sozial-Politik

Rente

Aus dem Gefängnis in die Armut




Häftlinge in Justizvollzugsanstalt in Berlin-Moabit bei der Arbeit.
epd-bild/Jürgen Blume
Häftlinge arbeiten oft über Jahre hinter Gefängnismauern. Beiträge in die Rentenkasse fließen dafür nicht. Sozialverbände beklagen, dadurch sei Altersarmut vorprogrammiert. Die Kosten einer Reform müssten die Länder stemmen. Noch aber zögern sie.

Die Justizministerkonferenz der Länder bearbeitet ein Feld, das schon vor 39 Jahren bestellt wurde: Es geht um die heikle Frage, ob und wie Strafgefangene, die viele Jahre hinter Gittern arbeiten, in die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen werden können. Ein Plan, der bereits im Strafvollzugsgesetz 1977 festgeschrieben war. Doch dabei blieb es, denn ein Bundesgesetz wurde nie erlassen. Wohl nicht zuletzt aus Kostengründen. Bei der nächsten Justizministerrunde am 17. November geht die Debatte in die nächste Runde.

Seit dem Vorjahr befindet sich das zählebige Projekt wieder auf der politischen Agenda, auch dank der Initiative der Justizministerin aus Mecklenburg-Vorpommern, Uta-Maria Kuder (CDU). "Wegen der Aktualität des Themas Rente schien mir der Zeitpunkt günstig, um auch über die bislang gesetzlich nicht verpflichtend einbezogenen Strafgefangenen und Sicherungsverwahrten zu sprechen", sagte die Ministerin dem Evangelischen Pressedienst (epd): "Die Altersvorsorge gehört zu jedem Leben dazu. Auch Gefangene müssen die Möglichkeit haben, Rentenbeiträge einzuzahlen." Sie sehe das als wichtigen Beitrag zur Resozialisierung an.

Zunächst beriet ein Ausschuss

Doch ihre Ministerkollegen zeigten sich nicht eben entscheidungsfreudig. Sie vertagten bei ihrem Treffen im Juni 2015 eine schnelle Entscheidung - und beriefen einen Ausschuss ein. Darin sieht das Grundrechtekomitee einen Teilerfolg seiner Bemühungen, einstigen Gefangenen und Sicherungsverwahrten einen Rentenanspruch zu ermöglichen: "Endlich ist die Tür zu einer Lösung wieder aufgestoßen", freute sich das Komitee.

Umso größer war dessen Frust, als es ein Jahr später in Nauen in Brandenburg nicht zu der erhofften positiven Entscheidung der Ressortchefs kam. Zwar lag das Ergebnis der Beratungen im Strafvollzugsausschuss der Länder vor, doch wurde die Bundesregierung noch nicht aufgefordert, per Gesetz die Gefangenen in die Rentenkasse einzubeziehen. Zuvor gebe es noch Klärungsbedarf mit Blick auf die Finanzen, hieß es. Ein weiterer Ausschuss, gebildet von den Finanz- und Sozialministern der Länder, soll die Kosten des heiklen Unterfangens klären, für das der Strafvollzugsausschuss mehrere Modelle vorgelegt hat.

Martin Singe vom Grundrechtekomitee nennt das ein "unwürdiges Spiel auf Zeit". Das Vertrauen in den Rechts- und Sozialstaat werde durch solche Verzögerungsentscheidungen nicht gestärkt. Aber: "Nun gilt es, den politischen Kampf fortzusetzen."

Deutscher Verein: Lange vernachlässigtes Thema

Einer der Fürsprecher der Reform ist der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge, der für sich in Anspruch nimmt, viel Expertise zu bündeln. Er spricht von einem "lange vernachlässigten sozialpolitischen Thema" und ruft die Länder auf, den Weg für die Rente für Gefangene freizumachen.

Auch die Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe wirbt für die Rentenzahlung. "Die Ausgrenzung aus der Alterssicherung stellt den Resozialisierungsgedanken auf den Kopf", sagt Geschäftsführer Klaus Roggenthin. Eine Freiheitsstrafe dürfe keine negativen Folgen über die Zeit der Haft hinaus haben: "Aus dem Sozialstaatsprinzip, dem Gleichheitsgrundsatz und dem Würde-Prinzip des Grundgesetzes leitet sich ebenfalls die Notwendigkeit der Einbeziehung der Strafgefangenen in die Rentenversicherung ab."

Das sah das Bundesverfassungsgericht 1998 anders und bestätigte deren Ausschluss aus der Rentenkasse. Das Grundgesetz "zwingt nicht zu einer Ausdehnung auf Pflichtarbeit im Strafvollzug." Dass Häftlinge bei den Rentenantwartschaften außen vor bleiben, wird damit begründet, dass ein Grundmerkmal für die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung die Freiwilligkeit der Arbeitsaufnahme ist. Das ist bei Arbeiten hinter Gittern aber nicht der Fall.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamt aus dem Vorjahr waren durchschnittlich rund 63.000 Personen in Haft. Daten zu ihrer bundesweiten Beschäftigungsquote gibt es nicht, sie liegt zwischen 50 und 77 Prozent.

Kosten bis zu 198 Millionen Euro erwartet

Die Kosten, die die Länder im Falle der Einführung der Rentenanwartschaft zu tragen hätten, hat der Deutsche Caritasverband errechnet. Er geht von bis zu 198 Millionen Euro pro Jahr aus, je nachdem, welche Bemessungsgrundlage gewählt wird. Für ihre Kalkulation ging die Caritas davon aus, dass die Beschäftigungsquote der Häftlinge zwischen 55 und 60 Prozent liegt. Aber: Langfristiges Ziel müsse es sein, die Löhne der Häftlinge so weit anzuheben, dass sie eigene Rentenbeiträge bezahlen können.

Eine Kosten-Nutzen-Rechnung der Rentenpläne aufzumachen, ist nicht leicht. Zum einen, weil auf der Einnahmeseite oft außer acht gelassen wird, dass die Arbeit der Häftlinge zu Gewinnen der Länder führt. So erzielt etwa Nordrhein-Westfalen durch Warenproduktion und Dienstleistungen von Inhaftierten laut Grundrechtekomitee rund 50 Millionen Euro jährlich. Und: Rentenzahlungen an die Ex-Gefangenen würden andere Sozialetats maßgeblich entlasten, etwa bei der Grundsicherung im Alter.

Dennoch ist klar, dass eine Reform zunächst viel Geld kostet, das nicht leichtfertig ausgegeben wird. Bis zur nächsten Justizministerkonferenz im November haben die Experten viel zu berechnen. Ob dann schon eine Entscheidung der Minister pro Rente fällt, ist offen. Kuder: "Das wird vom Ergebnis der Arbeitsgruppe abhängen." Und das bleibe abzuwarten.

Dirk Baas


Ethik

Experten mehrheitlich für klinische Studien mit Demenzkranken



Eine Mehrheit von Sachverständigen hat sich bei einer Anhörung im Bundestag dafür ausgesprochen, die Regelungen zur Teilnahme demenzkranker Patienten an klinischen Studien zu liberalisieren. Dagegen sprachen sich am 19. Oktober in Berlin jedoch der katholische Theologe Andreas Lob-Hüdepohl und der Transplantations-Mediziner und frühere Präsident des Evangelischen Kirchentags, Eckhard Nagel aus.

Nagel sagte, mit Studien an nicht einwilligungsfähigen Patienten allein zu Forschungszwecken werde eine Grenze überschritten, die nicht überschritten werden sollte. Der Erlanger Theologe und evangelische Ethiker Peter Dabrock befürwortete hingegen die streng regulierte Teilnahme auch schwer demenzkranker Patienten an klinischen Studien, von denen möglicherweise spätere Patientengenerationen profitieren.

Der Gesetzentwurf von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) sieht vor, dass Menschen, die an solchen Studien teilnehmen wollen, dies vorab in gesundem Zustand in einer Verfügung festlegen müssen. Dabei geht es etwa um die Erprobung von Medikamenten. Bisher ist die Teilnahme nichteinwilligungsfähiger Patienten an solchen Forschungen nur dann erlaubt, wenn sie selbst einen gesundheitlichen Nutzen haben.

Pragmatische Einwände gegen die geplante Gesetzesänderung kamen von dem Frankfurter Altersforscher und -mediziner Johannes Pantel. Er legte den Abgeordneten dar, dass die gegenwärtige Rechtslage die klinische Demenzforschung nicht behindere und daher eine Liberalisierung nicht notwendig sei. Pantel erklärte, Tests zu innovativen Arzneimitteln gegen Alzheimer etwa würden mit Patienten im Frühstadium der Krankheit durchgeführt, wenn sie noch entscheidungsfähig seien und in die Studie einwilligen könnten. Das gleiche gelte für diagnostische Studien und solche, mit denen die Anwendung und Verträglichkeit von Medikamenten getestet werden.

Der Theologe Lob-Hüdepohl, der auch dem Deutschen Ethikrat angehört, kritisierte an Gröhes Gesetzentwurf, mit einer Vorab-Verfügung für eine mögliche Studienteilnahme bei fortgeschrittener Krankheit werde nur der Schein von Selbstbestimmung erzeugt. Die Menschen könnten zum Zeitpunkt der Zustimmung noch nicht wissen, an welcher Art von Tests sie später teilnehmen. Deshalb müsse es bei der gegenwärtigen Rechtslage bleiben, wonach die Teilnahme nicht einwilligungsfähiger Erwachsener an sogenannten gruppennützigen Forschungen verboten ist.

Demgegenüber sieht der evangelische Ethiker Dabrock in den Plänen Gröhes und ergänzenden Anträgen aus dem Parlament eine "verantwortungsvolle Gesetzesregelung". Sie ermögliche unter kontrollierbaren, engen Voraussetzungen, dass Patienten sich an einer Forschung für Menschen beteiligen könnten, die an demselben Krankheitsbild leiden wie sie selbst, sagte der Vorsitzende des Deutschen Ethikrates. Auch andere Sachverständige bescheinigtem dem Gesetzgeber, eine maßvolle Regelung vorzuschlagen, die die Interessen der Forschung und der Studienteilnehmer gleichermaßen berücksichtige.

Die Gegner der Liberalisierung aus allen Bundestagsfraktionen wollen die gegenwärtige Rechtslage aufrecht erhalten. Die Befürworter argumentieren, dass mit den geplanten, deutschen Regelungen eine noch liberalere Regelung der EU verhindert werde. Eine Gruppe von Abgeordneten um den SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach hat Ergänzungen zum Gröhe-Entwurf vorgelegt, die weitere Auflagen vorsehen, wie etwa ein verpflichtendes Arztgespräch vor der Abfassung einer Verfügung.

Der Bundestag hatte die Abstimmung über die Gesetzesnovelle im Juli vertagt, nachdem die Gegner dagegen Sturm gelaufen waren. Der Gesundheitsausschuss hatte daraufhin beschlossen, nach der Sommerpause zunächst Experten anzuhören.



Bundesregierung

Experten für Änderungen an Pflegegesetz




Vor allem pflegende Angehörige brauchen dringend bessere Beratung, welche Hilfen der Kassen ihnen zustehen.
epd-bild / Klaus G. Kohn

Gesundheitsexperten verlangen Nachbesserungen am Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein drittes Pflegestärkungsgesetz (PSG III). Die Sachverständigen warnten in einer öffentlichen Anhörung des Gesundheitsausschusses am 17. Oktober vor allem vor drohenden Verschlechterungen für Behinderte. So würden pflegebedürftige Behinderte durch die geplante Leistungskonkurrenz von Pflege und Eingliederungshilfe deutlich schlechter gestellt, lautete der Tenor.

Mehrere Fachleute kritisierten auch, dass mit der Schwerpunktsetzung auf die Kommunen gut funktionierende Strukturen ohne Not ausgehebelt werden könnten. Außerdem seien die Kommunen als Träger der Sozialhilfe mit den sich abzeichnenden deutlich höheren Kosten überfordert, lautete der Befund.

Beratung soll verbessert werden

Mit dem dritten Pflegestärkungsgesetz soll die Beratung von Pflegebedürftigen und Angehörigen in den Kommunen verbessert werden. Die Novelle basiert auf den Empfehlungen einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe und soll Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen eine Beratung aus einer Hand ermöglichen.

Das neue Gesetz sieht nun vor, die kommunale Steuerungs- und Planungskompetenz für die regionale Pflegestruktur zu stärken. Konkret heißt das, dass die Städte und Gemeinden für fünf Jahre das Recht bekommen sollen, aus eigener Initiative Pflegestützpunkte einzurichten. Ferner sollen sie Gutscheine der Versicherten für eine Pflegeberatung einlösen können.

Darüber hinaus sollen in bis zu 60 Kreisen oder kreisfreien Städten für die Dauer von fünf Jahren als Modellprojekte Beratungsstellen eingerichtet werden. Den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen soll so eine bessere Beratung über die mögliche Hilfen gewährt werden, so etwa über Hilfe zur Pflege, Eingliederungshilfe oder Altenhilfe.

Kommunen bekommen Planungskompetenz

Das Gesetz schafft zudem für Kommunen die Möglichkeit, sich am Auf- und Ausbau der Angebote zur Unterstützung im Pflegealltag auch in Form von Personal- oder Sachmitteln zu beteiligen.

Dem Entwurf zufolge soll auch im Zwölften Sozialgesetzbuch (SGB XII/Sozialhilfe) der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff eingeführt werden, um sicherzustellen, dass finanziell Bedürftige im Pflegefall angemessen versorgt werden. Zudem sollen Abgrenzungsfragen zwischen Leistungen der Eingliederungshilfe und der Pflegeversicherung beziehungsweise Hilfe zur Pflege geregelt werden.

Nach der Aufdeckung von Betrugsfällen bei Pflegediensten soll künftig außerdem insbesondere die häusliche Krankenpflege stärker kontrolliert werden. Die Gesetzliche Krankenversicherung erhält dazu ein systematisches Prüfrecht.

Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband erklärte in der Anhörung, es dürfe keinen Vorrang von Pflegeleistungen gegenüber der Eingliederungshilfe für Behinderte geben. Vielmehr müssten die Leistungen wie bisher nebeneinander gewährt werden. Ansonsten bestünde die Gefahr, dass Behinderten mit Verweis auf die vorrangigen Pflegeleistungen nötige Teilhabeleistungen vorenthalten würden, betonte der Verband.

Leistungen gleichrangig beibehalten

Die Bundesvereinigung Lebenshilfe wies darauf hin, dass sich Eingliederungshilfe und Pflegeversicherung grundlegend unterschieden. So diene die Eingliederungshilfe dazu, eine Behinderung abzuwenden oder deren Folgen zu mildern. Leistungen der Eingliederungshilfe könnten daher nicht nachrangig sein. Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe argumentierte ähnlich und forderte ebenfalls, die Leistungen gleichrangig beizubehalten.

Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge verlangte, behinderten, pflegebedürftigen Menschen müssten unabhängig davon, wo und wie sie leben, die Pflegeleistungen in vollem Umfang zur Verfügung stehen. Eine Beschränkung der von den Pflegekassen zu übernehmenden Aufwendungen in der vorgesehenen Höhe von maximal 266 Euro im Monat lehnte er ab.

Die kommunalen Spitzenverbände befürchten durch die drei neuen Pflegegesetze eine erhebliche Kostenbelastung, die bisher stark unterschätzt werde. Die Rolle der Kommunen für die Pflege werde auch nur unzureichend gestärkt, hier bleibe der Entwurf weiter hinter den Erwartungen zurück. Der Verbraucherzentrale Bundesverband erklärte, die drei Pflegestärkungsgesetze hätten hinsichtlich der nachhaltigen Dynamisierung der Pflegeleistungen keine Fortschritte gebracht. So stiegen die Kosten für Pflege ständig mit der Folge, dass Verbraucher immer mehr aus eigener Tasche bezahlen müssten.



Bundesregierung

Weitere Maßnahmen gegen Schwarzarbeit geplant



Die Bundesregierung will weitere Schritte zum Kampf gegen Schwarzarbeit unternehmen. Dazu hat sie den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Bekämpfung der Schwarzarbeit und illegalen Beschäftigung vorgelegt, berichtete der Bundestag am 18. Oktober in Berlin. Geplant sind demnach neue Kompetenzen für die Schwarzarbeitsbekämpfungsbehörden der Länder.

So sollen Ausweispapiere in Zukunft nicht nur der Zollverwaltung, sondern auch Bediensteten der zuständigen Landesbehörden vorgelegt werden. Die Landesbehörden erhalten zudem weitere Prüfungsbefugnisse, hieß es. Und: Zollbehörden sollen in Zukunft Daten aus dem Zentralen Fahrzeugregister des Kraftfahrt-Bundesamtes abfragen dürfen.

Zu den weiteren Maßnahmen gehört der Ausschluss von Bewerbern, die bereits Vorschriften zur Verhinderung von Schwarzarbeit in Konflikt gekommen sind, von der Teilnahme an Ausschreibungen. Bisher wurden solche Bewerber schon von Bauaufträgen ausgeschlossen. Künftig erfolgt auch ein Ausschluss von Liefer- und Dienstleistungsaufträgen.

Der Bundesrat verlangt in seiner Stellungnahme weitere Maßnahmen zur Bekämpfung der Schwarzarbeit besonders im Taxigewerbe. Die Bundesregierung stimme den Vorschlägen der Länder zu, hieß es.



Gastbeitrag

Reichtum

Verkehrte Welt der Erbschaftssteuer




Andreas Mayert
epd-bild/Sozialwissenschaftliches Institut der EKD
Die Erbschaftssteuerreform greift nach Auffassung von Andreas Mayert vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD zu kurz. Er hält die extreme Ungleichheit bei der Vermögensverteilung in Deutschland für ethisch fragwürdig.

Nicht nur Vermögen scheinen von einer Generation an die nächste vererbt zu werden, sondern auch Reformen jenes Gesetzes, das diese Vermögensübertragungen regelt. 2014 hielt das Bundesverfassungsgericht bereits zum dritten Mal die deutsche Regelung der Erbschaftssteuer für nicht verfassungsgerecht und verlangte eine Neuregelung bis zum Juni 2016. Grund für die Entscheidung der Karlsruher Richter waren insbesondere Verschonungsregeln beim Erbe von Betriebsvermögen. Diese seien aufgrund ihres Ausmaßes nicht mit dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes vereinbar, weil sie dazu führen, dass Erben von Geld, Immobilien oder anderen Wertgegenständen weitaus höhere Steuern zahlen müssen als Betriebserben.

Eingriff in familiäre Entscheidungen

Da Betriebserbschaften im Regelfall den Wert der Vererbung von beispielsweise Eigenheimen oder Ersparnissen um ein Vielfaches übertreffen, zeigt sich bei der Steuerbelastung von Erbschaften eine verkehrte Welt. Während nach einer Studie des Statistischen Bundesamtes auf Erbschaften von 100.000 bis 200.000 Euro im Jahr 2014 im Durchschnitt 14,6 Prozent Steuern zu zahlen waren, lag die Steuerbelastung von Erbschaften, die 20 Millionen Euro oder mehr betragen, bei 1,8 Prozent. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Ungleichbehandlung Gerechtigkeitsfragen aufwirft. Sie können allerdings sehr unterschiedlich beantwortet werden, greift der staatliche Zugriff auf Erbschaften doch tief in höchst private familiäre Entscheidungen ein.

So plädierte etwa die Autorin Laura Diaz in einem in der Beilage "Christ & Welt" der Wochenzeitung "Die Zeit" erschienenen Artikel mit der programmatischen Überschrift "Mein Erbe gehört mir" für eine völlige Abschaffung der Erbschaftssteuer. Denn nicht das Erben an sich sei ethisch falsch, sondern der staatliche Eingriff in die Familiensphäre und die Versteuerung von Geld, das bereits versteuert wurde.

Ganz ähnlich sieht es der belgische Ökonom und Sozialethiker Philippe Van Parijs, der als einer der prominentesten Befürworter eines bedingungslosen Grundeinkommens alles andere als ein Befürworter von sozialer Ungleichheit ist. Er vertritt die Auffassung, dass das Vererben und Verschenken von Vermögen in der ansonsten von Eigennutz getriebenen Marktwirtschaft zu den wenigen Beispielen von Transfers gehören, deren Motive Sorge, Zuneigung oder Liebe sind. Diese sollten nicht durch Besteuerung entmutigt werden.

Doppelbesteuerung liegt nicht vor

Doch ganz so einfach kann man es sich bei einer ethischen Beurteilung der Besteuerung von Erbschaften nicht machen. Denn das schöne Bild der Vererbung von Vermögen als letzten großzügigen Akt eines Sterbenden zugunsten seiner Familie entspricht nicht immer der Realität, vor allem nicht bei der Vererbung von Betriebsvermögen. Diese werden häufig so über die Zeit mit Schenkungen kombiniert und auf die Erben verteilt, dass die Steuerbelastung möglichst gering bleibt. Hier scheint der Steuerberater eine mindestens ebenso große Rolle zu spielen wie die familiäre Bande.

Und auch das Argument der Doppelbesteuerung ist bei näherer Betrachtung nicht stichhaltig, denn besteuert wird nicht das Vermögen des Erblassers, sondern der Vermögenszugewinn des Erben. Mit der gleichen Argumentation könnte der Verkäufer einer Ware darauf pochen, sein dabei erzielter Gewinn dürfe nicht versteuert werden, weil die Ware mit dem bereits versteuerten Einkommen des Käufers bezahlt wurde.

Für die ethische Beurteilung von Erbschaften wohl noch wichtiger ist, dass die Vererbung insbesondere großer Vermögen zwei schwerwiegende Gerechtigkeitsfragen aufwirft. Erstens lässt sich kaum begründen, warum der mit Eigenleistung verbundene Erwerb von Vermögen - hauptsächlich in Form von Lohn- und Gewinneinkommen - besteuert werden sollte, der leistungslose Erwerb einer Erbschaft hingegen nicht oder mit weit geringeren Steuersätzen. Vielmehr widersprechen solche Regelungen nicht nur dem Grundsatz der Gleichbehandlung, sondern auch dem Leistungsprinzip, das für die Legitimation einer liberalen Marktwirtschaft - ob man es mag oder nicht - nun einmal von eminent wichtiger Bedeutung ist.

Erbschaft von mehr als 20 Millionen Euro

Die zweite Gerechtigkeitsfrage ergibt sich daraus, dass Erbschaften - spiegelbildlich zu Vermögen - in Deutschland ausgesprochen ungleich verteilt sind. Diese Ungleichheit wird noch dadurch verschärft, dass die in Deutschland erbschaftsrechtlich besonders begünstigten Betriebsvermögen noch ungleicher verteilt sind als die Vermögen allgemein.

Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung DIW aus dem Jahr 2011 besitzt das reichste Tausendstel der deutschen Bevölkerung - was ungefähr 80.000 Menschen entspricht - 22,4 Prozent des gesamten Nettovermögens und 75,7 Prozent des gesamten Betriebsvermögens. Die 50 Prozent ärmsten Deutschen - also 40 Millionen Menschen - besitzen hingegen 1,4 Prozent des Nettovermögens, und 80 Prozent der Deutschen - was 64 Millionen Menschen entspricht - besitzen keinerlei Betriebsvermögen. Diese Ungleichheit findet in der Verteilung der Erbschaften ihre Entsprechung.

Zwischen 2011 und 2014 erbten nach Angaben des Statistischen Bundesamtes in Deutschland jahresdurchschnittlich 311 Personen bzw. 0,18 Prozent aller Erben 20 Millionen Euro oder mehr, vereinigten aber 40,1 Prozent des gesamten vererbten Vermögens auf sich. Auf der anderen Seite erbten in diesem Zeitraum jahresdurchschnittlich 124.000 Deutsche bzw. 72,8 Prozent aller Erben Vermögen von 200.000 Euro oder weniger, vereinigten aber nur 6,6 Prozent der gesamten Erbmasse auf sich. Daraus lässt sich schließen, dass die enorme Vermögensungleichheit in Deutschland durch die Ungleichheit des Vererbungsgeschehens perpetuiert wird. Bedenkt man nun noch, dass die effektive steuerliche Belastung von Erbschaften ab 20 Millionen Euro nur etwa ein Siebtel der Besteuerung von Erbschaften bis 200.000 Euro beträgt, wird die Ungleichheit sogar noch weiter verstärkt.

Ethisch nicht vertretbar

Für die dynastische Fortschreibung der bestehenden Vermögensungleichheit lässt sich kein ethisches Argument ins Feld führen, werden hiermit doch zugleich Lebenschancen ohne denkbare gerechtigkeitstheoretische Rechtfertigung von Generation zu Generation höchst ungleich verteilt. Und nicht nur das Leistungsprinzip der Marktwirtschaft wird auf diese Weise untergraben, es ist auch höchst ungesund, wenn zwar der Aufbau von Betriebsvermögen von unternehmerischem Geschick, Ehrgeiz und Talent abhängt, in späteren Generationen jedoch allein das Erbschaftsprivileg darüber entscheidet, wer über dieses Betriebsvermögen verfügt. Wenn der Staat diese Entwicklung über das Erbschaftssteuersystem sogar noch verschärft, lässt sich erst recht kein denkbares Gerechtigkeitsprinzip finden, das zur Begründung herangezogen werden könnte.

Oder doch? Das Bundesverfassungsgericht hat die Verschonungsregel bei der Vererbung von Betriebsvermögen in der jetzigen Form zwar abgelehnt, hält aber die Existenz einer solchen Vorgehensweise im Grundsatz nicht für verfassungswidrig. Die Begründung des Gerichts: Eine Verschonungsregel sei deshalb verfassungskonform, weil der wirtschaftliche Fortbestand von kleineren bis mittelgroßen Betrieben, die sich in Familienbesitz befinden, ansonsten nicht sichergestellt werden könnte.

Aus Gründen des Gemeinwohls und des Erhalts von Arbeitsplätzen müsse aber daran gelegen sein, dass der Eintritt eines Erbfalls nicht die wirtschaftliche Fortexistenz der betroffenen Betriebe gefährdet. Denn vererbt würden bei diesen Betrieben hauptsächlich Vermögensgegenstände, die für die Fortführung des Betriebs notwendig sind, nicht aber liquide Mittel, mit denen die Erbschaftssteuer bezahlt werden kann. Die Verschonung sei allerdings nur dann gerechtfertigt, wenn der Betrieb tatsächlich so fortgeführt wird, dass Arbeitsplätze erhalten bleiben, wenn keine nicht für die Betriebsfortführung notwendigen Vermögensgegenstände im Betriebsvermögen versteckt werden und wenn der Erbempfänger über keine privaten Mittel verfügt, die Erbschaftssteuer ohne Rückgriff auf das Betriebsvermögen zu bezahlen.

Große Betriebsvermögen steuerfrei

Um die Regelung der zuletzt genannten Bedingungen drehte sich in den letzten beiden Jahren ein Hauptteil der politischen Diskussion. Die große Koalition hat sich nun für eine Reform entschieden, die das bisherige System weitestgehend beibehält und nur an einzelnen Stellschrauben dreht. So soll es nun nicht mehr möglich sein, Luxusgegenstände im Betriebsvermögen zu verstecken und steuerfrei mitzuvererben. Aber weiterhin bleibt die Vererbung und Verschenkung eines Betriebsvermögens bis zu 26 Millionen Euro steuerfrei. Steuerberater raten daher bereits dazu, höhere Vermögen - wie bisher schon - in Tranchen zu 26 Millionen über einen längeren Zeitraum an künftige Erben zu verschenken. Schon in der Vergangenheit wurde diese Vorgehensweise beispielsweise so genutzt, dass Teile des Vermögens an noch minderjährige Familienmitglieder übertragen wurden.

Liegt der Wert der Erbschaft zwischen 26 und 90 Millionen, haben Erben nun ein Wahlrecht, das ebenfalls zur Steuergestaltung einlädt. Entweder sie zahlen Erbschaftssteuer im Rahmen eines Abschlagsmodells, bei dem das verschonte - also steuerbefreite - Vermögen bis zum Übertragungswert von 90 Millionen langsam abschmilzt. Oder sie wählen den Weg einer Bedürftigkeitsprüfung, in dem sie nachzuweisen haben, ein wie großer Teil der Erbschaftssteuer aus ihrem Privatvermögen und der nicht zum Betriebsvermögen zählenden Erbmasse bestritten werden kann. Reicht beides nicht aus, können sie von der Steuer befreit werden. Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber diese moderaten Verschärfungen des Erbrechts mit für die Erben großzügigen Abschlägen auf den Wert des vererbten Betriebsvermögens verbindet.

Mehr Schaden als Nutzen

Eine große Erbschaftssteuerreform sieht anders aus. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass das Bundesverfassungsgericht auch die Neuregelung kippen wird, was allerdings Jahre in Anspruch nimmt, in denen weiterhin mit geringer Steuerbelastung vererbt werden kann. Ob diese Großzügigkeit für den Erhalt von kleineren und mittleren Unternehmen tatsächlich notwendig ist, bleibt fraglich. Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium hat in einer 2012 durchgeführten Studie keinen einzigen Fall gefunden, in dem eine Betriebsinsolvenz auf die Erbschaftssteuer zurückgeführt werden konnte. Zudem gibt es andere Wege, den Erhalt eines Betriebes sicherzustellen, etwa großzügige Stundungsregeln bei der Erbschaftssteuer oder die Teilübertragung von Unternehmensbestandteilen an Dritte mit einer Rückkaufsoption.

Neben die bestehenden verfassungsrechtlichen Bedenken tritt die Frage, ob sich die verkehrte Welt im Bereich der Erbschaftssteuer ethisch begründen lässt. Wie obige Ausführungen zeigen, ist das nicht der Fall. Es ist zwar richtig, dass der Staat nicht auf den weit überwiegenden Teil relativ geringer Erbschaften zugreifen sollte, bei denen familiäre Solidarität tatsächlich eine große Rolle spielt. Dass er aber im Ergebnis riesige Vermögensübertragungen effektiv geringer besteuert als solche "Normalerbschaften", forciert die Vermögensungleichheit in Deutschland, ist nicht leistungsgerecht und fügt der Marktwirtschaft mehr Schaden als Nutzen zu.

Andreas Mayert ist promovierter Sozialwissenschaftler und Diplom-Volkswirt. Seine Arbeitsschwerpunkte beim Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD sind Sozial- und Wirtschaftspolitik sowie die Ökonomische Theorie sozialer Normen.


Heirat

Ehen von Menschen mit Behinderungen sind nicht selbstverständlich




Johanna und Klaus Prust aus Würzburg haben vor zehn Jahren trotz ihrer schweren Behinderungen geheiratet.
epd-bild/Pat Christ
Den Wunsch zu heiraten, haben auch Menschen mit einer Behinderung. Nicht immer reagiert die Umgebung oder die eigene Familie mit Verständnis - erst recht, wenn das Paar auch noch Kinder will.

Gefunkt hatte es am Kaffeeautomaten einer Werkstätte für Menschen mit Behinderung. "Klaus wollte mir einen Cappuccino ausgeben", erzählt Johanna Prust. Sie griff etwas ungeschickt nach dem Becher, so dass sich der größte Teil des Inhalts über Klaus Prust ergoss: "Dabei entstand unser erster Flirt." Längst sind Johanna und Klaus Prust verheiratet. Vor zehn Jahren sagten sie in Würzburg "Ja" zueinander. Das war mutig. Denn beide leben mit schweren Einschränkungen.

Dass sie einmal heiraten würde, hätte Johanna Prust als junge Frau nicht gedacht: "Ich war nach meiner Behinderung Menschen gegenüber nicht mehr offen." Vor 20 Jahren hatte die gebürtige Polin einen schweren Autounfall mit Schädel-Hirn-Trauma. Laufen ist Johanna Prust nicht mehr möglich, sie ist auf den Rollstuhl angewiesen. Auch das Sprechen fällt ihr schwer.

Klaus Prust leidet an Friedreich-Ataxie, einer genetisch bedingten, neurologischen Krankheit, die mit Lähmungen einhergeht. Mit 21 Jahren kam er dadurch in den Rollstuhl. Zunächst unterstützten die Eltern den heute 48-Jährigen. Später zog Prust in ein Würzburger Wohnheim. Dort begegnete er erneut Johanna. Aus der Romanze wurde eine feste Partnerschaft.

Hochzeit nach "Ehe auf Probe"

Das Wohnheim gab ihnen ein eigenes Zimmer und half nach zwei Jahren "Ehe auf Probe", die Hochzeit vorzubereiten. Das war für alle Beteiligten eine aufregende Sache. Noch nie zuvor in der damals 20-jährigen Geschichte des Heims hatten Bewohner Hochzeit gefeiert.

Nach langer Suche gelang Johanna und Klaus Prust vor vier Jahren der Auszug aus dem Heim. In ihrer gemütlich eingerichteten, barrierefreien Wohnung, die von zahlreichen Gemälden Johanna Prusts geschmückt wird, fühlen sich die beiden pudelwohl. Assistenten sorgen rund um die Uhr dafür, dass das Paar im Alltag klarkommt.

Johanna und Klaus Prust treten dafür ein, dass Menschen mit Behinderung Unterstützung beim Heiraten erhalten. Deshalb erzählen sie in der Öffentlichkeit von sich und ihrem Weg in den Ehehafen. Ehen trotz Handicap seien noch immer nicht selbstverständlich, so Johanna Prust: "Manche Menschen müssen dafür hart kämpfen." Durch ihr eigenes Beispiel möchten die Prusts behinderten Paaren Mut machen für den Gang vor den Traualtar.

Recht auf Hochzeit haben alle

Das Recht zu heiraten, haben Menschen auch dann, wenn sie schwerbehindert sind, bestätigt Bettina Leonhard von der Bundesvereinigung Lebenshilfe, einer Organisation für geistig behinderte Menschen. Nach Leonhards Angaben nehmen inzwischen auch immer mehr geistig behinderte Menschen dieses Recht wahr: "Heute sind Eheschließungen für uns von der Lebenshilfe nichts ganz Ungewöhnliches mehr." Nur noch selten komme es vor, dass ein Standesbeamter die Ehefähigkeit anzweifelt und mit einem Gutachten prüfen lässt, ob beide Partner wirklich verstehen, auf was sie sich einlassen.

In diesem Frühjahr sorgten Christiane und Jochen Grobe aus Neuss in der Presse für Schlagzeilen, weil sie trotz ihrer kognitiven Einschränkungen die Ehe eingingen. Mitarbeiter der Lebenshilfe begleiteten das Paar. "Die beiden leben heute selbstständig und sind weitestgehend autark", berichtet die Neusser Sexualpädagogin Alina Mertens, die Menschen mit Behinderung in Fragen der Liebe, Freundschaft, Partnerschaft, Sexualität und Verhütung berät.

Beim Kinderwunsch wird es problematisch

Mertens beobachtet, dass Partnerschaften und Eheschließungen von schwerbehinderten Menschen mehr akzeptiert und unterstützt werden als früher. Problematisch werde es allerdings, wenn sich behinderte Menschen Kinder wünschen.

Im Falle von Johanna und Klaus Prust aus Würzburg standen die Eltern hinter dem Wunsch nach dem Trauschein. Nach Einschätzung von Alina Mertens ist dies eher ungewöhnlich. Gerade Familienangehörige seien meist nur schwer von der Heiratsidee angetan. Behinderte Menschen, die von einem Elternteil gesetzlich betreut werden, kämen deshalb mit ihrem Hochzeitwunsch sehr oft nicht durch. "Nach meiner Erfahrung ist der Umgang mit Berufsbetreuern einfacher. Häufig sind sie zugänglicher für die Wünsche eines Paares", sagt Mertens.

Pat Christ


Bevölkerung

Bevölkerungsforscher: Geburtenrate weiterhin sehr niedrig




Drillinge in Sachsen-Anhalt.
epd-bild / Steffen Schellhorn

Der Trend sinkender Geburtenzahlen in Deutschland ist laut Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) gestoppt. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) verwies Forschungsdirektor Martin Bujard auf eine eigene Studie, wonach die "Geburtenrate nicht weiter sinkt und sich sogar etwas erholt hat. Das ist sehr positiv". Zugleich betonte der Fachmann aber auch, dass die deutsche Geburtenrate mit 1,50 Kindern je Frau im Vergleich etwa zu Frankreich oder den skandinavischen Ländern "weiterhin sehr niedrig ist".

Bujard berichtete, dass sein Institut in der Forschung mit der endgültigen Kinderzahl eines Frauenjahrgangs arbeitet. Die lasse sich in der Regel erst dann feststellen, wenn die Frauen 50 Jahre alt sind. "Erst dann werden diese Zahlen offiziell bekanntgegeben. Im Moment haben wir diese Daten bis zum Geburtsjahrgang 1966."

Seinen Angaben nach hatten die Frauen des Jahrgangs 1933, die heute 83 Jahre alt sind, mit im Schnitt 2,22, Kindern die höchste Kinderzahl im 20. Jahrhundert: "Seitdem ist diese Zahl jedes Jahr kontinuierlich zurückgegangen." Sie lag 1968 auf dem Tiefpunkt bei 1,49 Kindern je Frau. Bei jüngeren Frauen ist sie laut Bujard "wieder angestiegen, heute 40-jährige Frauen werden auf durchschnittlich 1,6 Kinder kommen".

Bujard betonte, um die Generationen stabil zu halten, sei eine Rate von 2,1 Kindern je Frau nötig: "Davon sind wir noch weit entfernt." Die durchschnittliche Kinderzahl stieg 2015 auf 1,50 Kinder je Frau, wie das Statistische Bundesamt in Wiesbaden am 17. Oktober mitgeteilt hatte.

Der Experte sieht einen Grund für die Trendwende in der Familienpolitik der Bundesregierung, vor allem in der besseren externen Betreuung von Kleinkindern. Wirkung zeigten zudem die besseren Arbeitsmarktchancen von Frauen.

Auch nehme die Zahl der Migranten bundesweit zu. Diese Bevölkerungsgruppe habe meist mehr Kinder als die deutschen Mitbürger. Die vielen Flüchtlinge, die im Vorjahr nach Deutschland kamen, spielen in diesen Berechnungen keine große Rolle: "Sie hätten schon bei ihrer Einreise schwanger sein müssen."

Familienpolitik wirke stets langfristig, sagte Bujard. Doch könne die Politik "die Geburtenrate niemals steuern". Studien belegten zudem, dass die Geldleistungen alleine auf die Kinderzahlen keinen markanten Einfluss haben.

Dirk Baas


Gesundheit

Mehr Hilfen für Palliativ- und Hospizversorgung gefordert




Patient im Palliativzentrum der Uniklinik Köln (Archivbild).
epd-bild/Joern Neumann

Mediziner, Wissenschaftler sowie Patientenvertreter fordern eine bessere finanzielle und qualitative Ausstattung der Hospiz- und Palliativversorgung. "Wir müssen zu einer sorgenden Gesellschaft kommen. Dazu gehört auch, Leben und Tod zu enttabuisieren", sagte der Vorsitzende des Deutschen Hospiz- und Palliativverbands, Winfried Hardinghaus, bei der Vorstellung von Leitlinien zur Umsetzung der "Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland" am 17. Oktober in Berlin.

Die Experten fordern neben einer verbesserten Finanzierung eine Hospiz- und Palliativversorgung, die den Bedürfnissen der Betroffenen und deren Angehörigen gerecht wird. Zudem sollen Forschung und Weiterbildung ausgebaut werden. Im vergangenen Jahr starben in Deutschland 925.000 Menschen. Etwa 90 Prozent bräuchten eine palliative Versorgung am Lebensende, hieß es. Derzeit würden rund 250 Millionen Euro im Jahr dafür ausgegeben.

Radbruch bezeichnet Gesetz als Fortschritt

Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, Lukas Radbruch, bezeichnete das im vergangenen Jahr verabschiedete Hospiz- und Palliativgesetz als Fortschritt. Allerdings fehlen ihm konkrete Verantwortlichkeiten. Radbruch verlangte zudem, bestimmte Patientengruppen stärker zu berücksichtigen, etwa Wohnungslose, Migranten oder Patienten im Strafvollzug.

Hardinghaus sagte weiter, die erforderliche qualitativ hochwertige Hospiz- und Palliativversorgung in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, weiteren Wohnformen und in der häuslichen Umgebung müsse jetzt auch finanziell abgesichert werden. Andernfalls werde es kaum möglich, dass jeder Mensch am Ende seines Lebens eine entsprechende Hospiz- und Palliativversorgung und Begleitung erhalte.

Ziel der Nationalen Strategie sei es, dass jeder Mensch am Ende seines Lebens unabhängig von der zugrundeliegenden Erkrankung, seiner persönlichen Lebenssituation oder seinem Lebensort bei Bedarf eine entsprechende Hospiz- und Palliativversorgung und Begleitung erhalte.

"Das wiederum geht nicht ohne eine auf wissenschaftlicher Grundlage und Qualitätssicherung beruhende Hospiz- und Palliativversorgung. Nur unter Berücksichtigung dieser drei zentralen Punkte können alle Beteiligten zum Wohle der Betroffenen zusammenwirken", betonte Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer.

Charta will humanes Sterben für Jedermann

Die Charta ist Teil einer nationalen Strategie, die es ermöglichen soll, dass jeder Mensch am Ende seines Lebens unabhängig von der Erkrankung und seiner persönlichen Lebenslage eine Hospiz- und Palliativversorgung und Begleitung erhält. In fünf Leitsätzen sind Aufgaben, Ziele und Handlungsbedarfe formuliert. Den Angaben nach haben bisher mehr als 1.450 Organisationen und Institutionen sowie rund 15.800 Einzelpersonen die Selbstverpflichtung unterzeichnet.

Drei Jahre liegen zwischen der Auftaktveranstaltung "Von der Charta zur Nationalen Strategie" im Jahr 2013 im Bundestag und der Präsentation des Maßnahmenkatalogs, an dem 50 gesundheitspolitisch relevante Institutionen und Organisationen mitgewirkt haben.



Bremen

Pflegekräfte angemessen bezahlen



Pflegekassen, Wohlfahrtsverbände und die Bremer Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne) haben am 17. Oktober eine gemeinsame "Bremer Erklärung für ein angemessenes Einkommen in der Pflege" unterzeichnet. Die Arbeit am Menschen werde immer noch schlechter bezahlt, als das Schrauben am Auto, kritisierte die Senatorin: "Das muss sich ändern." Die Erklärung solle ein Signal zur Aufwertung der Pflegeberufe sein, sagte Stahmann.

Ein Schritt dazu könnte sein, die Bezahlung in der Altenpflege nach Tarifverträgen auszuweiten. Derzeit gebe es im Land Bremen 250 Ausbildungsplätze, die stark nachgefragt würden, unterstrich die Senatorin. Einer Studie zufolge werden 2025 in Bremen und Bremerhaven rund 700 Pflegekräfte fehlen, sollte die Zahl der Pflegekräfte nicht steigen.

Der Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, Arnold Knigge, begrüßte die Erklärung. Er kündigte an, dass die Wohlfahrtsverbände am Freitag ihre Gespräche mit der Gewerkschaft ver.di für einen flächendeckenden Tarifvertrag wieder aufnehmen wollten.

Die Gespräche waren Ende vergangenen Jahres auf Eis gelegt worden, nachdem ein allgemeinverbindlicher Tarifvertrag für die Auszubildenden in der Altenpflege am Widerstand der Arbeitgeber gescheitert war. Die neue "Bremer Erklärung" sei ein wichtiger Schritt nach vorne, sagte Knigge. Er gehe davon aus, dass ein derartiger Vertrag für alle der rund 9.000 Pflegebeschäftigten bis Ende 2017 "in trockenen Tüchern" sein werde.

Auch der Vorstandsvorsitzende der Krankenkasse AOK Bremen-Bremerhaven, Olaf Woggan, schloss sich der "Bremer Erklärung" an. Zwar sei es nicht Aufgabe der Kassen, für höhere Löhne zu kämpfen, doch hätten die Kassen ein Interesse an mehr qualifizierten Pflegefachkräften. Roland Ziemann vom Landesverband Mitte der Betriebskrankenkassen forderte mehr Ausbildungsplätze, damit die Pflege auch in Zukunft gesichert werden könne.



Gewaltschutz

Länderübergreifende Anlaufstelle der Frauenhäuser



Hamburg und Schleswig-Holstein haben künftig eine gemeinsame Anlaufstelle der Frauenhäuser mit dem Namen "24/7". Sie kann unter 040/8 000 41 000 erreicht werden. Die Adresse ist geheim. Hier finden von Gewalt betroffene Frauen rund um die Uhr Schutz und Beratung durch pädagogische Fachkräfte. Hamburgs Sozialsenatorin Melanie Leonhard und Schleswig-Holsteins Sozialministerin Kristin Ahlheit (beide SPD) stellten die Einrichtung am 17. Oktober vor.

Bislang wurden die Frauen und ihre Kinder direkt in den Frauenhäusern aufgenommen. "In der 24/7 können sie zunächst zur Ruhe kommen und dann gemeinsam mit einer Mitarbeiterin entscheiden, wie die nächsten Schritte aussehen sollen", sagte Senatorin Leonhard. Durch die Koordinierung werde für Schleswig-Holstein eine gleichmäßigere Belegung angestrebt, um die Frauenhäuser im Hamburger Umland besser zu entlasten, ergänzte Ahlheit. "Gewalt kennt keine Landesgrenzen."

Alheit und Leonhard unterzeichneten zugleich eine Vereinbarung über den Kostenausgleich. Derzeit nutzen mehr Frauen aus Hamburg die schleswig-holsteinischen Frauenhäuser als umgekehrt. In Hamburg gibt es fünf Frauenhäuser mit insgesamt 194 Plätzen. Vier werden autonom geführt und eine Einrichtung wird vom Diakonischen Werk betrieben.

In Schleswig-Holstein gibt es 16 Frauenhäuser mit zusammen 319 Plätzen. Hamburg fördert die Frauenhäuser jährlich mit knapp zwei Millionen Euro, Schleswig-Holstein mit 4,2 Millionen Euro.



Kriminalität

Land Berlin finanziert Therapieangebot für Pädophile



Der Berliner Senat will im kommenden Jahr die Finanzierung der Präventionsarbeit für pädophile Männer und Jugendliche an der Berliner Charité übernehmen. Justizsenator Thomas Heilmann (CDU) gab am 18. Oktober in Berlin bekannt, für 2017 würden 570.000 Euro zur Verfügung gestellt. Davon sollen 350.000 Euro für die Behandlung von Patienten und 220.000 Euro für die Forschung eingesetzt werden.

Das Präventionsnetzwerk "Kein Täter werden" ist das bundesweit bekannteste Therapieangebot an pädophile Männer. Bis Ende dieses Jahres wird es noch mit 585.000 Euro vom Bundesjustizministerium finanziert. Die Förderung läuft aber aus. In den vergangenen Monaten war über die Fortführung der Finanzierung verhandelt worden. Berlin übernimmt nun im kommenden Jahr den Löwenanteil, damit die Arbeit nicht unterbrochen werden muss, bis eine dauerhafte Lösung gefunden ist.

Heilmann sagte, ein so wichtiges Projekt wie das Präventionsprojekt Dunkelfeld dürfe nicht an Zuständigkeitsfragen bei der Finanzierung scheitern: "Deshalb bin ich froh, dass wir diese Allianz für den Fortbestand geschmiedet haben. Wenn wir auch nur ein Kind vor einem möglichen Missbrauch bewahren können, hat sich der Aufwand gelohnt."

Das Netzwerk "Kein Täter werden" verfügt über Anlaufstellen in elf Städten. In Berlin werden Gruppentherapien und Nachsorgegruppen für erwachsene Männer angeboten. Daneben gibt es ein Angebot für sexuell auffällige Jugendliche. Das Präventionsprojekt am Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin wurde 2005 ins Leben gerufen. Seitdem haben nach Angaben des Instituts in Berlin mehr als 2.300 Männer Hilfe gesucht, bundesweit mehr als 6.400.




sozial-Branche

Wohnungslose

"Streetmed"-Mobil versorgt seit 20 Jahren Obdachlose




Die Ärztin Barbara Kroll mit einem Patienten.
epd-bild / Reinhard Elbracht
Ärztin Barbara Kroll hilft ihren Patienten dort, wo sie leben - sei es in Notunterkünften oder auf der Straße. Mit Rucksack und Medikamentenkoffer fährt sie zu den Wohnungslosen.

Zigarettenqualm wabert durch den Raum. Mehrere Männer und Frauen sitzen an den Tischen, rauchen, trinken Kaffee oder Bier. Der Tagesaufenthalt für wohnungslose Menschen in der Bielefelder Innenstadt ist an diesem Morgen die erste Station für Ärztin Barbara Kroll. Mit einem Medikamentenkoffer und ihrem Rucksack betritt sie den Aufenthaltsraum und wird schon bald angesprochen. Einem bärtigen Mann fällt ein, dass sein Herzmittel alle ist. Und ein schmächtiger Mann krümmt sich und zeigt auf seinen Bauch. Der Magen schmerzt. "Können Sie Tabletten geben?"

Zum Arzt zu gehen, das wäre für ihn vermutlich genauso undenkbar wie für viele andere hier auch. Manche Besucher haben keine Krankenversicherung oder wissen nicht, wo sie ihre Versichertenkarte haben. Andere schämen sich, mit einer Alkoholfahne und dreckiger Kleidung im Wartezimmer zu sitzen. Also kommt Kroll zu ihnen. Seit 20 Jahren ist sie als "Streetmed"-Ärztin in Bielefeld unterwegs, steht mit ihrem zur rollenden Arztpraxis umgebauten Wohnmobil auf öffentlichen Plätzen, besucht Notunterkünfte und Beratungsstellen.

Bielefeld gehörte zu den Vorreitern

1996 gehörte Bielefeld mit Dortmund, Köln und Münster zu den ersten Städten in Nordrhein-Westfalen, die diese Art der Gesundheitsfürsorge für Wohnungslose als Landesmodellprojekt starteten. Inzwischen ist das "Streetmed"-Angebot der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel Teil der gesundheitlichen Regelversorgung.

"Ich kann Rezepte und Überweisungen ausstellen, so wie jeder andere Hausarzt auch", sagt Kroll. Pro Quartal zahlt die Kassenärztliche Vereinigung eine Pauschale für 129 Patienten, ohne Nachweis der Versicherung. Im Schnitt behandelt die Allgemeinmedizinerin 150 Menschen in "besonderen Lebenslagen", wie es offiziell heißt.

Nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) gibt es heute bundesweit rund 20 solcher medizinischer Ambulanzen, darunter in Berlin und Hamburg, Essen, Frankfurt, Mainz und München. In Hannover ist neben der Streetmed auch eine Zahnarztpraxis auf vier Rädern für Wohnungslose unterwegs.

Das Bielefelder "Streetmed"-Team hat sich Vertrauen und Respekt in der Szene erworben. Über die Tabletten für den Magen oder beim Versorgen einer Wunde sei der Zugang zu den Menschen sehr unkompliziert, sagt Krankenschwester Sarah Gevers, die sich seit einigen Monaten die Stelle mit Kroll teilt.

Viele Patienten mit chronischen Krankheiten

Rund 150 Obdachlose gibt es nach Angaben der Stadt in Bielefeld in der rund 300.000-Einwohner-Kommune. An die 1.000 weitere Menschen leben dort in ungesicherten Wohnverhältnissen, Tendenz steigend. Zunehmend seien jüngere Menschen und Migranten auf Hilfe angewiesen, zum Beispiel aus Osteuropa, berichtet Kroll.

Viele von Krolls Patienten haben chronische Krankheiten, die durch die Lebensumstände noch schlimmer werden. "Wer keinen festen Wohnsitz hat, kann sich nicht so einfach ausruhen, sich um seinen Körper oder gesunde Ernährung kümmern", erklärt die Ärztin. Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Verschleißerscheinungen seien an der Tagesordnung. Hinzu kämen die Folgen von Alkohol- und Drogenkonsum sowie psychische Probleme.

Kroll ist inzwischen in einem kleinern Behandlungsraum im Keller des Obdachlosen-Zentrums angekommen und schaut sich das entzündete Bein eines 54-Jährigen an. Anschließend will sie mit dem Mann über einen Platz in einem Wohnprojekt reden. Derzeit lebt der Bielefelder, der sich Tobi nennt, auf einem Campingplatz. Er will unbedingt dort bleiben.

Ihre Patienten seien oft eigenwillig und nicht angepasst, erzählt Kroll. Ihr sei es aber wichtig, den Menschen auf Augenhöhe zu begegnen, sie zu beraten und aufzuklären, bevormunden wolle sie ihre Patienten nicht. "Ich kann dem Alkoholiker nicht sagen, hör auf zu trinken. Aber ich kann mit ihm über einen gesundheitsverträglicheren Konsum reden." Bei Tobi will sie weiterhin am Thema dran bleiben.

Die "Streetmed"-Ärztin begleitet obdachlose Menschen auch in der letzten Lebensphase. Dafür hat sie eigens eine Zusatzausbildung in der Palliativmedizin gemacht. "Ein großer Vorteil meiner Arbeit ist es, dass ich mir Zeit für Gespräche nehmen und das Umfeld meiner Patienten mit einbeziehen kann", sagt die 60-Jährige. Außerdem habe sie gelernt, mit wenigen Mitteln wirkungsvoll medizinisch tätig zu sein: "All das macht die Arbeit für mich sinnvoll und erfüllend, als Medizinerin und als Mensch."

Silke Tornede


Obdachlose

Hamburger Winternotprogramm startet mit knapp 900 Plätzen




Notunterkunft für Obdachlose in der Spaldingstraße in Hamburg.
epd-bild / Mauricio Bustamante

Von November 2016 bis März 2017 will Hamburg knapp 900 zusätzliche Plätze für obdachlose Menschen im Winternotprogramm zur Verfügung stellen. Außerdem soll das Beratungsangebot ausgeweitet werden, teilte die Sozialbehörde am 18. Oktober mit. Insgesamt stehen 2,5 Mill. Euro für das Winternotprogramm zur Verfügung. Das Straßenmagazin "Hinz&Kunzt" hält die Maßnahmen für unzureichend.

Im vergangenen Winter kamen die Übernachtenden in beiden staatlichen Standorten (Münzstraße und Schaarsteinweg) zu rund 61 Prozent aus ost- und südosteuropäischen Staaten (darunter 55 Prozent aus Polen, Rumänien und Bulgarien), zu rund 30 Prozent aus afrikanischen Ländern und nur zu rund neun Prozent aus Deutschland.

Beratungen im Winternotprogramm seien zwar sinnvoll, sinnvolle Hilfe würden aber nur wenige bekommen, kritisierte Hinz&Kunzt-Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer. Den vielen Obdachlosen aus Osteuropa werde meist empfohlen, in ihr Heimatland zu reisen. Es sei jedoch ein Trugschluss, damit die Probleme zu lösen. Die meisten Osteuropäer würden trotzdem hier bleiben oder wieder kommen wieder. "Und wir müssen dabei zusehen, wie sie auf der Straße verelenden."

Die Ausweitung des Winternotprogramms sei "ein hausgemachtes Problem", kritisiert Karrenbauer. Es gebe seit Jahren kaum mehr frei Plätze in den Notunterkünften. Einen Platz in einer städtischen Unterkunft bekomme man nur mit Glück. "Ganz offensichtlich fehlt der politische Wille, die Obdachlosigkeit nicht nur zu verwalten, sondern zu bekämpfen." Kritisiert wird erneut, dass die Notunterkünfte tagsüber geschlossen werden. Dies zeige, so Karrenbauer, "wie wenig der Stadt das Wohl der Menschen am Herzen liegt".



Straßenkinder

Außenstelle für Projekt "Freezone" in Ludwigshafen abgelehnt



Seit drei Jahren will die diakonische Einrichtung "Freezone" für obdachlose Jugendliche aus Mannheim auch in der Schwesterstadt Ludwigshafen eine Dependance errichten. Stadtverwaltung und evangelische Kirche sehen dort jedoch keinen Bedarf.

Ob das Mannheimer Straßenkinder-Projekt "Freezone" auch eine Außenstelle in Ludwigshafen eröffnen kann, bleibt fraglich. Die Stadt Ludwigshafen habe nach dreijähriger Planungsphase keine Baugenehmigung erteilt, sagt der Sozialarbeiter Markus Unterländer. Eine zweite Einrichtung für obdachlose Kinder und Jugendliche sei jedoch dort nötig: Ein Drittel der jährlich rund 40 Übernachtungsgäste stamme aus der Stadt und Region Ludwigshafen.

Als Gründe für ihr "Nein" habe die hoch verschuldete Stadt Ludwigshafen angeführt, weder Bedarf noch finanzielle Mittel an einer Einrichtung für junge Obdachlose zu haben, sagt Unterländer. Das 1997 gegründete Projekt "Freezone" in der Mannheimer Innenstadt will jungen Menschen zwischen zwölf und 25 Jahren, die auf der Straße leben, Halt und eine Perspektive geben. Es wird seit 2010 vom diakonischen Johann-Peter-Hebel-Heim der Evangelischen Kinder- und Jugendhilfe Nordbaden getragen.

Suche nach einem Haus scheiterte

Ohne Erfolg habe "Freezone" in Ludwigshafen nach einer geeigneten Immobilie gesucht, beklagt Unterländer. Die Zeit für die Eröffnung der Außenstelle auf der anderen Rheinseite dränge: Der Zugriff auf die vom Spendenverein "Herzenssache" zugesagten rund 250.000 Euro für Gebäude und Mitarbeiter verfalle sonst Ende Februar 2017.

Ursprünglich habe die Stadt Ludwigshafen das Projekt unterstützt, für das "Freezone" eine jährliche kommunale Unterstützung von 80.000 Euro erwünscht habe. Gegen den ablehnenden Bescheid sei nun Widerspruch eingelegt worden, rechtliche Schritte würden erwogen. "Freezone" vermutet, das die Stadt Ludwigshafen die Sorge für obdachlose Jugendliche nach Mannheim verschiebe - auch weil man sie "nicht in der Nachbarschaft" haben wolle.

Aufgrund bereits bestehender Angebote sei eine weitere Einrichtung für die Unterbringung obdachloser Heranwachsender in Ludwigshafen nicht erforderlich, bestätigt die Stadt Ludwigshafen. Bereits im Juni sei "Freezone" mitgeteilt worden, dass die Kommune das Projekt aufgrund seiner Größe, der aktuellen Bedarfslage und der Kooperation mit den in Ludwigshafen ansässigen Trägern der Kinder- und Jugendhilfe nicht unterstützen könne.

Stadt plant ohne den diakonischen Träger

Zur Verbesserung der Reaktionsmöglichkeiten bei vorübergehender Obdachlosigkeit von Jugendlichen sei die Stadt Ludwigshafen mit ihrem Trägerverbund in fortgeschrittenen Planungsgesprächen, heißt es. Partner seien auch das Caritasübernachtungsheim St. Martin und der Pfälzische Verein für Soziale Rechtspflege. Eine weitere Einrichtung eines bisher in Ludwigshafen nicht ansässigen Trägers erübrige sich daher.

Auch die Ludwigshafener Dekanin Barbara Kohlstruck hält das Hilfsangebot für obdachlose Kinder und Jugendliche in ihrer Stadt für ausreichend. Die Ökumenische Fördergemeinschaft der evangelischen und katholischen Kirche kümmere sich mit ihrer Straßensozialarbeit und ihren Jugendtreffs um diese Klientel.

Der Ansatz von "Freezone" besteht aus einer Kombination aus fester Anlaufstelle mit geregelten Öffnungszeiten und Streetwork. Dort können junge Obdachlose tagsüber ihre Wäsche waschen, duschen, sich zurückziehen und bei sechs Schlafplätzen als Erwachsene auch übernachten. Beraten und betreut werden sie von Sozialarbeitern. In einer Straßenschule können sie ihren Haupt- oder Realschulabschluss nachholen. "Freezone" hofft indes weiter auf eine Chance in Ludwigshafen. "Wir hängen zwischen Himmel und Erde", sagt Sozialarbeiter Unterländer.

Alexander Lang


Junge Flüchtlinge

Verbände: Bayern unterläuft Integrationsgesetz




Verbände kritisieren die bayerische Umsetzung des Integrationsgesetzes, die jungen Flüchtlingen eine Ausbildung erschwert.
epd-bild/Lukas Barth

Der Bayerische Flüchtlingsrat und der Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BUMF) haben den Freistaat kritisiert, weil er mit seiner Umsetzung des Bundesintegrationsgesetzes die Eingliederung jugendlicher Flüchtlinge behindere. Die Organisation warfen der Landesregierung am 18. Oktober vor, mit einer Weisung des Innenministeriums die Ausländerbehörden verpflichtet zu haben, nur unter sehr strengen Voraussetzungen eine Beschäftigungserlaubnis zur Aufnahme einer Ausbildung zu erteilen.

"In zahlreichen Fällen wurden Beschäftigungserlaubnisse zur Berufsausbildung gar wieder entzogen", rügten die Organisationen. "Die Ausbildungs- und Arbeitsverbote zwingen junge Menschen in jahrelange Warteschleifen, während Betriebe nach Auszubildenden suchen", erklärte Tobias Klaus vom BUMF. Die bemängelte Anweisung stammt 1. September und regele den Vollzug des Ausländerrechts.

Mit dem Integrationsgesetz sollen die Hürden bei der Integration in Arbeit und Ausbildung für Flüchtlinge abgebaut werden, so zumindest der Wille der Bundesregierung. "In Bayern ist das Gegenteil der Fall. Tausenden Jugendlichen und Heranwachsenden droht nun ein Leben in der Warteschleife", kritisierten Flüchtlingsrat und BUMF.

Unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (UMF), für die (noch) kein Asylantrag gestellt wurde und die aufgrund ihrer Minderjährigkeit geduldet sind, soll laut den verbänden in Zukunft eine Ausbildungsaufnahme untersagt werden. Erfolge von Jugendhilfe und Schule könnten so in Hunderten Fällen zunichtegemacht werden. Zudem sollen Personen im Asylverfahren - etwa aus Afghanistan - nur noch nach strenger Prüfung eine Ausbildung oder Arbeit aufnehmen können. Entscheidend soll dabei unter anderem sein, welche Anerkennungschancen im Asylverfahren bestehen und ob die Identität geklärt ist.

Schließlich bemängeln die Organisationen, dass in Bayern geduldete Flüchtlinge in der Regel nur noch dann eine Arbeit oder Ausbildung aufnehmen dürfen, wenn sie einen Pass vorlegen. "In zahlreichen Fällen ist das jedoch nicht umgehend möglich, weil die Passbeschaffung ein zum Teil langwieriger Prozess bei den Botschaften ist." Diese Regelung führe unter Umständen dazu, dass Ausbildung und Arbeit über Jahre verboten bleiben.



Caritas

Aussetzung des Familiennachzugs behindert Integration



Die Aussetzung des Familiennachzugs für Flüchtlinge belastet nach Einschätzung der Caritas die Integration. "Die Familie ist ein wichtiger Garant für eine gelingende Integration", erklärte der Paderborner Diözesan-Caritasdirektor Josef Lüttig am 14. Oktober. Laut Grundgesetz stünden Ehe und Familie unter besonderem Schutz der staatlichen Ordnung.

"Derzeit wird eine beträchtliche Gruppe von diesem Schutz ausgeschlossen", kritisierte Lüttig. In den Flüchtlingsberatungsstellen spielten sich zunehmend "menschliche Dramen" ab. Die Betroffenen realisierten jetzt, dass sie ihre Familie lange Zeit nicht mehr wiedersehen werden.

Nach dem Asylpaket II vom Februar sind Flüchtlinge, die nach dem 17. März lediglich subsidiären Schutz erhalten haben, für zwei Jahre vom Familiennachzug ausgeschlossen. Bei dem subsidiären Schutz bekommen Flüchtlinge keine Asylberechtigung, sondern eine Aufenthaltserlaubnis für zunächst ein Jahr. Dieser Schutz soll für Menschen gelten, denen in ihrem Heimatland ernsthafter Schaden etwa durch Krieg droht.

Bis August 2016 haben laut Caritas 30 Prozent aller Flüchtlinge aus Syrien nur diese einfache Form des Schutzes in Deutschland erhalten. Im vergangenen Jahr seien hingegen fast alle aus Syrien kommenden Menschen als Asylberechtigte oder Flüchtlinge anerkannt worden, erklärte der katholische Wohlfahrtsverband. Doch selbst bei dieser Gruppe gelinge der Familiennachzug kaum. Probleme bereite vor allem die Pass- und Dokumentenbeschaffung. Dazu komme eine restriktive Bürokratie mit langen Wartezeiten bei der Terminvergabe und Visaerteilung, hieß es.



Alleinerziehende

Katholische AG begrüßt Reform des Unterhaltsvorschusses



Die katholische Arbeitsgemeinschaft Interessenvertretung Alleinerziehende (AGIA) hat den Beschluss von Bund und Ländern gelobt, den Unterhalt für Alleinerziehende zu verbessern. "Endlich wurde richtige Entscheidung getroffen", teilte die Organisation am 19. Oktober in Dortmund mit. Für diese Reform habe man gemeinsam mit anderen Familienverbänden seit Jahren gekämpft. Am 14. Oktober hatten sich Bund Länder darauf verständigt, den Unterhaltsvorschuss ab dem 1. Januar 2017 von 12 auf 18 Jahre anzuheben und die Bezugsdauergrenze von sechs Jahren aufzuheben.

Die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesfamilienministerium, Caren Marks (SPD), sagte am 19. Oktober im Familienausschuss auf eine Frage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, sie sei "optimistisch", dass das Gesetz noch in diesem Jahr verabschiedet werden kann. Marks konnte aber keinen konkreten Termin nennen, wann der Gesetzentwurf vorgelegt wird und wie sich die konkrete Kostenverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen gestaltet.

Bislang erhalten Kinder von Alleinerziehenden nur maximal bis zum 12. Lebensjahr einen staatlichen Unterhaltsvorschuss, wenn der andere Elternteil seiner Unterhaltspflicht nicht nachkommt. Die Entscheidung, diese Altersgrenze zu erhöhen sowie die dazu erforderlichen Finanzmittel bereit zu stellen, ist ein wichtiger Schritt, um die wirtschaftlichen Bedingungen für das Aufwachsen in Alleinerziehendenfamilien deutlich zu verbessern. "Zu rund 90 Prozent sind es Frauen, die ihre Kinder alleine erziehen. Etwa 38 Prozent von ihnen beziehen Leistungen nach dem SGB II", teilte AGIA mit.

Reformbedarf bestehe allerdings weiterhin bei der Höhe des Unterhaltsvorschusses und bei der Anrechnung des Kindergeldes. Die Arbeitsgemeinschaft fordert, das Kindergeld nicht länger vollständig, sondern wie beim Unterhalt, nur hälftig auf den Unterhaltsvorschuss anzurechnen. Alle Erhebungen zeigten, dass das Armutsrisiko von Kindern und Alleinerziehenden trotz einer hohen Erwerbsquote besonders hoch ist: "Bessere Regelungen beim Unterhaltsvorschuss sind ein sinnvolles und wirksames Mittel, um Armut von Kindern in Alleinerziehendenfamilien zu verringern."

Die Neuregelung betrifft zur Zeit rund 260.000 Alleinerziehende, die für ihre Kinder einen Unterhaltsvorschuss bekommen, da das andere Elternteil keinen Unterhalt zahlt oder zahlen kann. Seit dem 1. Januar 2016 beträgt der Unterhaltsvorschuss 145 Euro monatlich für Kinder bis fünf Jahren und 194 Euro Euro für Kinder von sechs bis elf Jahren.



Armut

Väterinitiative: Keine Armut für Kinder getrennter Eltern



Die Initiative "Väteraufbruch" hat die Politik aufgerufen, Kindern von getrennt lebenden Eltern eine armutsfeste Existenz zu sichern. "Unsere Kinder haben das Recht, von beiden Eltern erzogen zu werden. Daher müssen wir auch bei beiden Eltern das Existenzminimum der Kinder sicherstellen" sagte Sprecher Markus Witt am 17. Oktober zum Internationaler Tag für die Beseitigung der Armut.

Seinen Angaben nach sind aktuell rund drei Millionen Kinder in Deutschland von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen. Viele davon lebten mit ihren getrennten Eltern. Der existenzsichernde Bedarf der Kinder werde aber bisher nur bei einem Elternteil anerkannt. Die Folge: den Kindern droht die oftmals Teilzeit-Armut beim anderen Elternteil.

Witt erläuterte, dass das Leben in zwei Haushalten getrennter Eltern Mehrkosten verursacht, die bei der Ermittlung des Bedarfes der Kinder bisher unberücksichtigt blieben. Der Blick werde nur auf "Alleinerziehende" gerichtet. "Dabei bleibt der zweite Elternteil in der Betrachtung oftmals außen vor. Zu häufig verlieren Kinder den Kontakt zu einem Elternteil, oftmals dem Vater, da dieser nicht die notwendigen Mittel aufbringen kann, um die Kinder auch in seinem Haushalt zu versorgen", kritisierte der Sprecher. Es dürfe jedoch nicht sein, dass die Kinder bei einem Elternteil in Teilzeit-Armut leben müssen.

Die Einführung einer Kindergrundsicherung, die die existenzsichernde Grundversorgung der Kinder in allen Lebenssituationen absichert und auch den Mehrbedarf von Kindern getrennter Eltern berücksichtigt, wäre aus seiner Sicht dringend notwendig.



Pflege

Verband bpa zählt 9.500 Einrichtungen



Der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) wächst weiter. Die "APK - Ambulantes Pflegeteam Kremmen GmbH" im Gesundheitszentrum Schwante sei die 9.500. Mitgliedseinrichtung, teilte der Verband am 17. Oktober in Berlin mit.

Bpa-Präsident Bernd Meurer zeigte sich zufrieden angesichts des Wachstumskurses. „Die Pflege ist der Jobmotor Nummer eins in Deutschland und dazu trägt die private Pflege, die mittlerweile einen Marktanteil von über 50 Prozent aufweist, maßgeblich bei." Jedes neue Mitglied stärke die Stimme der privaten Pflegeanbieter in Deutschland und die politische Durchsetzungskraft unseres Verbandes.



Diakonie

Mehr Behinderte in den Arbeitsmarkt integrieren



Die Diakonie in Niedersachsen fordert vom Gesetzgeber, der Wirtschaft und den Behindertenwerkstätten mehr Anstrengungen zur Vermittlung von behinderten Menschen in den ersten Arbeitsmarkt. Tatsächlich würden bislang weniger als 0,2 Prozent derjenigen, die in den Werkstätten tätig seien, in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis vermittelt, sagte der Bereichsleiter Behindertenhilfe der Diakonie in Niedersachsen, Jörg Reuter-Radatz, am 17. Oktober dem epd.

Als erstes sollte der Bund nach Ansicht des Experten die Ausgleichsabgabe anheben, die Unternehmen zahlen müssten, wenn sie keine Behinderten beschäftigten. Zudem müssten potenzielle Arbeitgeber besser über die organisatorischen und rechtlichen Bedingungen beraten werden. "Viele scheuen den bürokratischen Aufwand und zahlen lieber die Abgabe. Sie fürchten, dass ein behinderter Arbeitnehmer häufiger krank und nur schwer kündbar ist."

Aber auch die Betreiber der Werkstätten müssten ihrem Auftrag besser gerecht werden, die bei ihnen beschäftigten Menschen möglichst in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln, verlangte Reuter-Radatz. Sie sollten die Behinderten in gestaffelten Modulen ausbilden und ihnen die Möglichkeit geben, einen entsprechenden Nachweis zu erwerben. Das würde Firmen helfen, deren Fähigkeiten besser einzuschätzen.

Andererseits müssten die Werkstätten dann auch einen finanziellen Ausgleich dafür bekommen, dass sie ihre leistungsstarken Arbeitskräfte abgäben. Damit nahm der Diakonie-Experte die Werkstatt-Betreiber gegen Kritik der Landesbehinderten-Beauftragten Petra Wontorra in Schutz.

Sie hatte gegenüber der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung" ebenfalls die niedrige Vermittlungsquote kritisiert. 50 der 78 Werkstätten im Land hätten nicht einen einzigen Mitarbeiter abgegeben. Gleichzeitig sei die Zahl der Werkstattbeschäftigten auf mehr als 33.000 gestiegen. Wontorra mutmaßte, die Betreiber behielten ihre Leistungsträger gern selbst und verdienten an ihnen.

Grundsätzlich arbeiteten in den Werkstätten fast ausschließlich Menschen mit einer wesentlichen Behinderung, mehr als 80 Prozent von ihnen seien geistig behindert, betonte Reuter-Radatz. Immer häufiger seien auch Menschen mit einer Suchterkrankung oder mit psychischen Problemen darunter, die bereits auf dem ersten Arbeitsmarkt gescheitert seien.

All diese Personengruppen seien schwer in Unternehmen oder Behörden zu vermitteln, zumal sich der Arbeitsmarkt durch die zunehmende Digitalisierung schnell verändere, erläuterte Reuter-Radatz: "Menschen die etwa Akten transportieren, werden kaum noch benötigt."



Modellprojekt

Pflegeheime sollen Dienstleistungszentren werden



In einem Modellprojekt wird in Ostwestfalen die Weiterentwicklung von Pflegeheimen zu pflegerischen Dienstleistungszentren im Stadtteil erprobt. An dem Vorhaben sind die Arbeiterwohlfahrt, die v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, das Evangelische Johanneswerk sowie die Städte Bielefeld und Herford und die Universität Bielefeld beteiligt, wie das Alters-Institut des Johanneswerks am 17. Oktober in Dortmund mitteilte.

Das Institut ist Träger des auf drei Jahre angelegten Projekts "Pflege stationär - Weiterdenken!" Dabei sollen Zukunftsmodelle entwickelt und deren Praxistauglichkeit untersucht werden.

Pflegeheime sollten künftig pflegerische, gesundheitsbezogene und soziale Dienstleistungen und Angebote unter einem Dach vereinen. Damit würden nicht nur Heimbewohner, sondern auch zu Hause lebende Menschen erreicht, hieß es weiter. Die bisherigen Angebote in diesen Bereichen hätten nur selten Berührungspunkte oder Schnittstellen. Sie stünden meist isoliert da und seien "nicht immer optimal am Bedarf" der Bevölkerung ausgerichtet, sagte der Geschäftsführer des Alters-Institutes, Bodo de Vries.

Das Modellprojekt "Pflege stationär - Weiterdenken!" wird den Angaben zufolge mit einer Million Euro von der Stiftung Wohlfahrtspflege des Landes Nordrhein-Westfalen unterstützt. Vier Pflege-Einrichtungen nehmen teil: aus Bielefeld das Frieda-Nadig-Haus, das Altenzentrum Baumheide (beide Arbeiterwohlfahrt) und das Pflegezentrum am Lohmannshof (Bethel) sowie aus Herford das Johannes-Haus des Evangelischen Johanneswerks.



Kirchen

Erzdiözese Freiburg gibt Millionen für Familienzentren



Katholische Kindertageseinrichtungen sollen in der Erzdiözese Freiburg zu Familienzentren ausgebaut werden. Um Gemeinden vor Ort bei dieser Aufgabe zu helfen, stelle das Erzbistum ab 2017 rund 1,7 Millionen Euro jährlich zur Verfügung, teilte die Diözese am 18. Oktober mit. Die Kitas bekommen eine Anschubfinanzierung von 10.000 Euro, Familienzentren werden jährlich mit 7.500 Euro gefördert, hieß es weiter.

Während in Kindertagesstätten die Betreuung und frühkindliche Bildung im Vordergrund stehen, fördern Familienzentren auch die Eltern durch Beratung und Unterstützung in Erziehungs- und Bildungsfragen. Die kirchlichen Zuschüsse sollen der Mitteilung zufolge vor allem ergänzenden Charakter haben. Sobald für Baden-Württemberg "klare Qualitätskriterien" für Familienzentren vorlägen, würden diese als Grundlage für die Projektförderung übernommen, hieß es weiter.



Reichtum

Millionäre erben mehr und sind zufriedener



Reiche mit einem Geldvermögen über eine Million Euro profitieren überdurchschnittlich häufig von einer Schenkung oder Erbschaft. Das ist das Ergebnis einer Befragung des Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) unter 130 sogenannten Hochvermögenden, die am 19. Oktober in Berlin vorgestellt wurde. Danach sind Deutschlands Millionäre "typischerweise männlich, im höheren Lebensalter und überdurchschnittlich gut gebildet".

Etwa drei Viertel der Befragten über 40 Jahre erhielten bereits eine Schenkung oder Erbschaft, 18 Prozent sogar zwei oder mehr dieser Zuwendungen. Dabei handelt es sich laut DIW um überdurchschnittlich hohe Beträge oder Vermögen. In der übrigen Bevölkerung erleben im Schnitt nur ein Drittel der über 40-Jährigen einen solchen Vermögenstransfer.

Zudem verfügen Reiche über ein hohes Haushaltsnettoeinkommen, sind überdurchschnittlich häufig selbstständig oder unternehmerisch tätig - und tendenziell zufriedener mit ihrem Leben als die Gesamtbevölkerung. "Sie arbeiten viel und schreiben sich eine höhere Risikobereitschaft zu als der Durchschnitt", befand das DIW.

Die Studie erfolgte im Rahmen des 5. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung, der sich aktuell in der Schlussabstimmung befindet. Damit sei erstmals die Situation von Hochvermögenden in Deutschland untersucht worden. Die Studie erlaube einen Einblick in die Lebenssituation von Reichen, über die - im Gegensatz zu den Armen - in der Wissenschaft wenig bekannt sei, erklärte das Institut. Die Antworten der 130 Befragten wurden zum Vergleich den Ergebnissen des sozio-ökonomischen Panels (SOEP) gegenübergestellt, das seit 1984 jährlich Befragungen durchführt.




sozial-Recht

Bundesgerichtshof

Krankenhaus muss hohen Hygienestandard belegen




Auf der Intensivstation eines Krankenhauses.
epd-bild / Werner Krüper
Bei konkreten Vorwürfen wegen Hygienemängeln sind Krankenhäuser in der Beweispflicht. Sie müssen nach einem höchstrichterlichen Beschluss darlegen können, dass Komplikationen nach einer Operation nicht auf Klinikkeime zurückzuführen sind.

Führt ein Patient eine erlittene Infektion auf konkret benannte, höhere Hygienerisiken im Krankenhaus zurück, muss die Klinik die Einhaltung der geltenden Hygienestandards beweisen. Andernfalls kann dies letztlich zu einem Schadenersatz- und Schmerzensgeldanspruch des Patienten für seine Gesundheitsbeeinträchtigungen führen, entschied der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe in einem am 29. September veröffentlichten Beschluss.

Immer wieder Entzündungen

Geklagt hatte ein Patient aus Niedersachsen. Der Kfz-Meister hatte sich im November 2009 wegen eines "Tennisarms" krankschreiben lassen. Als die üblichen Therapiemaßnahmen wie Gipsbehandlung und Krankengymnastik zu keiner Besserung führten, wurde er schließlich am Ellenbogen operiert. Doch die dabei erlittene Wunde entzündete sich immer wieder. Es wurden drei Nachoperationen erforderlich. Noch heute leidet der 43-Jährige unter einem Ruhe- und Belastungsschmerz.

Die Gesundheitsbeschwerden führte er auf die Wundinfektion zurück, die auf Hygienemangel im Krankenhaus basierten. Denn er habe sein Krankenhauszimmer mit einem Patienten geteilt, der eine infizierte, nicht ausgeheilte Wunde im Knie gehabt habe. Offenbar hätten die Ärzte den Hautkeim Staphylococcus aureus nicht in den Griff bekommen. Wegen der wahrscheinlichen Hygienemängel müsse die Klinik beweisen, dass sie nicht für die Infektion verantwortlich ist.

Das Oberlandesgericht (OLG) Celle urteilte, dass der 43-Jährige den Verstoß gegen Hygienestandards durch das Krankenhaus nicht ausreichend belegt habe. Es sei damit nicht klar, ob die Klinik für einen Behandlungsfehler verantwortlich sei. Die Klage wurde abgewiesen und die Revision nicht zugelassen.

Einhaltung von Hygienestandards

Die dagegen eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde hatte vor dem BGH Erfolg. Zwar könnten Vorgänge im lebenden Organismus "auch vom besten Arzt nicht immer so beherrscht werden, dass schon der ausbleibende Erfolg oder auch ein Fehlschlag auf eine fehlerhafte Behandlung" hindeuten würde, so der BGH. Die Beweislast liege hier beim Patienten.

Die Klinik sei aber für die Einhaltung von Hygienestandards verantwortlich wie die Reinheit von Desinfektionsmitteln und vermeidbare Keimübertragung durch das Pflegepersonal und die Ärzte. Dies zähle zum "voll beherrschbaren Bereich" des Krankenhauses.

Im konkreten Fall habe es sich um einen Hautkeim gehandelt, der zwar bei jedem Menschen zu finden sei. So könne der Keim vom Träger selbst oder von Besucher in die Wunde geraten sein. Allerdings habe der Kläger geltend gemacht, dass ein Mitpatient im Zimmer eine nicht ausgeheilte Wunde hatte.

Ein Sachverständiger habe erklärt, dass er zu einem solchen Patienten keinen Patienten mit einer offenen Wunde legen würde. Zulässig sei dies nach den geltenden Empfehlungen nur, wenn erhöhte Hygienestandards eingehalten werden. Dies führe dazu, dass es nun Sache des Krankenhauses ist, die Einhaltung der erhöhten Hygienestandards zu beweisen, so der BGH. Das OLG Celle muss dies nun noch einmal prüfen.

Az.: VI ZR 634/15

Frank Leth


Bundesgerichtshof

Kein Kita-Platz: Stadt haftet für Verdienstausfall



Stellt eine Stadt nicht genügend Betreuungsplätze für Kinder zur Verfügung, können Eltern Schadenersatz geltend machen. Die Stadt hafte auch für den erlittenen Verdienstausfall von berufstätigen Eltern, entschied der Bundesgerichtshof. Er gab am 20. Oktober in Karlsruhe drei Müttern aus Leipzig recht, die die Stadt auf Ersatz ihres Verdienstausfalls verklagt hatten, weil sie keinen Kita-Platz für ihre einjährigen Kinder bekommen hatten. Kommunen seien verpflichtet, "eine ausreichende Zahl von Betreuungsplätzen selbst zu schaffen oder durch geeignete Dritte - freie Träger der Jugendhilfe oder Tagespflegepersonen - bereitzustellen".

In ersten Reaktionen begrüßten Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) und die Grünen das Urteil. Der Städte- und Gemeindebund rechnet nicht mit einer Klagewelle. Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg erklärte nach dem Urteilspruch, die Städte müssten allerdings so exakt wie möglich planen und möglichst einvernehmliche Lösungen mit den Eltern finden. Dazu könne auch gehören, ihnen Ersatzplätze in anderen Stadtteilen oder bei einer Tagesmutter anzubieten.

Oberlandesgericht Dresden entschied anders

Die Klägerinnen aus Leipzig wollten jeweils nach Ablauf der einjährigen Elternzeit wieder Vollzeit arbeiten. Deshalb meldeten sie für ihre Kinder wenige Monate nach der Geburt bei der Stadt Leipzig den Bedarf für einen Betreuungsplatz für die Zeit nach dem ersten Geburtstag der Kinder an. Zum gewünschten Termin erhielten die Frauen jedoch keinen Betreuungsplatz und klagten auf Ersatz des Verdienstausfalls, der ihnen entstanden sei.

Während das Landgericht Leipzig den Müttern recht gegeben hatte, waren sie nach einer Berufung durch die Stadt vor dem Oberlandesgericht Dresden unterlegen. Der Bundesgerichtshof hob die Urteile nun auf und verwies die Verfahren zurück nach Dresden.

Städte und Gemeinden sind seit dem 1. August 2013 gesetzlich verpflichtet, Kindern zwischen einem und drei Jahren einen Platz in einer Tageseinrichtung oder in einer Kindertagespflege anzubieten. Der Bundesgerichtshof urteilte, die Stadt Leipzig habe ihre Amtspflichten verletzt. Die Kommune hätte eine ausreichende Zahl an Betreuungsplätzen bereithalten müssen. Die Stadt könne sich nicht darauf berufen, dass die Kapazität an Kita-Plätzen begrenzt sei. Wenn es zu wenige seien, sei sie verpflichtet, weitere Plätze zu schaffen. Eine Verletzung dieser Amtspflicht könne dazu führen, dass die Stadt für Verdienstausfälle der Eltern aufkommen muss, urteilte der Bundesgerichtshof.

Ziel: Vereinbarkeit von Arbeit und Familie

Das Oberlandesgericht Dresden soll nun klären, wie schwer die Amtspflichtverletzung der Stadt wiegt und wie hoch der Schaden für die Frauen zu beziffern ist. Es geht um Forderungen zwischen 2.200 und 7.350 Euro.

Der Gesetzgeber habe mit den gesetzlich garantierten Kita-Plätzen nicht nur die Betreuung der Kleinkinder sicherstellen, sondern auch die Eltern entlasten und die Fortsetzung ihrer Berufstätigkeit ermöglichen wollen, argumentierten die Richter. Ziel sei die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsleben.

Die Stadt muss allerdings nur zahlen, wenn das Fehlen der Kita-Plätze selbst zu verschulden hat. Auch das soll das Oberlandesgericht Dresden nun noch einmal prüfen. Der Hinweis auf knappe Haushaltsmittel sei aber noch kein Grund, keine neuen Kitas zu bauen, betonten die Karlsruher Richter. Die Kommune müsse nach dem Willen des Gesetzgebers "für eine ausreichende Anzahl an Betreuungsplätzen grundsätzlich uneingeschränkt einstehen".

Bundesfamilienministerin Schwesig erklärte nach dem Urteil, für Eltern habe die Kinderbetreuung einen zentralen Stellenwert. Deshalb sei es gut, dass sie einen Rechtsanspruch darauf haben. Die familienpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Franziska Brantner, sprach von einem Urteil mit Signalwirkung. Der Bundesgerichtshof rufe in Erinnerung, dass es vielerorts immer noch nicht genügend Betreuungsplätze gebe.

AZ: III ZR 278/15, 302/15 und 303/15



Europäischer Gerichtshof

Preisbindung rezeptpflichtiger Medikamente verletzt EU-Recht




Die Preisbindung von Medikamenten in Deutschland könnte kippen.
epd-bild / Werner Krüper

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) rüttelt an den Einheitspreisen für rezeptpflichtige Medikamente in Deutschland. Die Preisbindung verstoße gegen das EU-Recht, urteilte der EuGH am 19. Oktober in einem Fall, der sich um ein Angebot der niederländischen Versandapotheke DocMorris dreht. Inwieweit das Urteil zur Abschaffung der Preisbindung führen könnte, ist nach Auskunft des EuGH und des Bundesgesundheitsministeriums noch nicht zu sagen.

Der aktuelle Fall betraf ein Bonussystem, das die Selbsthilfeorganisation "Deutsche Parkinson Vereinigung" mit DocMorris ausgehandelt hatte. Das Bonussystem war für Mitglieder der Vereinigung bei Einkäufen verschreibungspflichtiger Medikamente gedacht. Parkinson ist eine Erkrankung des zentralen Nervensystems. Typische Symptome sind Bewegungsstörungen, Muskelstarre und Zittern. Medikamente könnten die Symptome lindern, heilbar ist Parkinson nicht.

Die Zentrale zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs klagte gegen einen bestimmten Aspekt der Bonusregelung. Sie verstoße gegen den in Deutschland geltenden einheitlichen Apothekenabgabepreis. Das Oberlandesgericht Düsseldorf wandte sich mit dem Fall an den EuGH, weil er auch EU-Recht betrifft. Dieser urteilte nun, dass der einheitliche Preis den freien Warenverkehr behindere. Eines der Hauptargumente: Für ausländische Apotheken wirkt sich der Einheitspreis als Wettbewerbsfaktor stärker aus als für inländische. Die inländischen Apotheken könnten bei den Patienten und Kunden nämlich zum Beispiel durch ihre Beratung vor Ort oder die Notfallversorgung punkten.

Was der Fall über DocMorris hinaus bedeutet, ist noch weitgehend unklar. "Die Konsequenzen aus dem Urteil muss jetzt zunächst das OLG Düsseldorf ziehen, sowie gegebenenfalls der Gesetzgeber", erklärte ein Sprecher des EuGH auf Anfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd). Das Bundesgesundheitsministerium teilte mit, dass es das Urteil prüfe. Auch dort wollte man nicht darüber spekulieren, ob die Preisbindung für verschreibungspflichtige Medikamente in Deutschland nun generell abgeschafft werden müsse.

Konsequenzen aus dem Urteil sieht das Ministerium bislang nur für ausländische Versandapotheken: "Die deutsche Regelung zum einheitlichen Apothekenabgabepreis bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln ist damit auf Versandapotheken mit Sitz im EU-Ausland nicht mehr anwendbar." Zugleich wurde betont, dass eine wohnortnahe Arzneimittelversorgung für die Bundesregierung "weiterhin Priorität" habe.

Die Unions-Bundestagsfraktion brachte bereits ein "Versandhandelsverbot für deutsche Arzneimittel" in die Diskussion. "Für die inhabergeführten Apotheken dürfen in Deutschland aufgrund des Urteils keine Wettbewerbsnachteile entstehen", begründete die gesundheitspolitische Sprecherin, Maria Michalk (CDU), ihren Vorstoß. Die Linken-Gesundheitsexpertin Kathrin Vogler kritisierte, das Urteil bedeute "eine Stärkung des Versandhandels und bedroht nicht zuletzt Apotheken auf dem Lande".

Die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) zeigte sich über das Urteil "entsetzt". "Es kann nicht sein, dass ungezügelte Marktkräfte über den Verbraucherschutz im Gesundheitswesen triumphieren", erklärte ABDA-Präsident Friedemann Schmidt. Auch er hält ein Versandhandelsverbot für denkbar. Die Preisbindung schützt laut ABDA den Patienten davor, "dass seine Notlage durch überhöhte Preise ausgenutzt wird".

A: C-148/15



Landesarbeitsgericht

Bei häufigem Krankfeiern droht im Kleinbetrieb leichter Kündigung



In einem Kleinbetrieb können hohe krankheitsbedingte Fehlzeiten leichter zu einer Kündigung führen. Das gilt etwa dann, wenn die Fehlzeiten erhebliche organisatorische Probleme mit sich bringen und eine Neueinstellung notwendig machen, stellte das Landesarbeitsgericht (LAG) Rheinland-Pfalz in Mainz in einem am 11. Oktober schriftlich veröffentlichten Urteil klar. Damit ist eine medizinische Fachangestellte ihren Job in einer Arztpraxis nun los.

Sie arbeitete seit September 2014 bei der Ärztin in Teilzeit, zunächst zwölf, später acht Wochenstunden. Das Kündigungsschutzgesetz galt in dem Kleinbetrieb nicht, da die Praxis deutlich weniger als zehn Mitarbeiter hatte.

Im Jahr 2015 kündigte die Ärztin der medizinischen Fachangestellten wegen wiederholter krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit aus betriebsbedingten Gründen. Die Frau hatte sich insgesamt dreieinhalb Monate krankschreiben lassen. Die hohen Fehlzeiten hätten dazu geführt, dass eine Neueinstellung erforderlich war, so die Ärztin. Nur so konnte die Arbeit in der Praxis und dem Labor noch bewältigt werden.

Das LAG hielt die Kündigung für wirksam. Sie sei wegen der krankheitsbedingten Fehlzeiten und der damit verbundenen erheblichen Umstrukturierungen in der ärztlichen Praxis und einer Neueinstellung gerechtfertigt. In Kleinbetrieben bestünden allenfalls nach einer langjährigen Beschäftigung höhere Anforderungen für eine Kündigung. Arbeitnehmer könnten dann Vertrauensschutz geltend machen. Hier habe die Teilzeitkraft aber noch nicht einmal ein Jahr in dem Betrieb gearbeitet.

Az.: 1 Sa 89/16



Verwaltungsgericht

Schulbehörde darf Flüchtlingskinder gleichmäßig verteilen



Die Schulbehörden der Länder dürfen Maßnahmen ergreifen, um Flüchtlingskinder gleichmäßig auf alle Schulen zu verteilen. Die Schulbehörde muss die dafür erlassene Verordnung aber zeitnah an die tatsächliche Zahl der Flüchtlingskinder anpassen, entschied das Oberverwaltungsgericht (OVG) Bremen in zwei am 19. Oktober bekanntgegebenen Beschlüssen. Allerdings muss die entsprechende Verordnung zeitnah an die tatsächliche Zahl der Flüchtlingskinder angepasst werden.

Die Schulbehörde der Freien Hansestadt Bremen hatte Anfang 2016 per Verordnung bestimmt, dass die Schulen zusätzliche Klassenverbände mit Sprachförderkursen einrichten können. Zudem sollten in den regulären Klassenverbänden Plätze für Flüchtlingskinder freigehalten werden. Ziel war es, die Flüchtlingskinder auf alle Schulen zu verteilen um deren Integration zu verbessern.

Im Ergebnis führte die Verordnung dazu, dass besonders beliebte, "überangewählte" Schulen in der 5. Klasse weniger Bremer Kinder aufnehmen konnten, als bislang. Dagegen klagten mehrere Eltern. Das OVG entschied, dass die Schulbehörden eine Verordnung erlassen dürfen, um Flüchtlingskinder möglichst gleichmäßig auf alle Schulen zu verteilen. Eine gesetzliche Regelung sei hierfür nicht erforderlich.

Im konkreten Fall sei die strittige Verordnung dennoch fehlerhaft. Denn von den 128 freigehaltenen Plätzen an den Schulen seien bislang nur 58 von Flüchtlingskindern besetzt worden. Darauf hätte die Schulbehörde reagieren müssen. "Den im regulären Aufnahmeverfahren abgewiesenen Kindern kann unter diesen Umständen nicht entgegen gehalten werden, dass an der von ihnen angewählten Schule kein Platz mehr ist", so die Bremer Richter.

Az.: 1 B 185/16 und 1 B 195/16




sozial-Köpfe

Ellen Ueberschär vor Wechsel zur Böll-Stiftung




Ellen Ueberschär
epd-bild/Rolf Zoellner
Kirchentags-Generalsekretärin Ellen Ueberschär soll im Sommer 2017 neue Co-Vorsitzende der politischen Stiftung der Grünen werden. Die evangelische Theologin ist Wunschkandidatin des Aufsichtsrates für die Nachfolge von Ralf Fücks.

Wie die politische Stiftung der Grünen und der Kirchentag am 17. Oktober dem Evangelischen Pressedienst (epd) mitteilten, soll die 48 Jahre alte evangelische Theologin im Sommer nächsten Jahres die Nachfolge des 65-jährigen Ralf Fücks antreten. Ueberschär sei die Wunschkandidatin des Aufsichtsrates, sagte dessen Vorsitzende Christa Goetsch dem epd. Die Mitgliederversammlung wird am 26. November über den Personalvorschlag abstimmen.

Ueberschär ist seit elf Jahren Generalsekretärin der Kirchentages. Bis zu ihrem Wechsel im Sommer nächsten Jahres wolle sie "unter vollen Segeln" Kirchentag machen, ließ Ueberschär erklären. Der Kirchentag vom 24. bis 28. Mai nächsten Jahres in Berlin und Wittenberg wird das siebte Christentreffen unter ihrer Ägide sein.

Ueberschär studierte Theologie in Berlin und Heidelberg, anschließend war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Marburg. Die Pfarrerin der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz promovierte 2002 in kirchlicher Zeitgeschichte über Jugendarbeit in der DDR und war danach Studienleiterin für Theologie, Ethik und Recht an der Evangelischen Akademie Loccum. 2013 hatte sie sich erfolglos um das Amt als Präses an der Spitze der Evangelischen Kirche im Rheinland beworben.



Weitere Personalien



Martin Schulz, SPD-Politiker und Präsident des EU-Parlamentes, hat den Heinrich-Albertz-Friedenspreises der Arbeiterwohlfahrt bekommen. AWO-Präsident Wilhelm Schmidt erklärte, Martin Schulz zeichne "sein kraftvoller, energischer und manchmal auch unbequemer Einsatz gegen die Betonung von Partikularinteressen, gegen Rassismus, rücksichtslosen Populismus und Rechtsextremismus in Politik und Gesellschaft in besonderem Maße aus." Schulz lebe die Werte der AWO: Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit, Toleranz und Solidarität. Mit dem Heinrich-Albertz-Friedenspreis ehrt die AWO seit 1999 Persönlichkeiten, die Solidarität und soziale Verantwortung in den Mittelpunkt ihres Lebens stellen.

Yvonne Ott ist vom Bundesrat am 14. Oktober zur Richterin am Bundesverfassungsgericht gewählt worden. Sie tritt die Nachfolge Reinhard Gaier an, der dem Ersten Senat angehört und dessen Amtszeit am 31. Oktober endet. Ott ist seit 2010 Strafrichterin am Bundesgerichtshof. Die promovierte Juristin begann ihre Laufbahn im hessischen Finanzministerium. 2004 wurde sie, nach einer zweieinhalbjährigen Abordnung an das Bundesverfassungsgericht, Vorsitzende Richterin am Landgericht Frankfurt am Main.

Sandra Scheeres, Senatorin für Bildung, Jugend und Wissenschaft des Landes Berlin (SPD), hat die Leitung des Bundesratsausschusse für Familie und Senioren übernommen. Die Erzieherin und Diplom-Pädagogin ist seit 2011 Senatorin in der Bundeshauptstadt. Seit 2006 gehört sie dem Abgeordnetenhaus an. Der Ausschussvorsitz für Frauen und Jugend ist nun in den Händen Petra Grimm-Benne, ebenfalls SPD. Sie ist seit April Ministerin für Arbeit, Soziales und Integration des Landes Sachsen-Anhalt. Sie sitzt seit 2002 im Landtag. Auch der Gesundheitsausschuss hat eine neue Leitung: Monika Bachmann (CDU) ist Ministerin für Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie des Saarlandes. Die Bankkauffrau hat das Amt seit November 2014 inne, zuvor war sie Ministerin für Soziales und Gesundheit, davor Innenministerin.

Michelle Becka und Franziskus Knoll sind am 12. Oktober mit dem Lorenz-Werthmann-Preis der Caritas ausgezeichnet worden. Die Ehrung erfolgte bei der 16. Delegiertenversammlung des Deutschen Caritasverbandes in Köln. Der mit 5.000 Euro dotierte Lorenz-Werthmann-Preis wurde geteilt. Ausgezeichnet wurde Michelle Becka mit ihrer sozialethischen Habilitationsschrift "Strafe und Resozialisierung. Hinführung zu einer Ethik des Justizvollzugs". Der zweite Preisträger ist Franziskus Knoll mit seiner Dissertation "Mensch bleiben! Zum Stellenwert der Spiritualität in der Pflege". Präsident Peter Neher überreichte auch den Gertrud-Luckner-Preis, der an Anja Willeke ging, die sich in ihrer Master-Thesis mit dem Thema "Partizipative Führungskultur in Non Profit-Unternehmen" beschäftigt hat.

Silke Mader (44), Mitbegründerin und Geschäftsführende Vorstandsvorsitzende der europäischen Stiftung für Frühgeborene und kranke Neugeborene (EFCNI), ist am 14. Oktober mit der Bayerischen Staatsmedaille für Verdienste um Gesundheit und Pflege ausgezeichnet worden. Die Staatsministerin für Gesundheit und Pflege Melanie Huml (CSU) verlieh den Orden in Nürnberg. Sie würdigte Mader, die mit ihrer Stiftung Wissenschaftler, Fachleute und Eltern zusammenbringe, um alle Kräfte zu bündeln und damit nachhaltig die bestmögliche Versorgung von Frühgeborenen sicherzustellen. Darüber hinaus lobte Huml die Preisträgerin für ihren tatkräftigen Einsatz, die medizinische, psychologische und sozialpädagogische Unterstützung betroffener Eltern zu verbessern.




sozial-Termine



Die wichtigsten Fachveranstaltungen bis Dezember

Oktober

26.-27.10. Nürnberg:

Fachmesse und Kongress "ConSozial 2016"

des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Soziales, Familie und Integration

Tel.: 09128/502601

www.consozial.de

27.-28.10. Wiesbaden:

Seminar "Beste Aussichten?! - Kompetent älter werden im Beruf"

des SkF Gesamtvereins

Tel.: 0231/55702613

November

1.11. Leipzig:

Fachtag "Rechnungslegung"

der Curacon Wirtschaftsprüfungsgesellschaft

Tel.: 0251/922080

3.11. Köln:

Seminar "Der Krankenhaus-Jahresabschluss 2016 - Aktuelle Entwicklungen und Einzelfragen"

der Solidaris Unternehmensberatung

Tel.: 02201/8997221

www.solidaris.de

8.11. Hannover:

Fachtag "Gemeinnützigkeitsrecht/Steuerrecht"

der Curacon GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft

www.curacon.de/fachtagungen

8.11. Ulm:

Symposium "Macht soziale Ungleichheit krank?"

der Fröhliche Management GmbH

Tel.: 040/32318755

www.froehlich-management.com

8.11. Münster:

Seminar "Gründung MVZ an Krankenhäusern"

der BPG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft

Tel.: 0251/48204-12

www.bpg-muenster.de/seminarangebote-bpg-unternehmensgruppe

8.11. Ulm:

Symposium "Armut - Bildung - Gesundheit"

der Fröhlich Management GmbH

www.froehlich-management.de

9.11. Kassel:

Selbsthilfetag "Lebenskust und Recory"

der Aktion Psychisch Kranke

Tel.: 0228/676740

www.apk-ev.de

9.11. Berlin:

Fachtag "Ambulante Wohnformen: Neue Herausforderungen durch das PSG II"

der Stephanus Stiftung

Tel.: 030/96249113

www.stephanus.org

9.11. Frankfurt a.M.:

Schulung "Aktuelle Rechtsprechung im Arbeitsrecht 2016"

der Arbeitsgemeinschaft caritativer Unternehmen (AcU)

Tel.: 0228/9261660

www.a-cu.de

10.11. Münster:

Seminar "Die Reform des Eingliederungshilfe für behinderte Menschen - Regierungsentwurf Bundesteilhabegesetz"

der BPG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft

Tel.: 0251/48204-12

www.bpg-muenster.de/seminarangebote-bpg-unternehmensgruppe

12.11. Berlin:

Workshop "Was ist gutes Sterben? zum Umgang mit Idealen und Wünschen im Krankenhaus"

der Evangelischen Akademie zu Berlin

Tel.: 030/203550

www.eaberlin.de

15.-16.11. Loccum:

Tagung "SGB II und Flüchtlinge - Ansätze für eine nachhaltige Integration"

der Evangelischen Akademie Loccum

www.loccum.de

16.-18.11.Berlin:

Symposium "Gelebte Transparenz in Caritas und Diakonie"

des Bundesverbandes der Diakonie und des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0561/703413014

www.vrk.de

18.11. Frankfurt a.M.:

7. Gesundheitsrechtetag

der Zentrale zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbes

Tel.: 06172/12150

www.wettbewerbszentrale.de

20.11. Köln:

Seminar "Fördermittelgewinnung bei Stiftungen"

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356159

www.bfs-service.de

Dezember

6.12. Frankfurt a.M.:

Tagung "Von der Zettelwirtschaft zur IT-gestützten Dienstplanung:

2. Personalforum Dienstplanung und Zeitwirtschaft"

des Verbandes Diakonischer Dienstgeber in Deutschland

Tel.: 030/884717013

www.v3d.de