sozial-Editorial

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Markus Jantzer
epd-bild/Heike Lyding

kaum liegen die Zahlen der Obdachlosenzählung in Berlin von Ende Januar auf dem Tisch, entzündet sich schon Streit darüber, wie die Zahlen der speziellen Erhebung zu interpretieren sind und welche Schlüsse die Sozialpolitik daraus ziehen sollte. Trotz teilweise unplausibel erscheinender Ergebnisse sieht die Caritas in der Zählung "einen wichtigen Schritt" für die Berliner Wohnungslosenhilfe.

Die Bundesregierung hat nun endlich die Grundrente auf den Weg gebracht. 1,3 Millionen Menschen sollen sie ab 2021 bekommen. Sie soll Menschen besserstellen, die viel gearbeitet, aber wenig verdient haben. Der Kompromiss hilft nicht nur Geringverdienern, sondern auch der Koalition, deren Fortbestehen wegen dieser Frage eine Zeit lang in Gefahr schien.

Mehr Gesundheitsschutz im Kindergarten: Die Masern-Impfpflicht kommt zum 1. März. Dann müssen Eltern vor dem Eintritt ihrer Kinder in die Kita nachweisen, dass diese geimpft sind. Die Impfpflicht gilt auch für das Personal. Einige Details sind noch ungeklärt, und auf die Kitas kommt zusätzliche Arbeit zu.

Zwei Afrikaner, die illegal nach Spanien einreisen wollten, durften von den Behörden ohne Asylverfahren oder Rechtsschutz zurückgewiesen werden. Das hat jetzt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem umstrittenen Urteil entschieden. Faktisch ist damit nach Auffassung der Diakonie an der EU-Außengrenze das Asylrecht abgeschafft.

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Markus Jantzer




sozial-Politik

Armut

Streit über den Nutzen der Obdachlosenzählung




Obdachloser in einem Tunnel
epd-bild/Rolf Zöllner
Nach der Zählung von Obdachlosen in Berlin liegen erste Daten auf dem Tisch. Experten warnen davor, die Zahlen überzubewerten. Weitere Erhebungen müssten folgen - und die Sozialpolitik auf die neuen Erkenntnisse reagieren.

Politiker, Forscher und Betroffene diskutieren über die Ergebnisse der ersten Zählung von Menschen, die in Berlin auf der Straße leben. Hatten Obdachlosenvertreter die öffentlich breit angekündigte "Nacht der Solidarität" Ende Januar schon vorab als "würdelosen Vorgang" ohne Effekte abgelehnt, so ist jetzt strittig, wie aussagefähig die erhobenen Zahlen sind. Im Vergleich zu vorherigen Schätzungen wurden bei der Aktion deutlich weniger Betroffene als erwartet angetroffen. Eigentlich ist das eine gute Nachricht - wenn sie denn wahr ist.

Trotz medialem Gegenwind hält Berlins Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) die Zählaktion für einen Erfolg. "807 obdachlose Menschen wurden in einer Januarnacht auf Berlins Straßen angetroffen. Etwa ein Drittel dieser Menschen hat den Zählteams über ihre Lebenssituation berichtet." Jetzt wisse man mehr über das Alter obdachloser Menschen, ihr Geschlecht, woher sie kommen und erstmals auch, wie lange sie schon wohnungslos sind.

Breitenbach: Guter Richtwert

Breitenbach spricht von einem ganz guten Richtwert. Die Basis für weitere Schritte in der kommunalen Sozialpolitik sei gelegt. "Wir werden jetzt die Daten der einzelnen Zählräume auswerten und in Zusammenarbeit mit den Bezirken sowie den Akteurinnen und Akteuren der Wohnungslosenhilfe überprüfen, welche Hilfsangebote vor Ort verbessert werden müssen" - auch wenn die Dunkelziffer vermutlich hoch bleibt.

Aber wie belastbar das Datenmaterial ist, das 2.600 Ehrenamtler bei ihren Streifzügen durch die nächtliche Metropole gesammelt haben, ist umstritten. Bislang waren Schätzungen von 6.000 bis 10.000 obdachlosen Menschen in Berlin ausgegangen. Bei der Zählung trafen die Freiwilligen jedoch "nur" 807 auf der Straße und 942 in Einrichtungen der Kältehilfe an. Und: Aus Sicherheitsgründen machte die Helferschar einen Bogen um Parks und Grünlagen.

Erklärungsnot gibt es auch bei der ermittelten Herkunft der Personen. Fachleute aus der Obdachlosenhilfe betonen, Klienten, die in der Beratungsarbeit und in den Tageseinrichtungen registriert würden, stammten bis zu 80 Prozent aus EU-Ländern. Bei der Zählung waren es "nur" 49 Prozent".

"Viele hatten Angst, gezählt zu werden"

"Viele Betroffene hatten wohl Angst oder wollten nicht gezählt werden. Das ist zu verstehen und zu respektieren", sagte die Berliner Caritas-Direktorin Ulrike Kostka dem Evangelischen Pressedienst (epd): "Dass bei der Zählung Diskrepanzen aufgetaucht sind, mag daran liegen, dass von den insgesamt 1.976 gezählten Personen nur 250 Personen bereit waren, in einem Fragebogen schriftlich Auskunft über sich zu geben - unter anderem zu ihrer Herkunft."

Dennoch sei die Obdachlosenzählung "ein wichtiger Schritt für Berlin", betonte Kostka. Sie sollte ein erster Baustein für eine dringend benötigte Wohnungsnotfallstatistik sein. Diese Statistik könnte nach ihren Worten alle Fäden der Berliner Wohnungslosenhilfe zusammenführen.

"Es würden vergleichbare Zahlen von Menschen erhoben, die in den Notunterkünften der Stadt untergebracht sind, ergänzt durch diejenigen, die in anderen öffentlich geförderten Wohnformen wie Betreutem Einzelwohnen, Kriseneinrichtungen, Übergangshäusern und Frauenhäusern leben." So bekomme man valide Erkenntnisse über das tatsächliche Ausmaß der Wohnungslosigkeit in Berlin und könne Angebote systematisch anpassen und verbessern. In anderen Bundesländern wie in Nordrhein-Westfalen oder Baden Württemberg existierten bereits solche Wohnungsnotstatistiken.

Betroffene: Nutzen nicht erkennbar

Die Selbstvertretung wohnungsloser Menschen betonte dagegen, ein Nutzen der Zählung sei "nicht erkennbar". Und: "Es ist für Menschen, die auf der Straße leben, ein würdeloser Vorgang, gezählt zu werden, ohne dass die Situation grundlegend verändert wird." Die Zählung habe nur eine Alibifunktion, lautet die Kritik.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) verteidigt die Aktion. Sprecherin Werena Rosenke sagte, man brauche nun mal verlässliche Datengrundlagen, wo man bisher allein auf Schätzungen angewiesen sei. Aber: "Aus den so gewonnenen Erkenntnissen müssen unbedingt Maßnahmen erfolgen, mit denen wohnungslose Menschen bedarfsgerecht versorgt werden."

Auch Sozialforscher betonen, die Zählung sei wichtig und richtig gewesen. Aber: "Die Zahlen belegen den Forschungsbedarf. Mehr nicht", sagt Nikolaus Meyer, Professor für Soziale Arbeit an der IUBH Internationalen Hochschule. Doch müsse man sich auch mit der Kritik an der Aktion und mit dem von Betroffenen geäußerten Paternalismusvorwurf auseinandersetzen. "Die Politik braucht deutschlandweit verlässliche Zahlen zur angemessenen Ausgestaltung des Hilfesystems. Bisher hat man die Wohnungsnotfallhilfe deutschlandweit mit Hilfe von Vermutungen finanziert. So kann es nicht weitergehen."

Für das Thema sensibilisiert

Ein Effekt sei trotz vielerlei Bedenken an der Aktion nicht zu unterschätzen: "Die Zählung hat die Gesellschaft für das Thema Obdachlosigkeit sensibilisiert und gezeigt, dass da Menschen am Rand unserer Gesellschaft sind und wir uns fragen müssen, ob wir das so wollen. Das ist ein Riesenerfolg."

Zu den vorgelegten Daten sagte der Fachmann, die Zählung gebe wichtige Impulse zur Altersverteilung: 28 Prozent der Befragten seien 50 Jahre und älter. "Bisher haben wir deutschlandweit gerade für ältere Obdachlose nur sehr unzureichende Hilfemöglichkeiten und die vorzeitige Alterung ist auf der Platte extrem."

Susanne Gerull, Armutsforscherin an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin und Mit-Initiatorin der "Nacht der Solidarität", sagte bei der Vorstellung der ersten Resultate: "Die Zählung ist nach allen Regeln sozialwissenschaftlicher Forschung erfolgreich durchgeführt worden. Es gab keine systematischen Verzerrungen. Subjektive Einschätzungen, wie viele Menschen sich womöglich versteckt haben, um nicht gezählt zu werden, sind sozialwissenschaftlich nicht haltbar."

Die Obdachlosenvertretung lässt sich auf solche Einwände nicht ein. Sie bleibt bei ihrer grundsätzlichen Distanz: "Wir können nicht erkennen, dass der Senat auf Grundlage der Zählung bezahlbare und menschenwürdige Wohnungen schaffen, bauen oder erwerben wird."

Dirk Baas


Armut

"Erwartungen an Obdachlosenzählung runterschrauben"




Nikolaus Meyer
epd-bild/privat
Die detaillierte Auswertung der Berliner Obdachlosenzählung läuft. Doch weil sich viele Menschen bewusst nicht zählen ließen, ist fraglich, wie belastbar die Daten sind. Nikolaus Meyer von der IUBH Internationalen Hochschule, sagt, die Zählung sei nur eine Momentaufnahme, auf die weitere Erhebungen folgen müssten.

Nikolaus Meyer spricht mit Blick auf die Obdachlosenzählung in Berlin "vom Stand einer Nacht im Januar". Weitere Zählungen müssten zwingend folgen, sagte der Professor für Soziale Arbeit an der IUBH Internationalen Hochschule in Erfurt, zu dessen Arbeitsschwerpunkten auch die Wohnungslosigkeit gehört, im Interview des Evangelischen Pressedienstes (epd). Ein valides Bild über die Zahl der Betroffenen lasse sich nur zeichnen, wenn man eine Jahresgesamtzahl ermittelt. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Herr Professor Meyer, Sie warnen vor zu großen Erwartungen nach der ersten Obdachlosenzählung in Berlin. Warum?

Nikolaus Meyer: Die Zählung vermittelt den Stand einer Nacht im Januar. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive nicht mehr und auch nicht weniger. Wir kennen die konstante Zahl von obdachlosen Menschen in Berlin über das gesamte Jahr nicht. Wer im Vorfeld der Aktion eine ganz "sichere" Zahl erwartet hat, hat das Phänomen der Obdachlosigkeit nicht verstanden. Es ist ja durch Mobilität und dem Wunsch nach einem sicheren Rückzugsort geprägt.

epd: Es gibt eine große Diskrepanz zwischen den vermuteten Zahlen von Menschen, die in der Hauptstadt auf der Straße leben, und jetzt den erhobenen Daten. Kann es wirklich sein, dass sich mehrere Tausend Betroffene bewusst versteckt haben?

Meyer: Es kann natürlich sein, aber es ist doch extrem unwahrscheinlich. Es wäre sicher viel zu kurz gegriffen, wenn man die Diskrepanz zwischen der vermuteten Zahl von 6.000 bis 10.000 obdachlosen Menschen und die tatsächlich gezählten 1.976 Menschen mit dem Verstecken einzelner Menschen erklären wollte.

epd: Aber was könnten dann mögliche Gründe sein?

Meyer: Sicher sind einzelne Obdachlose in angrenzende Kommunen gewechselt, ganz sicher waren auch Personen in den Parks, wo ja nicht gezählt wurde. Ebenso wurde nicht in Abrisshäusern oder auf Privatgrundstücken gezählt. Es gibt also schon gute Gründe davon auszugehen, dass die Zahl etwas höher als ermittelt liegt.

epd: Wie belastbar sind die jetzt ermittelten Daten?

Meyer: Die ermittelten Daten lassen aus sozialwissenschaftlicher Perspektive eine wichtige Momentaufnahme zu. Insgesamt bräuchten wir in der gesamten Bundesrepublik eine dauerhafte Beobachtung der Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Diese wird, trotz eines entsprechenden Gesetzentwurfs, aber auch in Zukunft nicht möglich sein. Das ist sehr bedauerlich und eigentlich auch ziemlich unverständlich.

epd: Besteht angesichts falscher Zahlen nicht die Gefahr, am tatsächlichen Bedarf vorbeizuagieren?

epd: Wenn die nun ermittelte Zahl verabsolutiert wird, wäre das ein Bärendienst. Allerdings ist ja aktuell auch völlig offen, ob und welche Reformen nun konkret auf dieser Zählungen beruhen werden. Wir wissen dabei weiter nicht, welche Wellen sich innerhalb eines Jahres in Berlin oder anderswo unter obdachlosen Menschen vollziehen. Der Mehrwert der Zählung liegt aus meiner Sicht auch weniger in der konkreten Zahl der obdachlosen Menschen. Immerhin wissen wir über die wohnungslosen Menschen noch immer nichts und die sind jederzeit von Obdachlosigkeit bedroht.

epd: Sehen Sie einen anderen Weg, um eine Zählung zu machen, die validere Zahlen ergibt?

Meyer: Die einzige Möglichkeit wäre eine Gesetzgebung, die die wichtigen Erfahrungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) berücksichtigt. Immerhin werden hier seit Jahrzehnten entsprechende Untersuchungen vorgenommen. Die Bundesregierung sollte auch prüfen, ob nicht zusätzlich zur Stichtagsregelung auch eine Jahresgesamtzahl erhoben werden kann. Durch eine Jahresgesamtzahl werden auch jene Menschen erfasst, die vor dem Stichtag wohnungslos waren, es aber zum Stichtag nicht mehr sind und auch diejenigen, die erst nach dem Stichtag wohnungslos werden.

epd: War es wirklich sinnvoll, diese Aktion so in den öffentlichen Fokus zu rücken, denn damit bestand ja die Gefahr, dass die Betroffenen abtauchen?

Meyer: Es geht ja nicht darum, dass Tiere gezählt werden. Da hat die Betroffenen-Selbsthilfe absolut recht. Nein, eine heimliche Zählung wäre völlig falsch gewesen und rechtlich sicher mehr als fragwürdig.

epd: Was sollte man daraus lernen, wenn auch andere Städte nun eigene Zählungen machen wollen?

Meyer: Ehrlicherweise müsste man vor allem die Erwartungen runterschrauben. Man kann nicht in einer Nacht Daten erheben und glauben, dass man damit auf alle Zeit genau weiß, wie viele obdachlose Menschen in einer Stadt leben. Insofern halte ich die angewendete Methode deutschlandweit für nutzbar. Der eigentliche Mehrwert liegt ja auch in der gesellschaftlichen Mobilisierung: Das Thema Wohnungs-/Obdachlosigkeit ist auf einmal im Diskurs der Gesellschaft präsent. Hier liegt aus meiner Sicht der Mehrwert der Befragung: Sie konfrontiert die Gesellschaft mit einem Phänomen, dass die Menschen sonst gerne ignorieren möchten.



Ruhestand

Die Grundrente: Wer bekommt sie und wie?




Rentenausweis
epd-bild/Heike Lyding
Nach monatelangen Verhandlungen zwischen Union und SPD hat das Bundeskabinett die Einführung einer Grundrente für Geringverdiener auf den Weg gebracht. Die wichtigsten Fakten.

Die Grundrente soll zum 1. Januar 2021 eingeführt werden. Wer schon in Rente ist, kann sie ebenso bekommen wie Neurentner. Sie ist eines der wichtigsten Anliegen der SPD und soll Menschen besserstellen, die viel gearbeitet, aber wenig verdient haben. Die Union hat Einkommensprüfungen und -grenzen durchgesetzt.

Nach Angaben von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) werden rund 1,3 Millionen Menschen Grundrente bekommen, 70 Prozent von ihnen Frauen. Wer nur Minijobs hatte, erhält den Rentenzuschlag aber nicht. Die Grundrente wird automatisch berechnet und ausgezahlt, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind. Ein Antrag ist nicht nötig.

33 Beitragsjahre genügen

Erste Voraussetzung sind mindestens 33 Beitragsjahre in der Rentenversicherung, also Arbeitsjahre, Kindererziehungs- und Pflegezeiten. Den vollen Grundrenten-Zuschlag gibt es aber erst mit 35 Beitragsjahren und auch höchstens für diese 35 Jahre.

Zweitens muss das Einkommen, das für die Grundrentenzeiten zählt, zwischen 30 und 80 Prozent des Durchschnittseinkommens für diese Jahre liegen, also umgerechnet 0,3 bis 0,8 Entgeltpunkte für die Rentenberechnung ergeben. Das Arbeitsministerium hat errechnet, dass der durchschnittliche Zuschlag bei rund 75 Euro im Monat liegen dürfte. Im Höchstfall kann die Grundrente knapp 405 Euro betragen. Dabei handelt es sich um sehr geringe Renten, die heute durch die Grundsicherung aufgestockt werden.

Schließlich gibt es Einkommensgrenzen, bis zu denen die volle Grundrente gezahlt wird. Der Freibetrag für Alleinstehende beträgt 1.250 Euro, für Eheleute und Lebenspartner 1.950 Euro im Monat. Sind die eigenen Einkünfte höher, wird der über der Grenze liegende Betrag zu 60 Prozent auf die Grundrente angerechnet. Ab einem Einkommen von 1.600 Euro (Alleinstehende) und 2.300 Euro (Paare) gibt es in aller Regel keine Grundrente mehr. Zu den Einkünften zählen die eigene Rente und private Altersvorsorge, Kapitalerträge sowie weitere Einnahmen, etwa aus Vermietung. Finanzämter und Rentenversicherung sollen die Daten über die Einkünfte automatisch und jährlich abgleichen.

Bundeszuschuss an die Rentenkasse

Auf Sozialleistungen wie das Wohngeld soll der Grundrenten-Zuschlag nicht vollständig angerechnet werden, damit die Betroffenen keine Nachteile haben. Denn das Wohngeld sinkt, wenn das Einkommen steigt.

Wer 33 Beitragsjahre nachweisen kann und eine Rente wegen gesundheitlicher Probleme (Erwerbsminderungsrente) oder Grundsicherung im Alter bezieht, soll für die Grundrente einen individuell zu berechnenden Freibetrag von 100 bis 216 Euro im Monat geltend machen können. Damit soll für diese langjährigen Beitragszahler mit geringen Renten sichergestellt werden, dass ihr Alterseinkommen oberhalb der Grundsicherung liegt.

Die Grundrente soll aus Steuereinnahmen finanziert werden, nicht aus den Beiträgen an die Rentenversicherung. Es ist aber offen, ob Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) dafür, wie geplant, auf Einnahmen aus einer Finanztransaktionssteuer zurückgreifen kann, weil deren Einführung umstritten ist. Die Kosten für die Grundrente werden im Gesetzentwurf mit rund 1,4 Milliarden Euro im Einführungsjahr 2021 angegeben. Sie sollen dauerhaft durch einen jährlichen Bundeszuschuss an die Rentenversicherung gedeckt werden.

Bettina Markmeyer


Gesundheit

Studie: Abschaffung der PKV lässt Beiträge sinken




Untersuchung einer Blutprobe
epd-bild/Werner Krüper
Eine Studie, die für das Ende des dualen Systems der Krankenversicherung wirbt, sorgt für Wirbel. SPD und Grüne sehen Forderungen nach einer Bürgerversicherung für alle bestätigt. Ärzte und Wirtschaftsexperten kritisieren hingegen Zahlenspiele.

Eine Zusammenführung von gesetzlicher und privater Krankenversicherung könnte laut einer Studie zu Beitragssenkungen für Kassenpatienten führen. Wenn alle Bundesbürger gesetzlich versichert wären, würde die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) jährlich ein finanzielles Plus in Höhe von rund neun Milliarden Euro erzielen, heißt in der am 17. Februar vorgestellten Prognose des Berliner Iges-Instituts im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. SPD, Grüne und Linkspartei bekräftigten ihre Forderung nach einer Krankenversicherung für alle. Ärzte und Wirtschaftsvertreter warnen hingegen vor wesentlich höheren Kosten für Beitragszahler, als in der Studie veranschlagt.

Beitragssenkung zwischen 48 und 145 Euro

Nach den Prognosen des Iges-Instituts könnte der Beitragssatz 0,2 bis 0,6 Prozentpunkte sinken. Jedes derzeit in einer gesetzlichen Kasse versicherte Mitglied und sein Arbeitgeber könnten demnach pro Jahr zusammen durchschnittlich 145 Euro an Beiträgen sparen, wenn auch Gutverdiener, Beamte und einkommensstarke Selbstständige mit in die GKV einzahlen würden. Würden die Honorarverluste der Ärzte, die bislang gegenüber der Privaten Krankenversicherung (PKV) mehr abrechnen können, ausgeglichen, wären es noch 48 Euro jährlich, hieß es.

Es handele sich "ausdrücklich nicht um ein realistisches, 'umsetzungsnahes' Szenario", unterstreichen die Autoren der Studie. Ziel sei es, die finanziellen Auswirkungen der gegenwärtigen Trennung der Versicherungsarten zu verdeutlichen. Die Studie gehe von dem hypothetischen Fall aus, dass alle gegenwärtig privat versicherten Menschen in die gesetzliche Versicherung wechselten. Sie stützt sich auf Daten des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP), das auf einer Langzeitbefragung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) beruht.

Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) warnte vor einer Belastungen der jungen Generation durch einen derartigen Systemwechsel. Denn ob durch eine Zusammenlegung von gesetzlicher und privater Krankenversicherung die Solidargemeinschaft dauerhaft entlastet würde, hänge auch von deren künftiger Inanspruchnahme infolge des demografischen Wandels ab, sagte der IW-Sozialexperte Jochen Pimpertz in Köln dem Evangelischen Pressedienst (epd). Wenn bislang Privatversicherte zeitnah ausgabenintensivere Altersstufen erreichten, drohe den Beitragszahlern "womöglich ein böses Erwachen".

Arztpraxen verlieren 54.000 Euro im Jahr

Die Bundesärztekammer kritisierte "mehr als zweifelhafte Zahlenspielereien" der Studie. So würden die über viele Jahre aufgebauten Altersrückstellungen der Privatversicherten nicht thematisiert, sagte Ärztekammer-Präsident Klaus Reinhardt. Ähnlich argumtentierte der Verband der Privaten Krankenversicherung. Wenn der Mehrumsatz der Privatversicherung wegfiele, gingen den Arztpraxen im Durchschnitt mehr als 54.000 Euro pro Jahr verloren, sagte der Direktor des Verbandes, Florian Reuther.

SPD, Grüne und Linkspartei fordern die Abschaffung der privaten Krankenversicherung und mahnten eine solidarisch finanzierte Bürgerversicherung an. Die private Versicherung komme der gesetzlichen Versicherung teuer zu stehen, erklärte die stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Bärbel Bas. Die gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen, Maria Klein-Schmeink, bezeichnete ein integriertes Krankenversicherungssystem als überfällig. Auch die Linkspartei erklärte, die Studie weise in die richtige Richtung. Nötig sei jedoch auch, weitere Einkunftsarten wie Kapitaleinkünfte mit einzubeziehen und die Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Versicherung aufzuheben.

Das Nebeneinander von privater und gesetzlicher Versicherung werde durch Steuermittel in Milliardenhöhe finanziert, kritisierte die Deutsche Stiftung Patientenschutz. Erst die Beihilfe der öffentlichen Arbeitgeber führe dazu, dass die meisten Beamten in die privaten Kassen wollten, erklärte der Vorsitzende Eugen Brysch. Zudem sei der Zugang zu den gesetzlichen Versicherungen für die knapp zwei Millionen Staatsdiener praktisch verschlossen.

Holger Spierig


Familie

Giffey will Verdienstgrenze beim Elterngeld senken




Ein Baby auf einer Frühgeborenenstation
epd-bild/Klinikum der Universität München/Andreas Steeger
Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) will die Einkommensgrenze für den Bezug von Elterngeld deutlich senken. Die Reform stößt auf Bedenken. Die Grünen nennen sie mutlos. Die Diakonie mahnt ein höheres Elterngeld an.

Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) will die Einkommensgrenze für das Elterngeld senken. Paare, deren Jahreseinkommen bei mehr als 300.000 Euro liegt, sollen die Familienleistung nicht mehr erhalten. Das geht aus einem Referentenentwurf zur Reform des Elterngeldes hervor, der am 17. Februar vom Bundesfamilienministerium veröffentlicht wurde. Bislang entfällt der Anspruch, wenn das zu versteuernde Einkommen eines Paares pro Jahr mehr als 500.000 Euro beträgt. Die Grünen rügten die Pläne und stellten ihren Reformvorschlag "KinderZeitPlus" dagegen. Die Diakonie sprach sich für eine Erhöhung des Elterngeldes aus.

7,2 Milliarden Euro Elterngeld

Die Einkommensgrenze für Alleinerziehende liegt bei 250.000 Euro und soll bestehen bleiben. Zur Begründung der Grenze bei Paaren heißt es, bei einem derart hohen Einkommen sei davon auszugehen, "dass Elterngeld für die Entscheidung, in welchem Umfang zugunsten der Betreuung des Kindes auf Erwerbstätigkeit verzichtet werden soll, unerheblich ist".

Das Elterngeld beträgt mindestens 300 und höchstens 1.800 Euro pro Monat. Eltern mit höheren Einkommen erhalten 65 Prozent des vorherigen Einkommens, andere bis zu 100 Prozent. Für das Elterngeld hat der Staat in diesem Jahr mehr als 7,2 Milliarden Euro eingeplant. Giffey rechnet bei ihren Plänen mit gleichbleibenden Kosten. Mehrausgaben unter anderem für mehr Flexibilität würden durch Einsparungen ausgeglichen. Die Senkung der Einkommensgrenze führt dem Entwurf zufolge zu Einsparungen in Höhe von rund 40 Millionen Euro.

Giffey hatte im vergangenen Jahr eine Reform der Leistung angekündigt, die das Leben von Eltern nach der Geburt finanziell abfedern soll. Die Ministerin will die Flexibilität für Eltern weiter erhöhen. Dem Entwurf zufolge soll künftig unter anderem die Zahl möglicher Arbeitsstunden beim ElterngeldPlus auf 32 pro Woche angehoben werden.

Länger Elterngeld nach Frühgeburten

Giffey will zudem Familien in besonderen Situationen stärker unterstützen. Im Entwurf ist etwa vorgesehen, dass Eltern nach Frühgeburten einen Monat lang länger Elterngeld erhalten. Eltern mit geringen selbstständigen Nebeneinkünften sollen den Angaben zufolge wie Nicht-Selbstständige behandelt werden können, wenn sie das möchten. Der Referentenentwurf befindet sich nach Angaben eines Ministeriumssprechers in der Abstimmung innerhalb der Bundesregierung und ist auch an die Bundesländer und Verbände verschickt worden.

Die Grünen-Familienpolitikerin Katja Dörner sagte zu dem Vorhaben: "Auch wenn die angekündigte Verlängerung des Elterngeldes um einen Monat für Eltern von Frühgeborenen zu begrüßen ist: Das Vorhaben der Ministerin ist mutlos." Es bleibe weit hinter den wirklichen Zeitbedürfnissen junger Eltern zurück, die Familie und Beruf unter einen Hut bringen müssen. Auch armen Familien helfe die angestrebte Reform nicht. Die Anrechnung des Elterngeldes auf Hartz IV bleibe bestehen.

Diakonie: Elterngeld dynamisch anpassen

"Darum schlagen wir unser grünes Modell der 'KinderZeitPlus' vor. Das Elterngeld sollte 24 Monate gezahlt werden. Acht Monate für den Vater, acht Monate für die Mutter und acht Monate zur flexiblen Aufteilung", sagte Dörner. Im ersten Lebensjahr des Kindes könnten beide Eltern - nacheinander oder gleichzeitig - vollständig aus dem Beruf aussteigen. Ab dem 14. Monat hätten sie dann einen Anspruch auf volle 24 Monate Elterngeld.

Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland, wies darauf hin, dass seit 2007 keine Anpassung des Mindestbetrages beim Elterngeld stattgefunden hat. So beträgt er bei Eltern ohne oder mit geringem Einkommen 300 Euro, beim Elterngeld Plus 150 Euro. Angesichts der steigenden Lebenshaltungskosten plädierte Loheide dafür, im Zuge der Reform die Mindestbeiträge beim Elterngeld künftig dynamisch an die steigenden Verbraucherpreise anzupassen.

Corinna Buschow, Dirk Baas


Demokratie

Konfliktforscherin: Zusammenhalt trotz Polarisierung stark




Beate Küpper
epd-bild/Hochschule Niederrhein
Deutschland ist nach der Beobachtung der Konfliktforscherin Beate Küpper gespalten: Die Zahl der Menschen, die an demokratischen Grundwerten zweifeln, wächst. Zugleich setzen sich mehr Menschen denn je für gesellschaftlichen Zusammenhalt ein.

Die Gesellschaft in Deutschland hält nach Auffassung der Sozialpsychologin Beate Küpper besser zusammen, als vielfach behauptet wird. "Es ist ein bisschen Mode geworden, über fehlenden Zusammenhalt zu klagen", sagte die Konfliktforscherin der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach dem Evangelischen Pressedienst (epd). Allerdings habe eine deutliche Polarisierung stattgefunden: Mehr Bürger setzten sich mehr denn je für eine demokratische Gesellschaft ein, zugleich wachse die Zahl der Menschen, die an demokratischen Werten zweifeln oder sie sogar ablehnen.

In Umfragen zeige sich eine erhebliche Diskrepanz: Danach äußere sich eine deutliche Mehrheit der Menschen zufrieden über Zusammenhalt, Unterstützung und Solidarität in ihrem persönlichen Umfeld. Zugleich seien die Befragten jedoch besorgt über den Zusammenhalt insgesamt. Etwa drei Viertel äußerten die Meinung, die Gesellschaft falle auseinander.

"Wir schauen heute kritischer hin"

Nach Küppers Auffassung werde bei einem "bisweilen nostalgischen Blick" auf die 50er und 60er Jahre ausgeblendet, dass der angebliche Zusammenhalt in dieser Zeit bestimmte Gruppen wie etwa unverheiratete Mütter, Homosexuelle, behinderte Menschen oder Einkommensschwache weitgehend ausgeschlossen habe. Minderheiten hätten heute mehr Möglichkeiten zur Teilhabe als damals - allerdings weniger als allgemein gefordert. "Wir schauen heute kritischer hin", sagte Küpper.

Der stetig wachsende Zuspruch im wiedervereinigten Deutschland zu einer weltoffenen Gesellschaft erlebe seit vier Jahren einen "Knick". Zwar äußert sich mit 93 Prozent die große Mehrheit der Befragten positiv zu grundlegenden demokratischen Werten wie Menschenwürde und Gleichheit. Gleichzeitig vertreten viele Befragten ausgrenzende Positionen wie etwa "Im nationalen Interesse können wir nicht allen die gleichen Rechte gewähren" (36 Prozent) oder "Die deutsche Gesellschaft wird durch den Islam unterwandert" (25 Prozent).

Zuspruch zu antidemokratischen Gesinnungen

Sogar offen antidemokratische Gesinnungen würden von einem zunehmenden Teil der Bevölkerung nicht mehr kategorisch abgelehnt, erklärte die Konfliktforscherin. Der Aussage "Deutschland braucht eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert" stimmten 13 Prozent "voll", neun Prozent "überwiegend" und 13 Prozent "teils-teils" zu. Selbst der menschenfeindlichen Aussage "Es gibt wertvolles und unwertes Leben" konnten 17 Prozent der Befragten etwas Positives abgewinnen.

Diese Risse in der demokratischen Grundhaltung nutzten Rechtspopulisten wie Vertreter der AfD, indem sie versuchten, Hetze über Minderheiten gesellschaftsfähig zu machen. Küpper warnte vor einer gefährlichen Dynamik. "Das Eis der Zivilisiertheit ist dünn", wie nicht zuletzt das Ende der Weimarer Republik gezeigt habe.

Markus Jantzer


Bundesländer

Kommission fordert mehr Therapieplätze für Missbrauchsopfer




Demonstration für besseren Kinderschutz
epd-bild/Rolf Zöllner
Sexuelle Gewalt gegen Kinder geschieht täglich. Nach dem Missbrauchsskandal von Staufen hatte die baden-württembergische Landesregierung eine Kommission Kinderschutz eingesetzt. Die schlägt jetzt Schulungen für Familienrichter vor.

Für minderjährige Opfer sexuellen Missbrauchs in Baden-Württemberg sollten mehr Therapieplätze und Kindertraumaambulanzen eingerichtet werden. Das empfiehlt die Kommission Kinderschutz des Landes, die am 17. Februar in Stuttgart ihren Abschlussbericht vorgelegt hat. Außerdem fordert die Kommission, Familienrichter umfassend fortzubilden und alle ermittelnde Personen in "entwicklungsgerechter Gesprächsführung mit Kindern" zu trainieren.

Die Expertengruppe weist zudem darauf hin, dass Mütter als mögliche Täterinnen stärker in Betracht gezogen werden müssen. Hintergrund ist der Fall eines Jungen in Staufen bei Freiburg, der von seiner Mutter und ihrem Lebensgefährten sexuell missbraucht sowie an andere Männer verkauft worden war. Die 2017 entdeckten Straftaten waren Anlass, die von Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) geleitete Kommission Kinderschutz ins Leben zu rufen.

"Mütter können Täterinnen sein"

Laut Jörg Fegert, Ärztlicher Direktor an der Universitätsklinik Ulm, werden 10 bis 20 Prozent der Fälle sexualisierter Gewalt von Müttern begangen. Leibliche Mütter seien sogar häufiger an diesen Straftaten beteiligt als leibliche Väter. "Wir müssen es in die Köpfe bekommen, dass Mütter Täterinnen sein können", betonte Fegert.

Der Mediziner wies darauf hin, dass Skandalfälle wie Staufen das Thema ins öffentliche Bewusstsein brächten. Es gehe bei diesem Problem aber um den alltäglichen Missbrauch. "Die Dimension, wie viele Kinder betroffen sind, das ist der eigentliche Skandal", sagte er.

Einig sind sich die Fachleute, dass selbst kleine Kinder bei Missbrauchsverdacht von den zuständigen Stellen angehört werden müssen. Fegert forderte eine Begründungspflicht, wenn Gerichte auf eine Anhörung verzichten. Auch Sabine Walper, Forschungsdirektorin am Deutschen Jugendinstitut, hält es für notwendig, Kindern eine Stimme zu geben. Die Fragenden müssten dazu geschult werden.

Blick in Abgründe

Der Abschlussbericht mahnt eine bessere Kooperation der zuständigen Stellen an. Der Staufener Fall habe gezeigt, dass Polizei, Jugendämter und Familiengerichte wichtige Informationen nicht erhalten hätten. Wer dem Jugendamt einen Hinweis auf möglichen Missbrauch gibt, soll der Kommission zufolge künftig eine Empfangsbestätigung bekommen.

Die Vizepräsidentin des Bayerischen Landeskriminalamts, Petra Sandles, sprach sich für gelockerte Datenschutzvorschriften aus, wenn es um den Kinderschutz geht. Auch brauche es ein Wohnungsbetretungsrecht für Polizisten, um bereits überführte Täter besser kontrollieren zu können. Die Online-Durchsuchung von Computern hält Sandles für sinnvoll, sie sei aber technisch nicht leicht umzusetzen. Im Missbrauchsfall von Staufen hätte so eine Durchsuchung nichts gebracht, meinte sie.

Sozialminister Lucha warnte davor, sexualisierte Gewalt gegen Kinder als Nebenthema zu betrachten. Er habe eine Ermittlungsgruppe Kinderpornografie besucht, bei dem dort gesammelten Material blicke man in Abgründe. "Und das ist in der Mitte der Gesellschaft", sagte Lucha.

Der Minister sieht in dem Abschlussbericht einen "klaren Wegweiser hin zu mehr Aufmerksamkeit, mehr Kooperation und mehr Kinderschutz". Die Aufgabe, Kinder besser zu schützen, sei allerdings nur durch die Gesellschaft als Ganzes zu bewältigen, schreibt er im Vorwort.

Marcus Mockler


Einkommen

Jeder vierte Armutsgefährdete in Deutschland geht einer Arbeit nach



Millionen Menschen in Deutschland kommen finanziell kaum über die Runden, obwohl sie einen Job haben. In fünf Bundesländern ist das Armutsrisiko für Erwerbstätige besonders hoch.

Jeder vierte Armutsgefährdete in Deutschland ist erwerbstätig. Das geht aus aktuellen Daten des Statistischen Bundesamtes auf Anfrage der Linken hervor, die dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegen. Ein weiteres knappes Viertel der Menschen, die mit ihrem Geld kaum über die Runden kommen, sind Rentner ab 65 Jahren. Auch Kinder sind stark betroffen.

Als armutsgefährdet gilt nach EU-Definition, wer mit weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens der Gesamtbevölkerung auskommen muss. Für Ein-Personen-Haushalte in Deutschland lag diese Schwelle 2018 bei 1.035 Euro im Monat.

Hoher Renteranteil unter Einkommensschwachen

Laut Statistischen Bundesamt gab es im Jahr 2018 unter den Armutsgefährdeten in Deutschland vier große Gruppen: 25,4 Prozent gingen einer Beschäftigung nach. Weitere knapp 23 Prozent waren Rentner, fast 21 Prozent Kinder und Jugendliche. Die vierte Gruppe (24,2 Prozent) stellten weitere Nichterwerbspersonen. Dazu gehören unter anderem Auszubildende, Studierende, Hausfrauen und Menschen, die arbeitsunfähig oder in einer Fort- und Weiterbildung sind. Erwerbslos gemeldete Menschen bildeten in der Statistik mit Abstand (6,7 Prozent) die fünfte Gruppe.

Das Armutsrisiko für Erwerbstätige ist laut der Statistik in fünf Bundesländern besonders hoch: Baden-Württemberg (28,3 Prozent), Sachsen (27,8 Prozent), Hamburg (27,4 Prozent) sowie Schleswig-Holstein (26,9 Prozent) und Berlin (26,1 Prozent). Unter dem Durchschnittswert liegen Nordrhein-Westfalen (23,9 Prozent), Sachsen-Anhalt (24,3 Prozent), das Saarland und Mecklenburg-Vorpommern (je 24,4 und 24,5 Prozent), Niedersachsen (24,7 Prozent) und Bayern (24,9 Prozent).

Forderungen der Linken zur Armutsbekämpfung

Die Linken-Politikerin Sabine Zimmermann erklärte: "Einerseits sind Millionen Menschen arm trotz Arbeit. Andererseits stellen die Schwächsten in unserer Gesellschaft den überwiegenden Teil der Armen, also Kinder, alte Menschen und alle, die schlicht keine Arbeit finden." Die Sozialexpertin der Partei, die die Daten des Statistischen Bundesamtes angefragt hatte, forderte die Abschaffung von Hartz IV, die Ausweitung der Tarifbindung und eine deutliche Erhöhung des Mindestlohns.

18 EU-Länder haben ihre Mindestlöhne zum Jahresbeginn 2020 erhöht. In Deutschland beträgt die Lohnuntergrenze nun 9,35 Euro pro Stunde und liegt damit auf dem sechsten Platz in Europa. Den höchsten Mindestlohn gibt es in Luxemburg mit 12,38 Euro, gefolgt von Frankreich (10,15 Euro), den Niederlanden (10,14 Euro), Irland (9,80 Euro) und Belgien (9,66 Euro), wie eine aktuelle Auswertung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zeigt.

Katrin Nordwald


Arbeitslosigkeit

Linke kritisieren Jobcenter: Fördergelder landen in Verwaltung



Die Linke wirft den Jobcentern vor, Gelder zur Förderung von Langzeitarbeitslosen nicht für diesen Zweck ausgegeben zu haben. "Im Bereich der Förderung durch die Jobcenter stimmt es hinten und vorne nicht", kritisierte die Bundestagsabgeordnete Sabine Zimmermann (Linke) am 19. Februar in Berlin. "Die permanente Umschichtung von Eingliederungsmitteln in den Verwaltungsetat, die damit nicht zur Förderung von Erwerbslosen zur Verfügung stehen, muss endlich ein Ende haben."

Im vergangenen Jahr seien von den veranschlagten 4,9 Milliarden Euro 3,9 Milliarden Euro für Eingliederungsmaßnahmen in den Arbeitsmarkt verwendet worden, heißt es in der Antwort des Bundesarbeitsministeriums auf eine schriftliche Anfrage Zimmermanns, die dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegt. Das restliche Geld wurde demnach für Verwaltungskosten ausgegeben. Für das Jahr 2018 hatte ein Anfrage der Linken bereits ähnliche Zahlen ergeben.

Von den 700 Millionen Euro, die den Job-Centern 2019 zusätzlich für den Aufbau eines staatlich finanzierten, sozialen Arbeitsmarkts im Rahmen eines sogenannten Passiv-Aktiv-Transfers zur Verfügung standen, wurden nach Angaben des Arbeitsministeriums sogar nur 95 Millionen Euro genutzt.

"Viele erwerbslose Menschen wünschen sich eine bessere Förderung, wie zum Beispiel Weiterbildung, diese wird ihnen aber oft verwehrt", erklärte Zimmermann. Sie forderte einen Rechtsanspruch auf regelmäßige Weiterbildung.



Bamf-Studie

Gut drei Viertel der Geflüchteten fühlen sich willkommen



Einer Umfrage des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) zufolge fühlen sich rund drei Viertel aller Flüchtlinge in Deutschland willkommen. Jeweils 37 Prozent der Befragten fühlten sich "sehr stark" oder "stark" willkommen, wie das Forschungszentrum des Bamf am 18. Februar in Nürnberg mitteilte. Nach Geschlechtern unterschieden war das Willkommensgefühl bei Frauen ausgeprägter als bei Männern. Die Umfrage fand im Jahr 2018 statt. Ende 2018 lebten rund 1,8 Millionen Menschen in Deutschland, die als Schutzsuchende ins Land gekommen sind. Der Großteil kam zwischen den Jahren 2013 und 2016. Das Bamf-Forschungszentrum befragte 2018 rund 4.300 Geflüchtete.

Im Großen und Ganzen bewerten Geflüchtete ihre Lebensumstände in Deutschland eher positiv, wie die Behörde mitteilte. Die durchschnittliche allgemeine Lebenszufriedenheit lag aber auf einer Skala von 0 bis 10 mit 6,99 Punkten im Jahr 2018 hinter der von Menschen mit Migrationshintergrund (2018: 7,40) sowie Menschen ohne Migrationshintergrund (2018: 7,35).




sozial-Branche

Kinder

Masern-Impfpflicht: Kita-Träger sehen vor allem Detailfragen offen




Ein Mädchen wird geimpft.
epd-bild/Andrea Enderlein
Wenn zum 1. März das Gesetz zur Impfpflicht gegen Masern in Kraft tritt, bedeutet das für Kindertagesstätten mehr Aufwand. Experten und Träger rechnen zwar nicht mit einem großen Aufschrei, haken könnte es aber im Detail.

Urlaube, Kontaktdaten, Termine - die Pinnwand von Andrea Buchholz in der evangelischen Kindertagesstätte in Fallersleben bei Wolfsburg hängt voll mit Planungshilfen. "Von Mutter Teresa bis zum Hausmeister bin ich hier alles", sagt die Kita-Leiterin. Mit dem 1. März kommt eine neue Verantwortung auf sie zu, der sie einerseits mit routinierter Gelassenheit und andererseits mit leichten Bauchschmerzen entgegensieht: Von dem Tag an gilt die Impfpflicht gegen Masern.

Impfpflicht gilt auch für das Personal

Eltern müssen dann vor dem Eintritt ihrer Kinder in die Kita oder Schule nachweisen, dass diese geimpft sind. Die Impfpflicht gilt auch für das Personal, das neu in den Tagesstätten angestellt wird. Überprüfen und dokumentieren muss das die Kita-Leitung.

Wohlfahrtsverbände hätten sich das anders gewünscht und halten an ihrer Kritik an diesem Punkt fest. "Es wäre richtig gewesen, diese hoheitliche Aufgabe den Gesundheitsämtern zu übertragen", sagt der Vorsitzende der Bundesvereinigung Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder, Carsten Schlepper. Eine große Aufregung vor dem Start der Impfpflicht hat Schlepper bisher jedoch nicht beobachtet. "Der Teufel steckt eher in den Details."

Auch wenn Impfkritiker laut Medienberichten das Gesetz noch vor dem Bundesverfassungsgericht stoppen wollen, stellen sich die Träger von Kitas schon länger darauf ein. Der Deutsche Städtetag rechnet damit, dass sich noch eigene Fragen stellen werden, wenn die Impfpflicht gilt. Wichtig sei, dass die Kontrolle des Impfstatus mit geringem bürokratischen Aufwand erfolgen könne, sagt Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy. Die Landesbehörden sollten in Abstimmung mit den Kommunen zügig landeseinheitliche Verfahrensbestimmungen festlegen.

Mehrarbeit für Kita-Leitungen

Die Impfpflicht wurde eingeführt, weil insbesondere bei der Zweitimpfung gegen Masern die Quote von 95 Prozent nicht erreicht wurde, bei der man vom "Herdenschutz" für die gesamte Bevölkerung ausgeht. Dennoch sind die meisten Kinder und Mitarbeitenden in den Tagesstätten bereits durchgeimpft. So verzeichnet etwa der niedersächsische Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte aktuell keine vermehrte Nachfrage nach Impfungen, wie Sprecherin Tanja Brunnert erläutert.

Noch werden in den Tagesstätten nur vereinzelt neue Kinder aufgenommen. In den kommenden Monaten aber startet etwa im Kirchenkreis Wolfsburg die Anmeldung für das nächste Kita-Jahr. "Da geht den Leiterinnen viel durch den Kopf", weiß die Kita-Geschäftsführerin des Kirchenkreises, Kerstin Heidbrock. Dafür ein Beispiel: Müssen die Caterer, die täglich das Essen bringen, auch einen Nachweis erbringen?. Noch einmal neue Fragen werden sich stellen, wenn zum August 2021 alle Kinder in den Tagesstätten und sämtliche, zum Teil langjährige Mitarbeitende die Nachweise vorlegen müssen.

Über die rechtlichen Aspekte informiert das Bundesgesundheitsministerium unter www.masernschutz.de, auch der Bundesverband für Kindertagespflege hat Antworten auf häufige Fragen ins Netz gestellt. Kita-Träger wie die hannoversche Landeskirche mit über 5.500 Tagesstätten versuchen, möglichst viel Entlastung zu bieten. Bei einer laut Gesetz möglichen Haftung von Kita-Leiterinnen von bis zu 2.500 Euro werde geprüft, ob nicht die Haftpflicht der Landeskirche in Anspruch genommen werden könne, sagt Oberkirchenrat Arvid Siegmann. "Dennoch wird es mehr Arbeit unter ohnehin schon schlechten Rahmenbedingungen geben."

Karen Miether


Familie

"Eine gute Geburt ist unserer Gesellschaft zu wenig wert"




Hebammenprotest
epd-bild/Friedrich Stark
Ein Kind zu bekommen, ist etwas Wunderbares. Doch Personalmangel und Kreißsaalschließungen verhindern oft eine stressfreie Geburt. Vertreterinnen von "Mother Hood" setzen sich für eine bessere Betreuung von Müttern und Babys ein.

Es ist eine aufregende Zeit für die Schwangere, als die Geburt naht: Die Geburtsklinik ist ausgesucht, der Fahrtweg geplant, die Tasche gepackt. Doch als die junge Frau mit Wehen in der Klinik ankommt, ist diese überfüllt. Sie wird an der Kreißsaaltür abgewiesen und muss sich eine andere Klinik suchen. Leider kein Einzelfall, sagen Vertreterinnen des deutschlandweit tätigen Vereins "Mother Hood" mit Sitz in Bonn, in dem sich Mütter, Hebammen und Frauenärztinnen vor fünf Jahren zusammengeschlossen haben.

Wohnortnahe Geburtshilfe

Durch Kreißsaalschließungen, Personalmangel in Kliniken und Lücken in der Hebammenversorgung, würden Frauen trotz Geburtswehen immer öfter abgewiesen. Allein in Berlin passierte das im Jahr 2018 einer parlamentarischen Anfrage der Linken zufolge fast 400 schwangeren Frauen.

Doch nicht nur in Großstädten, auch in ländlichen Gebieten herrscht Unterversorgung. In Baden-Württemberg müssten Schwangere kurz vor der Entbindung bei der gewählten Geburtsklinik anrufen, ob sie dort überhaupt ihr Kind bekommen können oder eine andere Klinik aufsuchen müssen, sagt Sabrina Capper, die die Ortsgruppe Karlsruhe von "Mother Hood" leitet. Somit sei eine sichere Geburtshilfe nicht mehr überall gegeben. Fahrzeiten von 45 Minuten und mehr gefährdeten zudem Mutter und Kind, kritisiert die dreifache Mutter.

"Geburtshilfe ist eine Akutversorgung, die auch Notfallversorgung umfasst, und sollte daher wohnortnah zur Verfügung stehen", fordert "Mother Hood". Die deutschlandweite Initiative setzt sich eine stressfreie Schwangerschaft sowie eine sichere und selbstbestimmte Geburt mit freier Wahl des Geburtsortes ein. Zu den Hauptforderungen des Vereins gehört auch die Eins-zu-Eins-Betreuung durch eine Hebamme.

Traumatisiert nach der Geburt

Es geht den Beteiligten aber auch darum, Missstände rund um die Geburt aufzudecken. Das seien nicht nur eine fehlende sachgerechte Aufklärung, medizinisch nicht indizierte Untersuchungen oder die Gabe von Medikamenten ohne weitere Erklärung, sagt Capper. Dazu gehörten auch abschätzige Bemerkungen über das Verhalten oder Aussehen der Schwangeren ebenso wie körperliche und verbale Gewalt, zum Beispiel Drohungen nach dem Motto: "Wenn sie nicht zustimmen, stirbt ihr Kind."

Capper berichtet von Frauen, die Ohnmacht und Angst, Respektlosigkeit und Gewalt vor und während der Niederkunft erlebt haben. Sie berichtet vom Geburtstrauma einer Frau, deren Arzt sich ohne Vorwarnung mit voller Wucht auf ihren Bauch wirft, um das Kind aus ihr zu pressen. Anschließend sei diese ohne zusätzliche Schmerzmittel wieder zugenäht worden. Statt eine glückliche Mutter zu sein, leide die Frau unter Flashbacks, Alpträumen und Panikattacken. Sie sei mit ihrem Baby überfordert, könne keine Bindung aufbauen.

Oft suchten die Mütter die Schuld bei sich, wenn es zu Komplikationen kommt, so die Erfahrung der freiberuflichen Hebamme Anja Lehnertz, die ebenfalls bei "Mother Hood" Karlsruhe aktiv ist. Nur selten gebe es Ansprechpartner für junge Mütter. Auch nachträgliche Gespräche im Wochenbett seien selten. "Das muss sich ändern", fordert Lehnertz, die auch als "Hebamme am Limit" bei Facebook bekannt ist. Schlimme Erlebnisse unter der Geburt könnten Traumata auslösen, bei Müttern und Kindern.

Ein wertschätzender Umgang

Es sei ein "gravierendes Problem" wie geringschätzig und missbräuchlich Gebärende in vielen Ländern behandelt würden, erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schon 2015. Als Beispiele werden etwa körperliche Misshandlung, tiefe Demütigung und verbale Beleidigung, aufgezwungene vorgenommene medizinische Eingriffe, Verweigerung der Schmerzbehandlung oder eine grobe Verletzung der Intimsphäre genannt: "Jede Frau hat das Recht auf den bestmöglichen Gesundheitsstandard. Dies beinhaltet das Recht auf eine würdevolle und wertschätzende Gesundheitsversorgung."

"Eine gute Geburt ist unserer Gesellschaft immer noch zu wenig wert", sagt Hebamme Lehnertz. Dabei gehe es um das Wohl von zwei Personen, Mutter und Kind. Auch die Hebammen könnten etwas ändern. Auch unter Zeitdruck sei es immer noch möglich, einer Frau in zwei, drei Sätzen die notwendigen Maßnahmen zu erklären und wertschätzender mit der Schwangeren umzugehen - damit ein guter Start in ein gemeinsames Leben gelinge.

Christine Süß-Demuth


Kirchen

Gastbeitrag

Erwartungen an Theologen in der Diakonie-Führung




Thomas Müller (li.) und Christoph Radbruch
epd-bild/contec, privat
Können sich christliche Sozialunternehmen noch Theologen an der Spitze ihrer Häuser leisten? Ob Führung durch Theologen gebraucht wird, erläutern ein Personalberater und ein früherer Klinikvorstand.

Diakonie-Gremien stellen sich die Frage nach der zukunftsfähigen Gestaltung und Verortung des Profils sowie der Kernkompetenzen von Theologinnen und Theologen in der Leitung von diakonischen Unternehmen. Der Diskurs nimmt gerade im Kontext der (Nach-)Besetzung entsprechender Organfunktionen an Bedeutung zu. Weitet man den Blick und fragt andere Wohlfahrtsorganisationen: "Was macht eigentlich ein theologischer Vorstand und was ist dessen Kernkompetenz?", erntet man häufig Achselzucken. Sie sehen in dem Theologen oft eine Art nicht greifbaren 'Druiden Miraculix'. Es lohnt sich daher, Erwartungen an Theologen in der Diakonie-Führung sowie ihr Anforderungs- und Zuständigkeitsprofil für eine zukunftsfähige Aufstellung genauer zu betrachten.

Drei Sichtweisen in der Praxis

In der Praxis lassen sich drei Sichtweisen bzw. Modelle unterscheiden, die regelhaft in (Nach-)Besetzungsverfahren von theologischen Vorständen auftreten. Im tradierten Modell sehen Organisationen den Theologen in der Vorsitzendenfunktion eines mehrköpfigen Leitungsgremiums, mithin im Vorstandsvorsitz. Zugespitzt könnte das Motto lauten: "Das theologische Profil und die diakonische Rationalität sind leitend – das war schon immer so in unserem Werk." Das Modell besteht und wird von manchen Gremien, teilweise unreflektiert, fortgeschrieben.

Im ökonomisierten Modell wird der theologische Vorstand einem Vorstand anderer Profession, zumeist kaufmännisch, hierarchisch untergeordnet. Den Vorstandsvorsitz übernimmt z. B. der kaufmännische Vorstand. Sinngemäß: "Nur wenn die Zahlen stimmen, können wir unserem diakonischen Auftrag nachkommen." Im dritten, und im Bereich der diakonischen Krankenhäuser auf dem Vormarsch befindlichen Modell, wird die Einbeziehung des diakonischen Profils in Stabsstellen, Direktorien oder Instituten verortet, mithin ohne Organ- und damit formale Entscheidungsmacht – der Gedanke: "Diakonische Kompetenz kann auch außerhalb der Organfunktion verortet werden. Für die Einbeziehung in Leitungsentscheidungen und damit die Steuerung diakonischer Organisationen sind andere Professionen zuständig, z. B. Sozialwissenschaftler, Mediziner oder Kaufmänner."

Besetzungsverfahren für Theologen

Steht in diakonischen Unternehmen der Weggang eines Theologen an, erfolgt oft zuerst der Blick in die Satzung. Wird dort die Ordination als Voraussetzung genannt, dient diese als eine Art Gütesiegel, weil dadurch die formale Bindung zur verfassten Kirche gewährleistet wird. Da die Ordination keine Aussage über die konkreten Kompetenzen oder die Eignung eines Theologen für die Führungsaufgabe enthält, wird die theologische Kompetenz so in ihrer tatsächlichen Bedeutung marginalisiert.

Nicht selten erhalten theologische Vorstände heute keine faktische Entscheidungsgewalt und keine Prokura. Noch bevor sie die neue Führungsaufgabe übernehmen, wird mitunter die vorgesehene Rolle in der Geschäftsordnung verändert und die Verantwortung geschmälert. Es wird ihnen z. B. die Verantwortung für die Gremien- und Netzwerkarbeit, Öffentlichkeitsarbeit oder das diakonische Profil übertragen. Zentrale, für Bewerber besonders attraktive Ressorts bleiben zunehmend der kaufmännischen Führung vorbehalten.

Hier lohnt sich ein Umdenken: Statt den Zuständigkeitsbereich, auch in der Geschäftsordnung, bereits ex ante zu definieren, bietet sich eine gemeinsame Entwicklung der Zuständigkeitsfelder an – ebenso wie das Streben nach einer guten Passung der gemeinsamen Chemie. Die Frage lautet hier, welche pastoraltheologischen Kompetenzen für die Führung eines diakonischen Unternehmens hilfreich sind und wie die systematische Begleitung bzw. eine curriculare Aus- und Weiterbildung aussehen sollte, um die Methodenkompetenz für die Ausgestaltung dieser Führungsrolle zu erwerben.

Rahmenbedingungen für Theologen

Aus der Bewerberperspektive stellt sich die Frage, ob mit der unternehmerischen Aufgabe auch eine Pfarrstelle verbunden ist und ob die Management-Anforderungen mit dieser zusammengehen. Gerade in puncto Arbeitszeit ist diese Frage wichtig für die Attraktivität der Stelle.

Bei der Besoldung für Theologen in der Diakonie sind verschiedene Modelle möglich: Besteht ein Kirchenbeamtenverhältnis einer Landeskirche und soll dieses fortgeführt werden, sind die im Vertrag genannten Regelungen marktüblich (mithin orientiert an der Besoldungsstufe, z. B. A 16). Das heißt u. a. auch, dass nicht unerhebliche Versorgungsleistungen zu zahlen sind. Eine Vertragsbefristung ist marktüblich.

Mischmodelle (z. B. mit einer ruhegehaltsfähigen A 16-Besoldung und einer freien Zulage ohne entsprechende Versorgung) sind möglich, jedoch selten. Zu bedenken ist auch, dass eine günstige Miete oder sogar mietfreie Dienstwohnung bei Theologen im Beamtenverhältnis als Teil des Einkommens verstanden werden sollte. Bewirbt sich ein Interessent aus einem anderen Kontext, sind Vergütungen frei zu verhandeln und hängen von der Aufgabe und Organisation ab. In Besetzungsverfahren wird mitunter auch die Residenzpflicht kontrovers diskutiert. Lässt sich diese im Rahmen moderner Arbeitsmodelle noch begründen?

Den 'Kern vom Kern' finden

In diesem Spannungsfeld gilt es nun, die Perspektive zu weiten und Klarheit zu schaffen. Es hilft, die zweite Ebene, Mitarbeitervertretungen und kaufmännische Führungskräfte zu fragen, wie ihr Blick auf den Theologen ist, sowie die Bewerberperspektive oder die eines anderen Verbands einzunehmen. Anzustreben sind klare Zuständigkeiten und eine fundierte Antwort auf die Frage, was der 'Kern vom Kern' eines theologischen Profils ist. Dieser muss individuell für die jeweilige Organisation bzw. das Unternehmen herausgearbeitet werden – eine Arbeit, die für die gelungene Stellenbesetzung entscheidend ist.

Dr. Thomas Müller ist Geschäftsführer der Contes GmbH und leitet conQuaesso® JOBS, die Personalberatung der Contes. Christoph Radbruch ist Vorsitzender des Deutschen Evangelischen Krankenhausverbandes.


Gesundheit

Diakonie lehnt Konzentration auf Integrierte Notfallzentren ab



Die evangelischen Krankenhäuser und die Diakonie fordern ein flächendeckendes Notfallangebot auch nach der geplanten Reform der medizinischen Notfallversorgung. Man lehne die Konzentration auf Integrierte Notfallzentren an wenigen Standorten ab, teilten der evangelische Wohlfahrtsverband und der Deutsche Evangelische Krankenhausverband (DEKV) am 17. Februar anlässlich einer Verbändeanhörung im Bundesgesundheitsministerium in Berlin mit.

"Menschen wünschen sich, im Notfall qualifiziert versorgt zu werden und zeitnah die Notaufnahme zu erreichen", sagte DEKV-Chef Christoph Radbruch. Wichtig sei es, insbesondere die Bedürfnisse älterer und kognitiv eingeschränkter Menschen einzubeziehen, sagte er. Schon heute sei jeder dritte Patient in der Notaufnahme älter als 70 Jahre.

Zustimmung von Krankenkassen

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will mit der Reform die oftmals überfüllten Notfallambulanzen in den Kliniken entlasten. Zugleich soll der Rettungsdienst stärker ins Gesundheitswesen integriert werden. An den Krankenhäusern sollen Integrierte Notfallzentren entstehen, die für die Patienten erste Anlaufstelle werden und sie in die richtige Behandlungsform vermitteln sollen.

Sie könnten von Kassenärzten und Kliniken gemeinsam betrieben werden, aber in Verantwortung der Kassenärztlichen Vereinigungen stehen. Aus Sicht von DEKV und Diakonie sollte die fachliche Leitung der Zentren dagegen das Krankenhaus haben.

Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) begrüßte die geplante Reform indes. "Mit dem derzeit diskutierten Gesetzentwurf sehe ich die große Chance, die Akut- und Notfallversorgung der Menschen deutlich zu verbessern", sagte Vorstandsmitglied Stefanie Stoff-Ahnis. An den Notfallzentren würden leichtere Fälle von ambulant tätigen Ärzten direkt vor Ort behandelt, ernste Notfälle sofort in die Krankenhaus-Notaufnahme geleitet.



Pflegefinanzierung

Eigenanteil für Heimpflege steigt weiter



Für Pflegebedürftige wird nach neuen Daten die Versorgung im Heim immer teurer. Ihre Eigenanteile stiegen im bundesdeutschen Schnitt auf 1.940 Euro pro Monat, wie der Verband der Ersatzkassen am 19. Februar in Berlin mitteilte. Damit waren zum Jahresbeginn 110 Euro mehr zu bezahlen als noch im Januar 2019. Auffällig ist die große regionale Bandbreite der selbst zu zahlenden Betreuungskosten. Sie liegen in Sachsen-Anhalt mit 1.359 Euro am niedrigsten, den Spitzenwert zahlen Pflegebedürftige mit 2.357 Euro in Nordrhein-Westfalen.

Die vom Verband aufgelisteten Beträge setzen sich aus drei Bestandteilen zusammen: den Kosten für die reine Pflege und Betreuung, den Investitionskosten des Heimbetreibers, der auf die Bewohner umgelegt wird, und den Aufwendungen für Unterkunft und Verpflegung. Nicht enthalten ist die Ausbildungsumlage, die in einzelnen Bundesländern ebenfalls in Teilen von den Pflegebedürftigen mitgetragen werden muss und so die Kosten noch leicht erhöht.

Verbandschefin Ulrike Elsner sagte zu den neuen Daten: "Die steigenden Eigenanteile in der stationären Pflege machen Handlungsbedarf für eine Finanzreform in der Pflege deutlich." Es sei gut, dass die Gesundheitspolitik das Thema auf die Agenda genommen habe.

Führende Sozialverbände fordern vor dem Hintergrund der steigenden Kosten für pflegebedürftige Heimbewohner schon lange eine grundlegende Reform der Pflegefinanzierung. Sie werben dafür, für die Betroffenen je nach Pflegegrad einen fixen Eigenanteil festzulegen und alle anderen Kosten, die etwa durch steigende Löhne verursacht werden, von der Pflegekasse tragen zu lassen.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will bis Mitte des Jahres einen Vorschlag zur künftigen Finanzierung machen. Offen ist aber, wie seine Pläne aussehen.



Migration

Studie: Empörung als Grund für ehrenamtliche Flüchtlingshilfe



Ein Forschungsprojekt der Katholischen Hochschule Münster zur Motivation von Ehrenamtlichen in der Flüchtlingshilfe hat ein überraschendes Ergebnis gebracht: Viele Freiwillige helfen überwiegend aus Empörung. Sie wollten mit ihrem Engagement bewusst ein Zeichen gegen die Ablehnung von Flüchtlingen setzen, heißt es in einer Mitteilung des Caritasverbandes für die Diözese Münster vom 18. Februar.

Mit der Studie sollte auch ergründet werden, wie das ursprünglich vielfach spontane Engagement langfristig entwickelt werden kann hinsichtlich dauerhafter Motivation und der Gewinnung neuer Ehrenamtlicher, sagte Marion Hafenrichter vom Caritasverband. Diese Frage bewege vor allem die Ehrenamtskoordinatoren, deren Stellen mit Bistumsmitteln als Reaktion auf die Flüchtlingskrise in allen örtlichen Verbänden geschaffen wurden.

Die Befragten möchten durch die Politik mehr Unterstützung erfahren. Hilfreich wären für sie Fortbildungen und Supervision sowie eine bessere Vernetzung. Geschätzt würden die Vielfalt an Themen und Aufgaben sowie die enge persönliche Begleitung mit der Chance auf neue Freundschaften.



Ausschreibungen

Hertie-Stiftung fördert Projekte zu "gelebter Demokratie"



Die Hertie-Stiftung will mit dem neuen Förderprogramm "Mitwirken" Initiativen zur Stärkung der Demokratie unterstützen. Gefördert werden Projekte, die Partizipation gestalten, Vielfalt stärken, Transparenz schaffen oder Demokratie vermitteln, teilte die Stiftung am 14. Februar in Frankfurt am Main mit. Social Start-Ups, Vereine oder private Initiativen können sich bis 26. Februar 2020 bewerben.

"Demokratie kann sich nur weiterentwickeln, wenn Menschen den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern und stärken. Um ihr Engagement und ihre Aktivitäten sichtbarer und wirksamer zu machen, haben wir ein neues Förderprogramm für gelebte Demokratie ins Leben gerufen", sagte Frank-J. Weise, Vorstandsvorsitzender der gemeinnützigen Hertie-Stiftung. "Mitwirken" soll gute Ideen und lösungsorientierte Projekte identifizieren, sie begleiten und nachhaltig fördern.

Für erfolgreiche Bewerber startet am 27. Mai ein sogenannter Crowdfunding-Contest. "Der Crowdfunding-Contest ist ein erster Markttest für Ideen und Projekte, zudem können Mittel generiert und eine Community aufgebaut werden", sagte Kirsten Keppeler, Projektleiterin von "Mitwirken". Die Teilnehmenden werden den Angaben zufolge mit Workshops, Beratungen und Webinaren auf das Crowdfunding vorbereitet. Am Ende des Contests vergibt die Hertie-Stiftung an die 20 Projekte mit den meisten Unterstützern zusätzliche Preisgelder in Höhe von insgesamt 200.000 Euro.

Das Hertie-Förderprogramm ist auf drei Jahre angelegt. "Die Projekte werden von uns durch Qualifizierung, Vernetzung und Finanzierung gefördert. Die bis zu sechs stärksten Projekte können mit bis zu 100.000 Euro gefördert werden", sagte Keppeler.



Auszeichnungen

Augustinum schreibt "euward" für geistig behinderte Künstler aus



Die Münchner Augustinum Stiftung schreibt wieder ihren "euward" aus, den Europäischen Förderpreis für Malerei und Grafik im Kontext geistiger Behinderung. Bis 20. Mai könnten sich Künstlerinnen und Künstler mit kognitiven Beeinträchtigungen aus ganz Europa um den Preis bewerben, teilte die Augustinum Stiftung am 14. Februar mit. Die Preisverleihung soll im April 2021 im Haus der Kunst in München stattfinden.

Ziel des "euward" sei es, unbekannte Künstler zu fördern und ihr Schaffen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, teilte die Stiftung weiter mit. In jüngster Zeit habe sich Kunst von Menschen mit geistiger Behinderung zunehmend zu einer künstlerischen Szene entwickelt. Der "euward" wolle die künstlerische Qualität dieser Menschen sichtbar machen. Soziale Aspekte spielten dabei keine Rolle.

Eine Jury mit Experten aus ganz Europa wähle aus den Bewerbungen drei Preisträger aus. Diese sollen dann eine Ausstellung ihrer Werke im Haus der Kunst in München erhalten sowie Geldpreise und einen Katalog im Gesamtwert von rund 19.000 Euro. Der "euward", der 2000 erstmals verliehen wurde, ist den Angaben zufolge der international wichtigste Preis für Künstler mit geistiger Behinderung. Er wird bereits zum achten Mal verliehen. In den vergangenen Jahren hatten sich jeweils bis zu 800 Künstler aus 25 europäischen Nationen beworben.



Behinderung

Lebenshilfe veröffentlicht überarbeiteten Ratgeber



Der Ratgeber der Bundesvereinigung Lebenshilfe "Recht auf Teilhabe" zu allen wichtigen sozialen Leistungen für Menschen mit Behinderung ist in überarbeiteter Fassung erschienen. Das 376 Seiten starke Buch liefere einen Überblick über alle Rechte und Sozialleistungen, die Menschen mit Behinderung aktuell zustehen, teilte der Verband am 18. Februar in Berlin mit.

Insbesondere würden die zahlreichen Änderungen durch das Bundesteilhabegesetz erklärt. Auch die erst Ende 2019 vom Bundestag verabschiedeten Regelungen im Angehörigen-Entlastungsgesetz und im Änderungsgesetz zum Bundesteilhabegesetz (BTHG) seien bereits berücksichtigt.

Die Publikation (22 Euro plus Versandkosten) ist laut Lebenshilfe "eine hilfreiche Grundlage für Mitarbeitende in Beratungsstellen und bei Leistungserbringern". Auch Eltern, Geschwister und andere Angehörige sowie rechtliche Betreuerinnen und Betreuer fänden alle wichtigen Informationen, damit sie Menschen mit Behinderung bei der Durchsetzung ihrer Rechte unterstützen können.

Um den Leserinnen und Lesern den Einstieg in den "Dschungel" des Sozial-Rechts zu erleichtern, werden den Angaben nach eingangs die Rechtsansprüche von Menschen mit Behinderung in verschiedenen Lebensphasen und Lebenslagen anhand von Schaubildern dargestellt. Die einzelnen Kapitel enthalten zusätzlich Tipps und (Rechen)-Beispiele, außerdem wird auf einschlägige Urteile sowie Internetseiten, Zeitschriften oder Bücher verwiesen. Ein Schlagwort- und Abkürzungsverzeichnis rundet das Buch ab.




sozial-Recht

Gerichtshof für Menschenrechte

Blitzabschiebungen an EU-Außengrenze erlaubt




Der Schuh eines afrikanischen Flüchtlings an einem Grenzzaun der spanischen Exklave Melilla
epd-bild/Hans-Günter Kellner
"Mit dem Urteil wird das Recht auf Asyl weiter ausgehöhlt." Die Kritik der Diakonie Deutschland über eine aktuelle Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte fällt scharf aus. Laut EGMR darf Spanien Migranten bei Grenzübertritt umgehend nach Marokko zurückweisen.

Flüchtlinge können nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) faktisch kaum noch Asyl an einer EU-Außengrenze beantragen. "Werden sie beim illegalen Überklettern eines Grenzzaunes erwischt, dürfen sie nach der Entscheidung der Straßburger Richter ohne jegliche Registrierung und ohne Vorbringen ihrer Asylgründe umgehend wieder abgeschoben werden", sagte Katharina Stamm, Referentin für Europäische Migrationspolitik bei der Diakonie Deutschland am 19. Februar dem Evangelischen Pressedienst (epd). Faktisch bestehe damit keine Möglichkeit, ein Asylrecht geltend zu machen, da eine Asylantragstellung an einem Grenzposten oder in der Botschaft eines EU-Staates verhindert werde. Die Polizei lasse die Flüchtlinge erst gar nicht dorthin.

Im entschiedenen Rechtsstreit wollten zwei Flüchtlinge aus Mali und der Elfenbeinküste über Marokko in die auf nordafrikanischen Boden befindliche Stadt Melilla fliehen. Melilla gehört, ebenso wie die Stadt Ceuta, zu Spanien und ist von Marokko umgeben.

Sechs Meter hohe Zäune

Seit Jahren versuchen Flüchtlinge, in die umzäunten Städte zu gelangen, um so in Spanien Asyl beantragen zu können. Flüchtlingshilfsorganisationen und Medien berichten regelmäßig von Massenanstürmen von Flüchtlingen, die beim Versuch, die sechs Meter hohen Zäune zu überklettern, meist scheitern.

In Melilla hat Spanien die 13 Kilometer lange Grenze mit drei parallel verlaufenden Grenzzäunen gesichert. Zwischen vier Grenzübergängen patrouillieren Grenzbeamte, um eine illegale Einreise zu verhindern.

Als am 13. August 2014 eine große Zahl von Flüchtlingen die Grenzzäune überklettern wollten, konnte die marokkanische Polizei rund 500 Menschen noch abhalten. Von 100 Flüchtlingen schafften es 75 bis zum inneren Zaun, darunter auch die zwei Beschwerdeführer, die auf dem Zaun sitzenblieben und spanischen Boden noch nicht erreicht hatten.

Die Grenzbeamten holten die Männer herunter und schoben sie ohne jegliche Registrierung oder Anhörung ihrer Asylgründe ab. Die marokkanische Polizei brachte sie schließlich in die 300 Kilometer entfernte Stadt Fez, wo sie freigelassen wurden. Gegen die spanische Rückführungspraxis legten die Männer Beschwerde beim EGMR ein.

Verbot der Kollektivausweisung

Die Kleine Kammer des EGMR urteilte 2017, dass Spanien gegen das in der Menschenrechtskonvention enthaltene Verbot der Kollektivausweisung verstoßen habe. Flüchtlinge müssten ein Recht darauf haben, dass sie ihr Asylrecht auch in Anspruch nehmen können. Spanien hätte die Männer anhören müssen. Ihnen wurde eine Entschädigung von jeweils 5.000 Euro zugesprochen.

Doch das Urteil hatte nun vor der Großen Kammer des EGMR keinen Bestand. In ihrem Urteil vom 13. Februar betonten die Richter, dass die zwei sich "selbst in eine unrechtmäßige Situation" gebracht hätten. Sie hätten versucht, in einer großen Gruppe und Gewalt anwendend über die Sperren zu kommen.

Als Außengrenze des Schengen-Raumes sei Spanien verpflichtet, eine legale Einreise zu ermöglichen. Davon müssten auch Personen profitieren, die vor Verfolgung Schutz suchen. Es sei aber zumutbar, dass Asylanträge an den offiziellen Grenzübergängen oder in den spanischen Botschaften gestellt werden. Bei einem gewaltsamen Massenansturm von Flüchtlingen zum illegalen Grenzübertritt dürften Staaten die Einreise und damit die Aufnahme eines Asylverfahrens verweigern.

Gehindert von marokkanischen Offizieren

Hier habe es auch die Möglichkeit gegeben, an den Grenzübergängen Asylanträge zu stellen. Dies sei zwischen Januar und dem 31. August 2014 in Melilla in 21 Fällen geschehen. Die Beschwerdeführer hätten aber gar nicht dargelegt, dass sie zunächst einen legalen Grenzübertritt versucht hätten. Erst bei der Anhörung im EGMR hatten sie vorgebracht, dass "marokkanische Offiziere" sie gehindert hätten, an der spanischen Grenze Asyl zu beantragen. Hierfür wäre aber Spanien nicht verantwortlich.

"Mit dem Urteil wird das Recht auf Asyl weiter ausgehöhlt. Wie unter Umständen das Gebot der Nichtzurückweisung eingehalten werden kann, hat der Gerichtshof offengelassen", sagt Stamm. Dieses sogenannte Refoulement-Verbot ist ein völkerrechtlicher Grundsatz, der die Rückführung von Personen in Staaten untersagt, in denen ihnen Folter oder andere Menschenrechtsverletzungen drohen.

Zwar hätten Flüchtlinge formal Anspruch darauf, einen Asylantrag zu stellen. Hierfür müssten sie aber erst einmal Zugang zum Territorium der EU erhalten. In Marokko sorge die dortige Polizei dafür, dass Flüchtlinge gar nicht erst an die Grenze gelangten. Die EGMR-Entscheidung sei eine Abkehr von früheren Urteilen und zementiere weiter die "Festung Europa".

"Blankoscheck für Push-Backs"

"Grund- und Menschenrechte wie das Asylrecht stehen immer mehr unter Druck", sagt Stamm. So würden etwa die Europaratsmitglieder Russland und die Türkei sich oft nicht mehr an EGMR-Urteile und die Europäische Menschenrechtskonvention halten. "Auch das Asylrecht ist nicht gottgegeben" und könne immer stärker eingeschränkt werden, etwa indem Ungarn vorschreibt, dass Flüchtlinge nur noch in sogenannten Transitzentren an der Grenze Asyl beantragen können, warnte die Migrationsexpertin. Das EGMR-Urteil ebne den Weg, um Flüchtlinge leichter zurückzuweisen, befürchtet Stamm.

Az.: 8675/15 und 8697/15

Frank Leth


Bundesverfassungsgericht

Bis zu sechs Quadratmeter Zimmer zum Wohnen ist ausreichend



Ein nur fünf bis sechs Quadratmeter großes Zimmer in einer Wohngruppe für wohnsitzlose oder andere benachteiligte Menschen ist zumutbar. Dies gilt zumindest dann, wenn dem Bewohner neben dem eigenen Zimmer noch weitere zu nutzende Gemeinschaftsräume wie ein Esszimmer oder eine Küche zur Verfügung stehen, stellte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in einem am 19. Februar veröffentlichten Beschluss klar.

Im konkreten Fall sah die Beschwerdeführerin wegen einer fehlenden Unterkunft ihr Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum verletzt. Die Sozialverwaltung hatte ihr ein fünf bis sechs Quadratmeter großes Zimmer in einer Wohngruppe angeboten. Doch die Frau nahm dieses wegen der geringen Größe nicht an.

Das Bundesverfassungsgericht wies daraufhin die Verfassungsbeschwerde als unzulässig ab. Die gerügte Verletzung ihres menschenwürdigen Existenzminimum hätte die Frau beseitigen können, indem sie das Angebot des Wohngruppenzimmers angenommen hätte. Die geringe Größe von fünf bis sechs Quadratmeter sei nicht unzumutbar, wenn neben dem eigenen Zimmer noch weitere gemeinschaftlich zu nutzende Räume wie Wohnzimmer, Esszimmer und Küche zur Verfügung stehen. Dass solche Gemeinschaftsräume nicht vorhanden waren, habe die Frau nicht vorgebracht, so die Karlsruher Richter.

Az.: 1 BvR 1345/19



Bundesverfassungsgericht

Kein Durchgangsverbot für Blinde mit Hund in Arztpraxis



Blinden Menschen darf das Durchqueren einer Arztpraxis mit einem Blindenführhund grundsätzlich nicht verwehrt werden. Es stelle eine verfassungswidrige Benachteiligung wegen der Behinderung dar, wenn dies nicht behinderten Menschen erlaubt ist, Blinden mit ihrem zur Orientierung erforderlichen Hund jedoch nicht, entschied das Bundesverfassungsgericht in einem am 14. Februar veröffentlichten Beschluss. Ohne zwingende Gründe dürfe das Recht behinderter Menschen auf "persönliche Mobilität mit größtmöglicher Unabhängigkeit" nicht eingeschränkt werden, erklärten die Karlsruher Richter.

Im konkreten Fall befand sich eine blinde Frau aus Berlin in physiotherapeutischer Behandlung. Um in die Physiotherapiepraxis zu gelangen, konnten Patienten entweder ebenerdig durch den Wartebereich einer orthopädischen Praxis laufen oder durch den Hof über eine offene Stahlgittertreppe.

Durchgangsverbot unverhältnismäßig

Als die blinde Frau am 8. September 2014 mit ihrer Blindenführhündin zum wiederholten Mal den Weg zur Physiotherapie durch die Arztpraxis nehmen wollte, wurde ihr das aus "hygienischen Gründen" untersagt. Sie könne den Umweg über die Stahltreppe nehmen. Die Frau lehnte das ab, da ihre Hündin vor der Treppe scheue und sich bereits mit ihren Krallen im Gitter verfangen habe.

Vor dem Kammergericht Berlin hatte die Frau, die inzwischen zur Durchquerung der Praxis einen Rollstuhl benutzen musste, keinen Erfolg. Doch das Durchgangsverbot ist unverhältnismäßig und benachteilige die Frau in verfassungswidriger Weise, entschieden die Verfassungsrichter. Das im Grundgesetz geschützte Benachteiligungsverbot solle behinderten Menschen zu einem möglichst selbstbestimmten und selbstständigen Leben verhelfen. Danach dürfen sie ohne zwingende Gründe nicht von Betätigungen ausgeschlossen werden, die nicht Behinderten offenstehen.

Unabhängigkeit behinderter Menschen

Der Beschwerdeführerin sei es nicht zuzumuten, ihren Hund vor der Praxis anzuketten und "sich von der Hilfe ihr fremder oder wenig bekannter Personen abhängig zu machen", etwa indem eine fremde Person sie in einem Rollstuhl schiebt, stellte das Bundesverfassungsgericht auch mit Verweis auf die Behindertenrechtskonvention klar. Danach müssen die individuelle Autonomie und die Unabhängigkeit von behinderten Menschen geachtet und die Teilhabe an der Gesellschaft gewährleistet werden.

Die von den Ärzten vorgebrachten "hygienischen Gründe" seien zudem nicht überzeugend. Das Robert Koch-Institut und die Deutsche Krankenhausgesellschaft hätten keine hygienischen Bedenken gegen die Mitnahme von Blindenführhunden in Praxen und Krankenhausräumen.

Az.: 2 BvR 1005/18



Bundesverfassungsgericht

Eilantrag gegen Mietendeckel scheitert in Karlsruhe



Das Bundesverfassungsgericht hat einen Eilantrag gegen den vor zwei Wochen vom Berliner Abgeordnetenhaus verabschiedeten Mietendeckel als unzulässig abgewiesen. Der Antrag von drei Immobilienunternehmen auf Außerkraftsetzung des entsprechenden Gesetzes zum Einfrieren der Mieten für fünf Jahre sei verfrüht gestellt worden, teilte das Bundesverfassungsgericht am 14. Februar in Karlsruhe mit.

Zur Begründung hieß es von der dritten Kammer des Ersten Senats, die Zulässigkeit eines Eilantrags gegen ein Gesetz vor dessen Verkündung setze voraus, "dass der Inhalt des Gesetzes feststeht und seine Verkündung unmittelbar bevorsteht". Das sei aber im Fall des Gesetzes über den Berliner Mietendeckel nicht der Fall.

Die Antragsteller hätten nicht dargelegt, dass das Gesetzgebungsverfahren vollständig abgeschlossen ist. Zwar würden nach dem Berliner Landesrecht Gesetzesanträge regelmäßig nur in zwei Lesungen beraten und beschlossen. Allerdings könne auf Verlangen des Präsidenten des Abgeordnetenhauses oder des Senats eine dritte Lesung stattfinden. Zudem habe der Präsident des Abgeordnetenhauses dann Gesetze unverzüglich auszufertigen. Aus dem Antrag der Immobilienunternehmen sei aber nicht ersichtlich, dass keine dritte Lesung mehr geplant ist.

Die Wohnungsvermieter hatten in Karlsruhe beantragt, die Verletzung von bestimmten Auskunftspflichten und von Regelungen zur gesetzlich bestimmten Höchstmiete im Gesetz vorläufig nicht als Ordnungswidrigkeit einzustufen.

Az.: 1 BvQ 12/20



Bundesgerichtshof

Stromstöße in der Schizophrenie-Behandlung nicht ohne Einwilligung



Schizophrenie-Patienten dürfen in der Regel nicht gegen ihren Willen mit einer sogenannten Elektrokrampftherapie behandelt werden. Nur wenn in der Medizin weitgehend Einigkeit besteht, dass diese Behandlung tatsächlich dem wissenschaftlichen Standard entspricht, darf sie als Zwangsbehandlung genehmigt werden, entschied der Bundesgerichtshof (BGH) in einem am 17. Februar veröffentlichten Beschluss. Für die Elektrokrampftherapie gebe es solch einen Konsens zur Behandlung der Schizophrenie jedoch nicht, befanden die Karlsruher Richter.

Im konkreten Fall war der 26-jährige Beschwerdeführer seit Februar 2018 wiederholt wegen einer chronischen paranoiden Schizophrenie in einem Krankenhaus untergebracht. Weil verschiedene Medikamente nicht wirkten, stimmte der gerichtlich bestellte Betreuer einer Elektrokrampftherapie gegen dessen Willen zu. Dabei erhält der Patient unter Narkose Stromstöße. Gegen diese Zwangsbehandlung legten er und ihre Mutter Beschwerde ein.

Vom BGH bekamen sie nun recht. Eine solche Zwangstherapie sei nach dem Gesetz nur genehmigungsfähig, wenn sie "notwendig" sei. Doch als "notwendig" könnten ausschließlich Behandlungen angesehen werden, deren Art und Durchführung von einem breiten "medizinisch-wissenschaftlichen Konsens" getragen werde, so das Gericht.

Zwar könne die Elektrokrampftherapie nach den geltenden Leitlinien bei der Schizophrenie-Behandlung gerechtfertigt sein, aber nur, wenn auch ein depressives Krankheitsbild mit Suizidgefahr besteht. Das war hier aber nicht der Fall, entschied der BGH.

Az.: XII ZB 381/19



Oberverwaltungsgericht

Kein Anspruch auf individuell passende Kita-Betreuung



Eltern eines Kleinkindes haben einer Gerichtsentscheidung zufolge keinen Anspruch auf einen Betreuungsplatz, dessen Umfang sich nach ihrem zeitlichen Bedarf richtet. Zwar bestehe ein Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für ein- bis dreijährige Kinder, heißt es in dem am 14. Februar veröffentlichten Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Münster. Doch sei es auch unter Berücksichtigung des Wahlrechts der Erziehungsberechtigten wenig wahrscheinlich, dass die Öffnungszeiten einer Kindertageseinrichtung in jeder Hinsicht den individuellen Bedürfnissen entsprechen können. Der Beschluss ist unanfechtbar.

Mit der Eilentscheidung wurde die Beschwerde eines Elternpaares aus Köln abgewiesen. Dieses war vor dem Verwaltungsgericht Köln mit einem Antrag gescheitert, dass die Stadt ihrem Kind einen U3-Platz mit einer Betreuungszeit bis mindestens 18 Uhr sicherstellen muss.

Ausweitung des Angebots auf Randzeiten

Weil in der einzigen wohnortsnahen städtischen Kita mit entsprechenden Öffnungszeiten kein Platz zur Verfügung stand, war ihnen zuvor eine andere Tageseinrichtung mit Zeiten lediglich bis 16.30 Uhr angeboten worden. Die Eltern bestanden aber auf einen Platz mit einer Betreuung bis 18 Uhr. Sie argumentierten, sie seien in der Medienbranche tätig und wegen der dortigen Arbeitszeiten darauf angewiesen.

Die Verpflichtung der Träger der öffentlichen Jugendhilfe, ein Angebot von Betreuungsplätzen vorzuhalten, beschränke sich auf den Gesamtbedarf, erklärten dagegen die Oberverwaltungsrichter in Münster. Die Stadt Köln sei im Einzelfall als Träger nicht verpflichtet, die Kapazität einer bestimmten Tageseinrichtung mit erweiterten Betreuungszeiten zu erhöhen. Ebenso wenig bestehe ein Anspruch auf Ausweitung des Betreuungsangebots auf Randzeiten in der zugewiesenen Kindertageseinrichtung.

Nach Ansicht der Richter sollten die Eltern zur Abdeckung des individuellen Bedarfs eine Tagesmutter in Betracht ziehen. Die Kindertagespflege sei der frühkindlichen Förderung in einer Kita gleichrangig, hieß es.

Az.: 12 B 1324/19



Sozialgericht

Auch EU-Ausländer sollen Transferleistungen bekommen



Das Sozialgericht Darmstadt hält es für grundgesetzwidrig, EU-Ausländer von staatlichen Unterstützungsleistungen auszuschließen. Das Gericht hält es demnach für unzulässig, dass in Deutschland lebende EU-Ausländer, die nicht arbeiten und kein anderes Aufenthaltsrecht haben, kein Arbeitslosengeld II und keine Sozialhilfe bekommen. Das Grundgesetz gewähre abgeleitet von Artikel eins das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, begründete das Gericht am 14. Februar seine Rechtsauffassung. Als Menschenrecht stehe dieses Grundrecht Deutschen wie ausländischen Staatsangehörigen in Deutschland gleichermaßen zu.

Der konkrete Fall betrifft nach Angaben des Sozialgerichts eine Mutter mit drei minderjährigen Kindern. Sie sind rumänische Staatsangehörige und leben seit 2010 in Deutschland. 2018 stellte die Ausländerbehörde das Fehlen eines Freizügigkeitsrechts fest. Dagegen klagt die Familie vor dem Verwaltungsgericht. Wegen des ungeklärten Aufenthaltsrechts erhält die Familie kein Arbeitslosengeld II und keine Sozialhilfe. Dagegen hat die Familie einen Eilantrag vor dem Sozialgericht gestellt. Gegenwärtig lebt sie laut Gericht im Wesentlichen von Sachspenden einer Kirchengemeinde. Es drohe die Obdachlosigkeit, da eine Räumungsklage wegen rückständiger Mieten erhoben worden sei.

Das Sozialgericht hat nach eigenen Angaben den Fall dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt. Das höchste Gericht solle entscheiden, ob die gesetzlichen Vorschriften zum Leistungsausschluss von EU-Ausländern mit dem Grundgesetz vereinbar sind.

Az.: S 17 SO 191/19 ER



Landgericht

Acht Jahre Haft für Pfadfinder-Betreuer wegen Kindesmissbrauchs



Das Landgericht Freiburg hat einen ehemaligen Pfadfinder-Betreuer wegen sexuellen Kindesmissbrauchs zu acht Jahren Haft verurteilt. Zusätzlich werde Sicherungsverwahrung angeordnet, sagte Richter André Pressel am 19. Februar in Freiburg. Der Angeklagte werde wegen Kindesmissbrauchs teils in schwerer Form in insgesamt 124 Fällen verurteilt. Erwiesen sei, dass er vier Jungen, die im Tatzeitraum zwischen neun und 13 Jahren waren, missbraucht habe.

"Von den Kindern initiiert"

Christian L. habe von Anfang an Missbrauchshandlungen eingeräumt. Beim Geständnis habe es aber Abweichungen gegeben, sagte Pressel. Dass die Taten, wie von Christian L. angegeben, von den Kindern initiiert wurden, "hält die Kammer für absolut ausgeschlossen". Bei der Gesamtstrafe seien die gravierenden psychischen Folgen für die Kinder berücksichtigt.

Den Kontakt zu zwei der Geschädigten hat der Beschuldigte über seine frühere Tätigkeit als Pfadfinderbetreuer bei der evangelischen Pfadfindergruppe "Lazarus von Schwendi" im Schwarzwaldort Staufen hergestellt. Zwei weitere Jungen lernte er in einer Theatergruppe und auf einem Campingplatz kennen. Ursprünglich beschuldigte ihn die Staatsanwaltschaft des Missbrauchs der vier Jungen in fast 700 Fällen. Die Jugendkammer des Landgerichts ließ 330 Taten zur Verhandlung zu.

Christian L. war 2003 schon einmal des Missbrauches beschuldigt worden. Aus Mangel an Beweisen wurde er in einem Berufungsverfahren 2007 freigesprochen. Danach war er ohne Auflagen wieder als ehrenamtlicher Betreuer bei der örtlichen Pfadfindergruppe der Christlichen Pfadfinderschaft Deutschlands (CPD) und von 2010 bis 2012 zusätzlich bei der Kirchengemeinde als Mitarbeiter der Kinder- und Jugendarbeit und als Hausmeister angestellt.



Landgericht

Fünf Jahre Haft für Bremer Pflegehelfer



Ein Pflegehelfer muss für fünf Jahre ins Gefängnis, weil er zwei Bewohnerinnen eines diakonischen Pflegeheims in Bremen ohne medizinische Notwendigkeit Insulin gespritzt hat. Nach Überzeugung des Bremer Landgerichts habe sich der 40-Jährige der erheblichen gefährlichen Köperverletzung und der schweren Misshandlung von Schutzbefohlenen schuldig gemacht, sagte der Vorsitzende Richter Manfred Kelle in seiner Urteilsbegründung am 20. Februar. Außerdem verhängte das Gericht ein Berufsverbot von fünf Jahren.

Im Frühjahr vergangenen Jahres habe der Angeklagte versucht, die beiden schwerbehinderten Frauen in Lebensgefahr zu bringen, sagte Richter Kelle. Er habe einen Notfall herbeiführen wollen, um sich vor Kollegen profilieren zu können. Der Pflegehelfer kann binnen einer Woche gegen das Urteil Revision beantragen.

Az: 1 KLs 250 Js 22271/19




sozial-Köpfe

Caritas

Wolfgang Wasel wird Vorstand der Stiftung Haus Lindenhof




Wolfgang Wasel
epd-bild/Haus Lindenhof
Wolfgang Wasel, Dekan der Hochschule Ravensburg-Weingarten an der Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege, wird Vorstand der Stiftung Haus Lindenhof. Der 52-jährige Psychologe wird sein Amt am 1. September 2020 antreten.

Der Hochschullehrer Wolfgang Wasel löst Jürgen Kunze an der Spitze der Stiftung Haus Lindenhof in Schwäbisch Gmünd ab. Kunze hat die Altersgrenze erreicht und geht nach 15 Jahren als Vorstand der Stiftung in den Ruhestand. Der Stiftungsrat wählte Wasel, Dekan der Hochschule Ravensburg-Weingarten an der Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege, einstimmig in den zweiköpfigen Vorstand.

Aufgrund seiner bisherigen Tätigkeit im Stiftungsrat der Stiftung Haus Lindenhof seien Wasel viele aktuelle Fragestellungen des Sozialunternehmens vertraut. Aus seinen früheren Vorstandstätigkeiten in der Stiftung Liebenau und in der Stiftung Pfennigparade in München kenne er die Aufgabe als Fachvorstand im Detail. Erfahrung und Kompetenz ermöglichten ihm einen nahtlosen Einstieg in die neue Aufgabe als fachlicher Vorstand der Stiftung Haus Lindenhof, hieß es.

Jürgen Kunze ist seit Mai 2005 als Fachvorstand in der Stiftung Haus Lindenhof tätig. Er folgte seinerzeit dem Gründungsvorstand Georg Letzgus nach.

Die Stiftung Haus Lindenhof wird im Jahr 2021 ihr 50-jähriges Jubiläum feiern. Die Aufgaben sind umfangreicher geworden; die Zahl der Beschäftigten und Betreuten ist stark gewachsen. 1978 unterstützte die Stiftung 241 Menschen an zwei Standorten mit 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. In der Region Ostwürttemberg und im Kreis Göppingen gehören heute mehr als 100 Angebote an 67 Standorten zur Stiftung Haus Lindenhof. Rund 2.200 alte Menschen und Menschen mit Behinderung werden von rund 2.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stiftung begleitet, gefördert, betreut und gepflegt. Der Umsatz hat sich von 3,3 Millionen Euro auf 87 Millionen Euro erhöht.



Weitere Personalien



Sabine Lindau wird neues Mitglied im Vorstand des Diakonischen Werks Bayern. Der in Nürnberg ansässige Wohlfahrtsverband will mit der Theologin und Betriebswirtin seine Netzwerkarbeit in der Landeshauptstadt München stärken. Die 53-Jährige ist bislang Geschäftsführerin der Münchner Bezirksstelle der Diakonie Bayern und Mitglied der Leitungskonferenz der Inneren Mission. In ihrer neuen Funktion solle sie die Kontakte zu Ministerien, Parteien und Verbänden intensivieren. Inhaltlich sei Lindau beim Diakonischen Werk Bayern künftig für die Bereiche Integration, Migration und Flüchtlingshilfe sowie Kinder, Jugendliche, Familien, Frauen verantwortlich, hieß es weiter. Ihr Amtsantritt als Vorstandsmitglied sei für Sommer geplant. Bislang wird das Diakonische Werk von Diakoniepräsident Michael Bammessel, dem zweiten Vorstand Wolfgang Janowsky und der Fachvorständin Sandra Schuhmann geleitet. Im DW Bayern sind über 1.300 Träger mit mehr als 90.000 Mitarbeitenden zusammengeschlossen.

Anja Sakwe Nakonji wird Geschäftsführerin bei der Sozialimmobilien-Beratung Terranus (Köln). Gemeinsam mit dem langjährigen Geschäftsführer Markus Bienentreu leitet sie künftig das Unternehmen. Die erfahrene Krankenhaus- und Altenheim-Managerin soll vor allem das Beratungs-Geschäft von Terranus betreuen und ausbauen. Die Diplom-Volkswirtin verfügt über langjährige Führungserfahrung in der Gesundheits- und Altenhilfebranche. Dazu gehören mehrere Positionen als Geschäftsführerin sowie Einrichtungsleiterin bei der Malteser Deutschland gGmbH. Zuletzt war sie als Geschäftsführerin des Waldkrankenhaus St. Marien in Erlangen tätig. Terranus berät Banken und Investoren bei der Auswahl von Sozialimmobilien sowie Betreiber in Fragen um den wirtschaftlichen Betrieb. Bei Bedarf agieren Terranus-Berater als Interim-Manager in den Einrichtungen.

Johannes Freiherr von Erffa ist neues ehrenamtliches Mitglied im Landesvorstand der Johanniter in Bayern. Er folgt auf Christopher Kruse, der aus beruflichen Gründen nach Berlin gezogen ist. Von Erffa war bisher ehrenamtliches Mitglied im Regionalvorstand Mittelfranken. Seit 1991 engagiert er sich ehrenamtlich für die Johanniter-Unfall-Hilfe. Hauptberuflich ist von Erffa Leiter des Medizincontrolling und Oberarzt für Kardiologie am Martha-Maria Krankenhaus in Nürnberg.

Wilfried Schnepp, langjähriger Inhaber des Lehrstuhles für Familienorientierte und gemeindenahe Pflege und Leiter des international anerkannten Promotionsprogrammes der Pflegewissenschaft an der Universität Witten/Herdecke, ist in Osnabrück gestorben. Er wurde 62 Jahre alt. Schnepp war zunächst Lehrbeauftragter, später Lehrstuhlinhaber und hat die Entwicklung der Pflegewissenschaft in Witten vorangetrieben. Sein Lehrstuhl für familienorientierte und gemeindenahe Pflege, den er bis zuletzt geleitet hat, war der erste seiner Art in Deutschland. 2001 promovierte der gelernte Krankenpfleger an der Universität Utrecht in der Pflegewissenschaft zu dem Thema "Familiale Sorge in der Gruppe der russlanddeutschen Spätaussiedler – Funktion und Gestaltung".

Petra Rossbrey ist die neue ehrenamtliche Vorsitzende des Kreisverbandes Frankfurt am Main der Arbeiterwohlfahrt (AWO). Die 60-jährige Juristin trat bei der Wahl am 15. Februar ohne Gegenkandidaten an und erhielt 58 von 67 Delegiertenstimmen. Zu ihren Stellvertretern wurden Barbara Dembowski und Hauke Hummel gewählt. Nach Ermittlungen der Frankfurter Staatsanwaltschaft wegen Betrugs- und Untreueverdachts in den Kreisverbänden Frankfurt und Wiesbaden hatten mehrere Präsidiumsmitglieder der Frankfurter AWO im Dezember ihre Ämter niedergelegt. Dabei geht es unter anderem um üppige Gehälter und teure Dienstwagen. Das neue Präsidium habe sich zum Ziel gesetzt, verlorenes Vertrauen wiederherzustellen, teilte der AWO-Kreisverband mit.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis April



Februar

25.-26.2. Paderborn:

Seminar "Grundlagen der Personaleinsatz-planung in der stationären Altenhilfe"

der IN VIA Akademie

Tel.: 05251/2908–0

27.2. Köln:

Seminar "Pflegeversicherung aktuell: Die ambulante Pflege"

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-159

März

2.-3.3. Eichstätt:

Fachtagung "Kirchliches Arbeitsrecht: Motor oder Bremse?"

der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt

Tel.: 08421/93-23069

4.3. Mainz:

Seminar "Fördermittel für Vereine und gemeinnützige Organisationen"

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 0711/25298921

6.3. Berlin:

Seminar "Rund ums Urlaubsrecht - Beseitigung von Unklarheiten bei Urlaubsansprüchen"

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/2758282-17

10.3. Berlin:

Seminar "Aktuelle Fragen der Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten (§§ 67 ff. SGB XII)"

des Deutschen Vereins

Tel.: 030/62980 301

10.3. Ludwigsburg:

Workshop "Digitale Moderationstools"

der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg

Tel.: 0170/6117483

10.-12.3. Berlin:

Fortbildung "Psychisch kranke Wohnungslose zwischen den Hilfesystemen - Aspekte bedarfsgerechter Hilfen"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/488 37-495

17.3. Braunschweig:

Fachtag "Pflege - Mehr Verantwortung für die Kommune – es funktioniert?!"

des DEVAP

Tel.: 030/83001-265

18.3. Dortmund:

LWL-Messe der Integrationsunternehmen "Integration entfaltet Chancen"

des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe

Tel.: 0251/591-235

20.3. Leipzig:

Kongress "Aufarbeitung von DDR-Unrecht, Zwangsadoption und Säuglings-/ Kindstod in der ehemaligen DDR"

der Interessengemeinschaft gestohlene Kinder der DDR

Tel.: 0176/20144406

24.3. Berlin:

Seminar "Rechtliche Grundlagen der Dienstplangestaltung"

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/2758282 17

24.-25.3 Berlin:

Seminar "Digitalisierung täglicher Arbeitsprozesse erfolgreich vorbereiten"

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/2758282-15

24.-26.3. Hannover:

Messe "Altenpflege 2020 - Wir arbeiten wir in der Zukunft?"

von Vincentz Network

Tel.: 0511/9910-175

26.-27.3. Berlin:

Seminar "EU-Förderprogramme strategisch einsetzen"

des Deutschen Vereins für öffentliche und privaten Fürsorge

31.3.-1.4. Aschaffenburg:

Tagung "Unerwartet und plötzlich - Beratung bei Schicksalsschlägen"

der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung

Tel.: 030/62980606

20.4. Mainz:

Seminar "Einführung in die ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) - Die Chancen der ICF in der Hilfeplanung erkennen und nutzen!"

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 0711/25298921

27.-28.4. Berlin:

Fachveranstaltung "Aktuelle Fragen der Grundsicherung für Arbeitssuchende"

des Deutschen Vereins

Tel.: 030/62980 606