester Hamburger Innenstadtlage. Mit dem Modellprojekt "Pflegewohnung auf Zeit" probiert die Stiftung zusätzlich ein neues Konzept aus, das Menschen mit kurzzeitigem Pflegebedarf aus dem Stadtteil nutzen können.




sozial-Recht

Bundesverfassungsgericht

Bund muss Patientenauswahl bei Klinikengpässen vorerst nicht regeln




Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe
epd-bild/Joerg Donecker
Bei zu geringen Klinikkapazitäten im Zuge der Covid-19-Pandemie muss vorerst nicht gesetzlich festlegt werden, welche Patienten einen vorrangigen Behandlungsanspruch haben. Einen entsprechenden Eilantrag neun behinderter Menschen wies das Bundesverfassungsgericht ab.

Bei einer zu knappen Zahl an Klinikbetten wegen der Covid-19-Pandemie können behinderte "gebrechliche" Menschen bei der ärztlichen Behandlung jedenfalls vorerst das Nachsehen haben. Wie das Bundesverfassungsgericht in einem am 14. August veröffentlichten Beschluss entschied, kann im Eilverfahren noch nicht geklärt werden, ob Bund und Länder gesetzliche Regelungen treffen müssen, wie eine faire Patientenauswahl bei zu geringen Klinikkapazitäten erfolgen muss.

Hintergrund des Rechtsstreits sind im April 2020 veröffentlichte "Klinisch-ethische Empfehlungen" der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, ein Zusammenschluss mehrerer medizinischer Fachgesellschaften. In der erarbeiteten Leitlinie wird aufgeführt, wie bei Versorgungsengpässen jene Patienten ausgewählt werden können, die als erstes behandelt werden sollten. Die Patientenauswahl soll nach "ethischen Grundsätzen" und nicht diskriminierend erfolgen.

Leitlinie als Hilfestellung zur Entscheidung

Die Leitlinie soll für das behandelnde und oft unter Zeitdruck stehende medizinische Personal Hilfestellung bei der Frage geben, wer bei knappen Ressourcen eine lebensrettende Behandlung erhält und wer nicht. Hierfür wird bei jedem Patienten ein Punkteschema über Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Behandlung erstellt.

Die neun Beschwerdeführer, darunter der Inklusionsaktivist Raul Aguayo-Krauthausen und Constantin Grosch, Vorsitzender der Aktionsplattform AbilityWatch, die die Verfassungsbeschwerde unterstützen, rügten, dass behinderte Menschen bei der Triage ins Hintertreffen geraten. Sie würden bei zu knappen Behandlungskapazitäten nicht gleich behandelt werden wie nicht behinderte Personen. Das von den Medizinern entwickelte Triage-Verfahren führe dazu, dass bei Menschen mit etwa neuronalen Muskelerkrankungen oder als "gebrechlich" geltende Personen ein statistisch geringerer Behandlungserfolg angenommen werde.

Kritik an zu pauschalen Vorgaben

Die Kriterien seien aber viel zu pauschal, argumentieren die Beschwerdeführer. Im Ergebnis würde fast jeder ältere Mensch oder Behinderte einen schlechteren Punktwert erhalten. Die Chance auf eine intensivmedizinische Behandlung sei für diese Personengruppe daher erkennbar geringer. Betroffenen "gebrechlichen" Patienten könne sogar ein Beatmungsgerät wieder abgenommen werden, wenn ein anderer Patient mit besseren Erfolgsaussichten in die Klinik kommt. Insgesamt liege mit der Triage eine mittelbare Diskriminierung wegen der Behinderung vor, hieß es.

Per Eilantrag beim Bundesverfassungsgericht wollten die Beschwerdeführer nun den Gesetzgeber dazu zwingen, dass dieser verbindliche und diskriminierungsfreie Kriterien gesetzlich festlegt.

Ob und wie der Staat solche Regelungen treffen kann, wann bei Behandlungsengpässen bestimmte Patienten zuerst behandelt werden und wann nicht, könne im Eilverfahren aber nicht geklärt werden, entschied das Bundesverfassungsgericht. Die Beschwerde werfe schwierige Fragen zur staatlichen Schutzpflicht auf und ebenso dazu "wie weit der Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei Regelungen medizinischer Priorisierungsentscheidungen reicht".

Unwahrscheinlich, dass Triage zur Anwendung kommt

"Dass momentan erkennbare Infektionsgeschehen und die intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten lassen es in Deutschland derzeit nicht als wahrscheinlich erscheinen, dass die Situation der Triage eintritt“, heißt es in dem Beschluss. Daher komme eine einstweilige Anordnung zur Zeit nicht infrage, befand das Gericht.

Auch das von den Beschwerdeführern vorgeschlagene Fachgremium, das unter Beteiligung behinderter Menschen Regelungen zur Auswahl treffen könne, helfe nicht weiter. "Ein solches Gremium hätte nicht die Kompetenz, verbindliche Regelungen zu verabschieden, auf die es den Beschwerdeführenden gerade ankommt."

Auch Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz sagte, dass "weder ein außerparlamentarisches Gremium noch Fachgesellschaften legitimiert" seien, "bei Versorgungsengpässen die Verteilung von Lebenschancen festzulegen. Jetzt ist der Bundestag in der Pflicht, ein ethisches Regelwerk zu erlassen. Denn nur die Abgeordneten haben das Recht, verbindliche gesetzgeberische Entscheidungen zu treffen", sagte Brysch.

Die Kanzlei "Menschen und Rechte", die die neun Beschwerdeführer vertritt, bewertete die jetzige Entscheidung als grundsätzlich positiv. "Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gemacht, dass es die weitreichende Bedeutung dieser Fragen erkannt hat", erklärte Rechtsanwalt Oliver Tolmein in Hamburg. Die Fragen könnten nun im Hauptsacheverfahren geklärt werden.

Az.: 1 BvR 1541/20

Frank Leth


Bundesverfassungsgericht

Sorgerechtsentzug wegen permanenter Überforderung des Kindes



Eltern können für ihr in der Entwicklung beeinträchtigtes Kind keine Integration in der Regelschule um jeden Preis verlangen. Ist mit der Regelbeschulung das Kindeswohl gefährdet, weil etwa das Kind permanent traurig ist und Suizidgedanken äußert, kann dies Grund für die teilweise Entziehung des Sorgerechts sein, entschied das Bundesverfassungsgericht in einem am 14. August veröffentlichten Beschluss. Die Karlsruher Richter wiesen damit den Antrag einer alleinerziehenden Mutter und ihrer minderjährigen Tochter auf einstweilige Anordnung ab, den vom Amtsgericht bestimmten teilweisen Entzug der elterlichen Sorge vorerst auszusetzen.

Im Streitfall ging es um eine 2005 geborene Schülerin, die in ihrer Entwicklung beeinträchtigt ist. Das Mädchen hatte kurze Zeit das Gymnasium besucht, das sie aber wegen erheblicher Konflikte verlassen musste. Doch auch auf der Realschule plus in Rheinland-Pfalz kam sie nicht zurecht. Es wurde ein Intelligenzquotient von 70 und 74 ermittelt und sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt. Die Schülerin fühlte sich in der Regelschule überfordert, sie äußerte Suizidgedanken.

Amt sah Kindeswohl in Gefahr

Das Jugendamt sah daher das Kindeswohl gefährdet. Das Mädchen sei viel besser in einer Förderschule aufgehoben. Als die Mutter sich dem verweigerte, entzog das Amtsgericht ihr teilweise das Sorgerecht. Ein Ergänzungspfleger sollte sicherstellen, dass das Kind eine Förderschule besuchen kann. Per einstweiliger Anordnung wollten Mutter und Tochter den teilweisen Entzug der Sorge kippen.

Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass die Verfassungsbeschwerde der Mutter zwar nicht offensichtlich unbegründet sei. Dennoch habe die Entscheidung über den teilweisen Entzug des Sorgerechts bis Abschluss des Hauptverfahrens Bestand. Die Fachgerichte hätten festgestellt, dass die Mutter permanent ihr Kind überfordere, damit dieses die Regelschule schaffe. Die dadurch bedingten Beeinträchtigungen des Kindeswohls würden schwerer wiegen als ein gegen den Willen der Mutter durchgeführter Schulwechsel zu einer Förderschule.

Az.: 1 BvR 1525/20



Bundesverfassungsgericht

Verweigerung des gemeinsamen Sorgerechts nur mit guten Gründen



Eine getrennt lebende unverheiratete Mutter kann das gemeinsame elterliche Sorgerecht mit ihrem Ex-Partner nur mit guten Gründen verweigern. Allein die Befürchtung der Mutter, dass sie ihrem Ex-Partner für notwendige Unterschriften zu Belangen des Kindes "hinterherlaufen" muss, spricht nicht gegen die Einrichtung eines gemeinsamen Sorgerechts, entschied das Bundesverfassungsgericht in einem am 13. August veröffentlichten Beschluss. Werden keine weiteren Gründe von der Mutter geltend gemacht, müssen Gerichte dem Vater für einen Sorgerechtsstreit Verfahrenskostenhilfe gewähren, erklärten die Karlsruher Richter.

Konkrete Meinungsverschiedenheiten

Im Streitfall lag ein unverheirateter, getrennt lebender Vater aus Rostock mit seiner früheren Lebenspartnerin über das Umgangsrecht und dem allgemeinen Sorgerecht für den mittlerweile dreijährigen Sohn im Streit. Die Mutter lehnte das allgemeine Sorgerecht ab, weil sie sonst befürchtete, auf notwendige Unterschriften zu Kindesangelegenheiten ihrem Ex-Partner zu lange warten zu müssen. Unter Umständen sei sie in einem halben Jahr für ein allgemeines Sorgerecht bereit. Konkrete Meinungsverschiedenheiten mit dem Vater konnte sie nicht benennen.

Gerichtlich wurden schließlich Umgangsregelungen vereinbart. Um auch das allgemeine Sorgerecht durchsetzen zu können, hatte der Vater zuvor Verfahrenskostenhilfe beantragt.

Das Oberlandesgericht (OLG) Rostock lehnte diese ab. Es gebe offenkundig Kommunikationsprobleme mit der Mutter, was sich auf das Kindeswohl auswirke.

"Schwerwiegende Störung"

Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass dem Vater zu Unrecht die Verfahrenskostenhilfe verweigert wurde. Bei unverheirateten, getrennten Paaren könne die gemeinsame Sorge bei einer "schwerwiegenden und nachhaltigen Störung auf der Kommunikationsebene" abgelehnt werden.

Allein die Ablehnung der Mutter und ihr Argument, nicht Unterschriften hinterherlaufen zu wollen, sei aber keine "schwerwiegende Störung". Für die Übertragung der gemeinsamen elterlichen Sorge genüge es, dass der andere Elternteil keine Gründe dagegen vorbringt. Hier habe die Mutter selbst keine schwierige Kommunikation mit ihrem Ex-Partner benannt und sogar die gemeinsame Sorge in Zukunft in Aussicht gestellt. Da das Sorgerechtsverfahren damit erfolgversprechend sei, hätte das OLG dem Vater Verfahrenskostenhilfe bewilligen müssen. Darüber müsse dieses nun neu entscheiden.

Az.: 1 BvR 631/19



Bundesgerichtshof

Auslandsehe mit einer 16-Jährigen kann nicht immer aufgehoben werden



Eine im Ausland geschlossene Ehe mit einer 16-Jährigen kann von deutschen Behörden nicht ohne weiteres aufgehoben werden. Lebt die Jugendliche nach ihrer Eheschließung und nach Erreichen ihrer Volljährigkeit mit ihrem Ehemann viele Jahre in Deutschland, spricht dies dafür, dass sie die Ehe auch weiter gewünscht hat, entschied der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe in einem am 14. August veröffentlichten Beschluss.

Zum 22. Juli 2017 hat der Gesetzgeber festgelegt, dass im Ausland geschlossene Kinderehen in Deutschland nicht gelten. Danach sind Ehen, bei denen ein Ehepartner zum Zeitpunkt der Heirat unter 16 Jahre alt ist, generell unwirksam. Bei einer Eheschließung zwischen dem 16. und 18. Lebensjahr "kann" nach diesem Gesetz die Ehe wieder aufgehoben werden. Eine Aufhebung durch ein Gericht ist dann aber ausgeschlossen, wenn klar ist, dass der minderjährige Ehegatte nach Erreichen seiner Volljährigkeit die Ehe fortsetzen will.

13 Jahre Ehe und vier gemeinsame Kinder

Im Streitfall hatte ein aus dem Libanon stammendes muslimisches Paar 2001 geheiratet. Zur Hochzeit war der Mann 21 und die Frau 16 Jahre alt. Nach ihrer Einreise in Deutschland lebte das Paar über 13 Jahre zusammen und bekam vier Kinder. Danach trennte sie sich von ihrem Mann und lebte mit ihrem neuen Lebensgefährten zusammen. Im Zuge einer standesamtlichen Beurkundung teilte die Frau auf Nachfrage der Standesbeamtin mit, dass sie ihre Ehe nicht fortsetzen wolle. Daraufhin beantragte die Behörde beim Amtsgericht die Aufhebung der Ehe. Die Ehefrau sei bei der Eheschließung minderjährig gewesen, lautete die Begründung.

Doch das muss noch kein Grund zur Aufhebung der Ehe sein, befand der BGH. Nach dem Gesetz "kann" die Ehe aufgehoben werden, wenn ein Ehepartner zum Zeitpunkt der Eheschließung zwischen 16 und 18 Jahre alt ist. Letztlich müsse ein Gericht entscheiden, ob hier die Ehe von der Frau auch nach ihrer Volljährigkeit noch gewollt war. Im Streitfall habe die Frau über 13 Jahre mit ihrem Ehemann zusammengelebt und vier Kinder gezeugt. Dies spreche dafür, dass die Ehe von der Frau gewollt war. Eine Aufhebung der Ehe, weil diese als 16-Jährige geschlossen wurde, sei dann nicht möglich. Um die Ehe zu beenden, könne die Frau sich nur noch scheiden lassen.

Die gesetzliche Regelung, wonach im Ausland geschlossene Ehen mit unter 16-jährigen Partnern, in Deutschland generell als unwirksam gelten, hielt der BGH in einem früheren Beschluss vom 14. Dezember 2018 für verfassungswidrig (Az,: XII ZB 292/16). Über das Verfahren will das Bundesverfassungsgericht noch dieses Jahr entscheiden (Az.: 1 BvL 7/18)

Az.: XII ZB 131/20



Landesarbeitsgericht

Arbeitgeber muss Pflegerin täglich 21 Stunden Arbeitszeit vergüten



Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg hat den Arbeitgeber einer bulgarischen Pflegerin dazu verpflichtet, ihr täglich 21 Stunden Arbeitszeit zu vergüten. Die Klägerin wurde nach Angaben des Gerichts vom 17. August nach Deutschland geholt, um eine hilfsbedürftige 96-jährige Dame rund um die Uhr zu betreuen. Sie war gehalten, in der Wohnung der Dame zu wohnen und zu übernachten. In ihrem Arbeitsvertrag war aber nur eine Arbeitszeit von 30 Stunden wöchentlich vereinbart.

Die angesetzte Zeit von 30 Stunden wöchentlich sei für das zugesagte Leistungsspektrum im vorliegenden Fall unrealistisch, urteilte das Landesarbeitsgericht.

Auch Bereitschaftsdienst berücksichtigt

Die zuerkannte vergütungspflichtige Zeit ergebe sich daraus, dass neben der geleisteten Arbeitszeit für die Nacht von vergütungspflichtigem Bereitschaftsdienst auszugehen sei. Da es der Klägerin jedoch zumutbar gewesen sei, sich in einem begrenzten Umfang von geschätzt drei Stunden täglich den Anforderungen zu entziehen, sei eine vergütungspflichtige Arbeitszeit von täglich 21 Stunden anzunehmen.

Mit ihrer Klage hatte die Pflegerin Vergütung von 24 Stunden täglich für mehrere Monate gefordert und zur Begründung ausgeführt, sie sei in dieser Zeit von 6 Uhr morgens bis etwa 22/23 Uhr im Einsatz gewesen und habe sich auch nachts bereithalten müssen. Der Arbeitgeber hatte die behaupteten Arbeitszeiten bestritten und sich auf die arbeitsvertraglich vereinbarte Arbeitszeit von 30 Stunden berufen. Eine Revision des Urteils zum Bundesarbeitsgericht ist zugelassen.

Az.: 21 Sa 1900/19



Landessozialgericht

Unfallschutz gilt auch bei Entsendung ins Ausland



Der gesetzliche Unfallversicherungsschutz gilt auch für die zeitlich befristete Entsendung eines fest angestellten Arbeitnehmers ins Ausland. Entsprechend sei der Unfall eines beim Zoo Leipzig beschäftigten Tierpflegers, der für eine Tätigkeit in einem Projekt in Vietnam freigestellt war, als Arbeitsunfall anzuerkennen, entschied das Hessische Landessozialgericht Darmstadt in einem am 17. August veröffentlichen Urteil. Die Revision wurde nicht zugelassen.

Der 1982 geborene Tierpfleger war nach Angaben des Gerichts 2009 vom Zoo Leipzig für ein Ausbildungsprojekt in einen vietnamesischen Nationalpark entsandt worden. Während einer Exkursion erlitt er einen Unfall, in dessen Folge sein linkes Bein teilamputiert wurde. Die Unfallkasse lehnte die Anerkennung als Arbeitsunfall ab. Der Tierpfleger sei bei dem vietnamesischen Nationalpark beschäftigt gewesen und gehöre daher nicht zum gesetzlich unfallversicherten Personenkreis. Der Mann klagte und verwies darauf, dass der Zoo Leipzig, der seit 2007 Personal an den Park entsende, seine Tätigkeit in Vietnam bezahlt habe.

Urteil aufgehoben

Bereits 2013 entschied das Hessische Landessozialgericht, dass ein Arbeitsunfall vorliege. Trotz der Freistellungsvereinbarung zwischen dem verunglückten Tierpfleger und dem Zoo Leipzig habe das Beschäftigungsverhältnis auch während der Tätigkeit in Vietnam fortbestanden. Das Bundessozialgericht hob das Urteil auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landessozialgericht zurück. Es könne aufgrund der erfolgten Feststellungen nicht beurteilen, ob und gegebenenfalls zu wem der Tierpfleger zum Unfallzeitpunkt in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden habe.

Nach weiteren Ermittlungen stellte das Landessozialgericht erneut einen Arbeitsunfall fest. Der Tierpfleger sei auch während seines Aufenthalts in Vietnam bei dem Zoo Leipzig beschäftigt gewesen. Der Zoo habe ein eigenes Interesse bezüglich der Arbeit des Tierpflegers in Vietnam gehabt, der westliche Standards in der Tierpflege habe einführen und vietnamesische Tierpfleger entsprechend habe ausbilden sollen.

Az.: L 3 U 105/16 ZVW




sozial-Köpfe

Parteien

Frank Bsirske will für die Grünen in den Bundestag




Frank Bsirske bei einer Plakataktion im Jahr 2013
epd-bild / Rolf Zöllner
Einer der prominentesten Gewerkschafter Deutschlands will für Niedersachsens Grüne in den Bundestag: Der langjährige Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, Frank Bsirske, peilt Medienberichten zufolge eine Kandidatur an.

Bsirske (68) will das Direktmandat im Wahlkreis Helmstedt-Wolfsburg erringen. Mit einem bekannten Gewerkschafter wie ihm könnten die Grünen erstmals eine realistische Chance haben, in der Gegend die Vormachtstellung von CDU und SPD zu brechen, so das Kalkül.

Der Ex-Gewerkschaftschef lebt noch in Berlin und ist schon lange Mitglied der Partei Bündnis 90/Die Grünen. Einen kurzen kommunalpolitischen Kontakt zur Parteiarbeit hatte Bsirske bereits: 1987 bis 1989 war Fraktionsmitarbeiter der Grünen Alternativen Bürgerliste im Rat der Landeshauptstadt Hannover.

Frank Bsirske stammt aus Helmstedt und ist in Wolfsburg zur Schule gegangen. 1971 machte er hier Abitur. Sein Vater arbeitete für VW. Der studierte Politikwissenschaftler stand von dem Jahr 2000 an, als die ehemalige Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehrt (ÖTV) in ver.di aufging, bis September 2019 als Bundesvorsitzender an der Spitze der Gewerkschaft. Daraufhin war Frank Werneke von den Delegierten zum neuen Vorsitzenden der Gewerkschaft gewählt worden.

Bsirske prägte in seiner Amtszeit die Gewerkschaft, galt an der Basis als überaus beliebt, auch weil die Interessen der Mitglieder stets konsequent und kämpferisch vertrat.

Bei seiner offiziellen Verabschiedung im Oktober 2019 würdigte ihn auch Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU). Er erinnerte an den Mindestlohn, der 2015 eingeführt worden war - und in der Form wohl kaum ohne den Ver.di-Vorsitzenden, der zehn Jahre für die Lohnuntergrenze getrommelt hatte. Braun nannte den Mindestlohn einen "großen und leuchtenden Stern" in Bsirskes späten Jahren.



Weitere Personalien



Peter Kaiser ist nicht mehr Vorstand des evangelischen Diakoniewerks Zoar, das vor einigen Jahren in wirtschaftlicher Schieflage war. Der Träger habe sich mit sofortiger Wirkung von ihm getrennt, heißt es in einer Presseinformation. Der Verwaltungsrat habe "wegen unterschiedlicher Auffassungen über die Zukunft von Zoar, auch angesichts der Vielzahl der Projekte" am 17. August die Freistellung Kaisers beschlossen. Er stand seit 2011 an der Spitze des Werks. Zunächst bildete Kaiser eine Doppelspitze mit Pfarrer Martin Bach, der Anfang 2014 zur Theodor-Fliedner-Stiftung wechselte. Bis zum August 2015 führte er daraufhin das Werk alleine. Dann berief der Verwaltungsrat Martina Leib-Herr zusätzlich in den Vorstand. Zu den näheren Gründen für die Trennung von Kaiser wolle sich das Unternehmen in Kürze äußern, sagte Alexandra Koch, Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit, auf Anfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd).

Anja Piel (54), DGB-Bundesvorstandsmitglied, ist zur neuen alternierenden Vorsitzenden des Bundesvorstands der Deutschen Rentenversicherung gewählt worden. Damit ist deren Führungsspitze wieder komplett. Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter wechseln sich mit dem Vorsitz ab. Piel steht zusammen mit dem Arbeitgebervertreter Alexander Gunkel an der Spitze des Gremiums. Sie folgt auf Annelie Buntenbach, die nach 14 Jahren auf dem Posten in den Ruhestand gegangen war. Piel ist in ihrem Hauptamt im DGB-Bundesvorstand zuständig für die Bereiche Arbeitsmarkt-, Sozial- und Rechtspolitik sowie Antirassismus und Migration.

Claudia Fremder und Hubertus Jaeger, Vorstände der DGD-Stiftung, übernehmen am 1. September zusätzlich die Geschäftsführung der "Deutschen Gemeinschafts-Diakonieverband GmbH". Der bisherige Geschäftsführer Michael Gerhard orientiere sich beruflich neu und verlasse das Unternehmen zum 31. August, teilte die Stiftung in Marburg mit. Zur DGD GmbH unter dem Dach der DGD-Stiftung in Marburg gehören unter anderem die Kliniken Krankenhaus Sachsenhausen in Frankfurt am Main, die Klinik Hohe Mark in Oberursel, die Lungenklinik Hemer, das Diakonie-Krankenhaus in Marburg-Wehrda und die Fachklinik Haus Immanuel in Hutschdorf. Gerhard war seit 2004 Geschäftsführer. Die DGD-Stiftung ist Träger eines Verbundes diakonischer Gesundheitseinrichtungen. Die DGD-Stiftung gehört zur Diakonie Deutschland und zum Gnadauer Gemeinschaftsverband. Das Netzwerk Deutscher Gemeinschafts-Diakonieverband beschäftigt rund 3.000 Mitarbeiter.

Bruder Matthias Kollecker, stellvertretender Hausoberer am Katholischen Klinikum Koblenz·Montabaur, wurde von der Gesellschafterversammlung der Barmherzige Brüder Trier gGmbH zum 3. Juli aus dem Aufsichtsrat der BBT-Gruppe abberufen. "Bruder Matthias hat auf eigenen Wunsch die Ordensgemeinschaft verlassen. Nach einem längeren Entscheidungsprozess hat er dem Generalrat einen Antrag mit der Bitte um Auflösung seiner Ordensgelübde vorgelegt", erläuterte Bruder Benedikt Molitor, Vorsitzender der Gesellschafterversammlung und Generaloberer der Barmherzigen Brüder von Maria-Hilf, die Entscheidung. Die Gesellschafterversammlung dankte Kollecker für sein langjähriges Engagement im Aufsichtsrat. Die BBT-Gruppe gehört mit über 100 Einrichtungen und 14.000 Beschäftigten zu den großen christlichen Trägern von Krankenhäusern und Sozialeinrichtungen in Deutschland.

Maria Theis wird zum 1. September in die Geschäftsführung des Bethesda Krankenhauses Bergedorf in Hamburg eintreten. Sie wird die Geschäfte zunächst zusammen mit Margret von Borstel führen, die Ende November 2020 planmäßig in den Ruhestand gehen wird. Theis ist derzeit im Agaplesion Diakonieklinikum Hamburg als Prokuristin tätig und zugleich Geschäftsführerin des Agaplesion Diakonieklinikums Seehausen. Die gebürtige Koblenzerin lebt seit 15 Jahren in Hamburg. Theis hat im Gesundheitswesen viele Erfahrungen gesammelt: als Krankenschwester, als Mitarbeiterin einer Krankenversicherung und in verantwortlichen Positionen in Gesundheitsunternehmen.

Verena Götze (41) leitet seit diesem Monat die Pressestelle des Diakonischen Werkes Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz mit Sitz in Berlin-Steglitz. Götze sammelte bereits in ihrer zehnjährigen Tätigkeit in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei der Johanniter-Unfall-Hilfe Erfahrungen in der Verbandskommunikation. Einblicke in die Berliner Landespolitik erhielt die Soziologin bei ihrer letzten Tätigkeit als Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus. Götze folgt auf Susanne Gonswa.

Sigrid Klasmann, Geschäftsführerin der Kinderhilfe Oberland, ist in den Ruhestand verabschiedet worden. Der Geschäftsführer der Diakonie Herzogsägmühle und der Kinderhilfe Oberland, Wilfried Knorr, überreichte seiner langjährigen Co-Geschäftsführerin die Verdienstmedaille der Diakonie Herzogsägmühle und die Ehrennadel der Kinderhilfe Oberland. Auch bekam sie das Kronenkreuz in Gold der Diakonie für ihre 25-jährige Dienstzeit. Klasmann übernahm 2004 die Bereichsleitung der Jugendhilfe. Die Diplompädagogin aus Meppen an der Ems trat 2008 zusätzlich die Stelle als zweite Geschäftsführerin der Kinderhilfe Oberland neben Wilfried Knorr an. Ab 2010 war sie ausschließlich für die Kinderhilfe zuständig.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis September



Wir haben Tagungen, Seminare, Workshops und Webinare aufgelistet, die aktuell geplant sind. Wegen der Corona-Epidemie sagen Veranstalter allerdings Termine auch kurzfristig ab. Wir bitten unsere Leserinnen und Leser, dies zu beachten.

August

31.8.-2.9. Freiburg:

Seminar "Case-Management im Migrationsdienst der Caritas - Grundlagen"

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/2001700

September

3.9. Loccum:

Tagung "Pflege ist menschlich!?"

des Zentrums für Gesundheitsethik an der Evangelischen Akademie Loccum

Tel.: 0511/1241-496

4.9. Witten:

Digitale Tagung "Vielfalt Pflegewissenschaft"

der Universität Witten-Herdecke

Tel.: 02302/926-301

7.-8.9. Berlin:

Fortbildung " Recht auf Risiko?! - Selbstschädigendes Verhalten von Klient*innen im selbstbestimmten Wohnen"

der Fortbildungsakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/488 37-488

9.9. Kassel:

Seminar "Ausgliederung und Umstrukturierung beim Verein"

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 0711/25298921

8.-10.9. Berlin:

Seminar "Überzeugen können!"

der Fortbildungsakademie für Kirche zund Diakonie

Tel.: 030/20355-582

14.9. Berlin:

Seminar "Datenschutz für Home-Office, Zoom und Microsoft Teams"

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-159

14.9. Berlin:

Workshop "Wie wir Konflikte besser bewältigen - Qualifizierung für Migrationsfachdienste"

der AWO Bundesakademie

Tel.: 030/26309-0

14.-15.9.: Bergisch Gladbach:

Seminar "Krisen-PR in Verbänden und Einrichtungen - Vorbereitet sein und glaubwürdig bleiben"

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-1700

14.-15.9. Köln:

Seminar "Führung heute - ein Check-up für Führungskräfte"

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-159

14.-17.9. Eisenach:

35. Bundesweite Streetworktagung "Seit Corona ist alles anders - Neue Herausforderungen, Konzepte, Strategien, Lösungen"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/488 37-488

17.9. Hamburg:

Seminar "Heute schon gelobt? Anerkennung als Führungsinstrument"

des Paritätischen Hamburg

Tel.: 040/415201-66

17.-18.9.:

Onlineseminar "Recht und Urheberrecht im Umgang mit Social Media und Internet"

der AWO Bundesakademie

Tel.: 030/26309-0

17.-18.9.:

Online-Seminar "Arbeitsrecht für Leitungskräfte"

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 0711/25298921

21.-22.9. Eisenach:

Fortbildung "Werkstatt Gemeinwesendiakonie - Bilanz - Neue Ideen - Strategieentwicklung"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-488

23.9.: Remagen-Rolandseck:

Seminar "Häusliche Gewalt: Hinsehen - Erkennen - Ansprechen - Vermitteln"

der AWO Bundesakademie

Tel.: 030/26309-0

28.-29.9. Berlin:

Aufbauschulung "Das deutsche Asyl- und Aufenthaltsrecht"

der AWO Bundesakademie

Tel.: 030/26309-0

29.9. Berlin:

Seminar "Grundlagen des Arbeitsrechtes in Einrichtungen der Sozialwirtschaft - Gestaltungsspielräume nutzen"

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-159

30.9. Berlin:

Seminar "Betriebsverfassungsrecht aus Arbeitgebersicht

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-159