sozial-Editorial

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Markus Jantzer
epd-bild/Heike Lyding

in der evangelischen Kirche und der Diakonie wird über eine mögliche neue Position zur Sterbehilfe diskutiert. Der Vorstoß von Diakoniepräsident Ulrich Lilie und weiteren führenden Theologen, Suizidassistenz in kirchlichen Einrichtungen zu ermöglichen, ruft Kritik und Ablehnung hervor: bei CDU und SPD, der katholischen Kirche und der Caritas und auch bei führenden Vertretern der Diakonie. Hintergrund der Kontroverse ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das im Februar vergangenen Jahres das gesetzliche Verbot organisierter Hilfe bei der Selbsttötung gekippt hat.

Der Corona-Impfstart ruckelt. So hat es der Bundesgesundheitsminister vorhergesagt, und so ist es auch eingetreten. Mit den Impfungen in den neu errichteten Zentren geht es relativ langsam voran. Junge Schwerbehinderte mit Vorerkrankungen beklagen sich darüber, dass sie auf der Prioritätenliste nicht ganz oben stehen. Osteuropäerinnen, die regelmäßig aus dem Ausland zur Seniorenbetreuung nach Deutschland reisen, werden nach Expertenansicht zu wenig berücksichtigt. Und der bayerische Ministerpräsident redet einer Impfpflicht für Pflegekräfte das Wort, die bei der angesprochenen Berufsgruppe - und nicht nur dort - auf Unverständnis stößt.

Im aktuellen Lockdown gibt es für die Kitas keine bundeseinheitlichen Regelungen. In der Regel müssen die Kitas für eine Notbetreuung öffnen, Covid-19-Tests für das Personal oder Investitionen in Luftentkeimungsgeräte unterbleiben allerdings weitgehend. Den Eltern der kleinen Kinder hilft der Bundestag jetzt immerhin mit einem Gesetz, das ihnen in diesem Jahr erlaubt, doppelt so viele Kinderkrankengeld-Tage zu nehmen wie vor der Pandemie.

Klagen bei Gericht gegen Corona-Auflagen häufen sich, darunter sind auch Klagen gegen die Maskenpflicht. Ob für die Befreiung davon ein genaues Attest vom Arzt vorgelegt werden muss, ist rechtlich umstritten.

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Markus Jantzer




sozial-Thema

Medizinethik

Kontroverse über Umgang mit Sterbewilligen in Diakonie-Einrichtungen




Eine Verstorbene in einem Hospiz
epd-bild/Werner Krüper
Hochrangige evangelische Theologen halten Sterbehilfe in kirchlichen Einrichtungen für möglich. Damit weichen sie von der bisherigen Linie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ab. Widerspruch kommt aus den Kirchen und politischen Parteien.

Die Stellungnahme evangelischer Theologen zur Möglichkeit des assistierten Suizids auch in kirchlichen Einrichtungen stößt auf Kritik: in CDU und SPD sowie in den Kirchen und der kirchlichen Wohlfahrt. "Wer Selbsttötungshilfe zum geregelten Angebot macht, schwächt die eigenen Möglichkeiten, auch in schwieriger Lage zum Leben zu ermutigen", sagte der Beauftragte für Kirchen und Religionsgemeinschaften der Unionsbundestagsfraktion, Herrmann Gröhe (CDU), dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Alexander Krauß forderte sogar den Rücktritt von Diakonie-Präsident Ulrich Lilie. Seine Position sei eine "Bankrotterklärung", erklärte er am 12. Januar. Krauß sagte, die Diakonie müsse alles tun, um Menschen am Lebensende zu begleiten. Wenn es die Möglichkeit zur Suizidassistenz gebe, "dann werden diese Menschen unter Druck gesetzt, doch endlich aus dem Leben zu scheiden", erklärte der Abgeordnete aus dem Erzgebirge.

Freiverantwortliche Wunsch einer Person

Lilie sowie die Theologen Reiner Anselm und Isolde Karle hatten in einem am 11. Januar in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" veröffentlichen Gastbeitrag dafür plädiert, sich der Suizidassistenz in kirchlichen Häusern nicht komplett zu verweigern. Kirchliche Einrichtungen sollten eine bestmögliche medizinische und pflegerische Palliativversorgung sicherstellen. Zugleich dürften sie sich aber dem freiverantwortlichen Wunsch einer Person nicht verweigern, ihrem Leben mit ärztlicher Hilfe ein Ende zu setzen, heißt es darin.

Diakonie-Präsident Lilie verteidigte am 14. Januar den von ihm mitgetragenen Vorstoß für die Möglichkeit von Suizidassistenz in kirchlichen Einrichtungen. "Niemand von uns will den Tod organisieren", sagte Lilie dem Evangelischen Pressedienst (epd). Es gehe um einen Aufschlag "zu einer anstehenden, nachdenklichen und differenzierten Debatte über die Frage, wie wir respektvoll, wertegebunden und ergebnisoffen mit dem Willen von Betroffenen umgehen".

Er verwahre sich "gegen Karikaturen unseres Anliegens, es gehe uns um ein geregeltes Angebot neben anderen oder einen Anspruch auf Sterbehilfe in unseren Einrichtungen", sagte er: "Selbstverständlich bleibt die Diakonie Anwältin des Lebens."

Das Bundesverfassungsgericht hatte im Februar vergangenen Jahres den Klagen von Sterbehilfeorganisationen, Ärzten und Einzelpersonen Recht gegeben, die sich gegen das Verbot organisierter - sogenannter geschäftsmäßiger - Hilfe bei der Selbsttötung richteten. Die Karlsruher Richter erklärten das entsprechende Gesetz für nichtig und begründeten das mit dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben, das auch Dritten die Assistenz beim Suizid erlaube.

"Selbsttötungshilfe als geregeltes Angebot"

Der Bundesvorsitzende des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU, Thomas Rachel, warnte, Hilfe zum Sterben in Form von Assistenz zur Selbsttötung sei keine adäquate Option kirchlich-diakonischen Handelns. "Solches wäre ein fataler Irrweg", sagte er am 14. Januar in Berlin.

Rachel betonte, das Leitbild evangelischer Sterbebegleitung müsse auch weiterhin ausschließlich in der bestmöglichen palliativmedizinischen und hospizlichen Für- und Seelsorge am Sterbebett bestehen. "Suizidales Handeln ist immer ein zutiefst zu bedauerndes, tragisches Scheitern und allein schon deshalb ein ethisch wie politisch letztlich nicht vollständig regulierbarer Grenzfall menschlicher Existenz." Aus einer solchen Grenzsituation dürfe niemals ein Regelfall oder eine Art Regelleistung medizinischer Grundversorgung werden, sagte der CDU-Bundestagsabgeordnete.

Gröhe sagte, auch der Respekt vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts müsse "nun wahrlich nicht bedeuten, dass solche Selbsttötungshilfe in diakonischen Einrichtungen zum geregelten Angebot wird". Zudem sei deutlich gemacht worden, dass der Beitrag der Theologen keinen Positionswechsel der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bedeute.

"Subtiler Druck"

Ein EKD-Sprecher hatte betont, dass sie weiter jede organisierte Hilfe zum Suizid, die dazu beiträgt, dass die Selbsttötung zur Option neben anderen werde, ablehne. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat in der evangelischen Kirche allerdings eine neue Kontroverse ausgelöst.

Auch von katholischer Seite kommt Widerspruch. "Den subtilen Druck, dem assistierten Suizid zuzustimmen, um am Ende des Lebens anderen nicht zur Last zu fallen, halten wir für eine große Gefahr", sagte der Sprecher der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Matthias Kopp. Auch der Deutsche Caritasverband, der katholische Sozialverband, betonte, in katholischen Einrichtungen könne es kein solches Angebot geben. "Die Aufgabe der Einrichtungen kann nicht darin bestehen, möglicherweise den Suizid von Bewohnern zu organisieren. Sie besteht darin, Menschen zu begleiten und Alternativen zu eröffnen", sagte Caritas-Präsident Peter Neher.

"Debatte überfällig"

Die SPD-Bundestagsabgeordnete Kerstin Griese sagte dem epd: "Es muss darum gehen, Hilfe beim Sterben anzubieten - und nicht Hilfe zum Sterben." Die Antwort auf Leid und Schmerz dürfe niemals die Ausweitung des assistierten Suizids sein. Griese ist ebenfalls Mitglied im EKD-Rat und hatte die Gesetzesinitiative 2015 zum Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe mit vorbereitet.

Der evangelische Kirchenjurist Hans Michael Heinig, der auch in der Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD sitzt, sagte, in dem Text werde zu wenig thematisiert, welche Zumutungen die vorgeschlagene Etablierung "assistierten professionellen Suizids" für das Pflegepersonal und die Ärzteschaft in kirchlichen Einrichtungen bedeute. "Die inneren Verwerfungen wären massiv", sagte der Göttinger Professor. Er betonte zugleich, die Debatte sei überfällig.

Corinna Buschow


Medizinethik

Bethel-Chef Pohl lehnt assistierten Suizid in der Diakonie ab




Ulrich Pohl
epd-bild/Paul Schulz/Bethel

Die v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel lehnen Angebote von assistiertem Suizid in diakonischen Einrichtungen ab. Aufgabe der Diakonie in der Begleitung Sterbender sei es, Leiden zu lindern und die Menschen seelsorgerlich und geistlich zu begleiten, nicht aber systematisch den Tod von Sterbewilligen herbeizuführen, sagte der Bethel-Vorstandsvorsitzende Ulrich Pohl am 11. Januar in Bielefeld dem Evangelischen Pressedienst (epd). Namhafte evangelische Theologen, darunter der Präsident der Diakonie Deutschland, Ulrich Lilie, hatten in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" für die Möglichkeit einer professionell begleiteten Selbsttötung in diakonischen Einrichtungen plädiert.

"Das Leben wird abgebrochen"

Pohl bekundete in der aktuellen Debatte seine Unterstützung für die Haltung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), wonach jede organisierte Hilfe zum Suizid abzulehnen sei, die dazu beitrage, dass die Selbsttötung zur Option neben anderen werde. Der Bethel-Chef bekräftigte die Grundsatzposition der v. Bodelschwinghschen Stiftungen: Ein aktives Herbeiführen des Todes durch Mitarbeitende Bethels komme nicht infrage, auch wenn ein Betroffener dies wünsche.

Der Entschluss schwer kranker Menschen, ihrem Leben aktiv ein Ende setzen zu wollen, sei oft nicht allein ein Ergebnis freier Selbstbestimmung, erklärte Pohl. Solche Auffassungen würden nicht selten auch von Angehörigen mitgeprägt. Wenn Menschen aber in ihrem letzten Lebensabschnitt in einem Hospiz gut begleitet würden, lebten sie nicht selten noch einmal auf und könnten dann wirklich abschließen. "Bei einem Suizid dagegen wird das Leben nicht abgeschlossen, sondern abgebrochen, vieles bleibt ungesagt", sagte der Theologe.

Das Bundesverfassungsgericht hatte im Februar 2020 das Verbot organisierter - sogenannter geschäftsmäßiger - Hilfe bei der Selbsttötung gekippt. Die Karlsruher Richter erklärten das entsprechende Gesetz für nichtig und begründeten dies mit dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben, das auch Dritten die Assistenz beim Suizid erlaube. In dem am 11. Januar erschienenen Zeitungsartikel hatten neben Diakonie-Präsident Lilie auch die Theologen Rainer Anselm und Isolde Karle gefordert, interdisziplinäre Teams sollten in den kirchlich-diakonischen Einrichtungen dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben Geltung verschaffen.

Thomas Krüger


Medizinethik

Rekowski gegen Sterbehilfe in kirchlichen Einrichtungen




Manfred Rekowski
epd-bild/Hans-Jürgen Vollrath

Der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Manfred Rekowski, stellt sich gegen die Möglichkeit von Sterbehilfe in kirchlich-diakonischen Einrichtungen. Die Begleitung bis zum Lebensende schließe für Seelsorger die Beschaffung oder Verabreichung eines Mittels zur Selbsttötung "kategorisch aus", schreibt Rekowski am 13. Januar in seinem Präsesblog. Die Zusammenarbeit mit Vereinigungen, die organisiert oder gewerbsmäßig eine Förderung der Selbsttötung betreiben, sei "ebenfalls ausgeschlossen".

Hochrangige Vertreter der evangelischen Kirche hatten sich zuvor für die Möglichkeit von Sterbehilfe in kirchlich-diakonischen Einrichtungen ausgesprochen. Die Einrichtungen sollten eine bestmögliche medizinische und pflegerische Palliativversorgung sicherstellen, heißt es in einer von Diakonie-Präsident Ulrich Lilie und zwei weiteren Theologen unterzeichneten Stellungnahme. Zugleich dürften sie sich aber dem freiverantwortlichen Wunsch einer Person nicht verweigern, ihrem Leben mit ärztlicher Hilfe ein Ende zu setzen.

Sterbewunsch als letzter Ausweg

Rekowski schreibt: "In extremen Fällen, wenn auch die palliativmedizinischen Möglichkeiten einem Menschen nicht mehr als ausreichend hilfreich erscheinen und der Sterbewunsch als letzter Ausweg gesehen wird, stellt sich nicht die Frage, ob, sondern wie Kirche und Diakonie Menschen begleiten." Getragen von der Haltung, Leben bis zuletzt zu unterstützen, müsse Menschen, die eine Suizidabsicht äußern, mit Respekt und Sensibilität begegnet werden. Ziel kirchlich-diakonischer Arbeit sei, worauf Pfarrerinnen und Pfarrer im Ordinationsversprechen verpflichtet werden: "Hilf den Menschen im Glauben dankbar zu leben und getröstet zu sterben. Gib keinen verloren. Tritt für alle ein, die deinen Beistand brauchen."

Durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gilt in Deutschland wieder die Rechtslage von vor 2016, wonach Sterbehilfeorganisationen Suizidassistenz leisten dürfen. Ob der Bundestag noch in der laufenden, im September zu Ende gehenden Wahlperiode ein neues Gesetz beschließt, das ihnen zumindest konkrete Regeln dafür vorgibt oder Ärzten die Suizidassistenz erlaubt, ist bislang offen.

Nora Frerichmann


Sterbehilfe

Kirchen

INT

EKD-Ratsmitglied Kaufmann: "Assistierter Suizid ist kein Weg"




Dieter Kaufmann
epd-bild/Norbert Neetz

Der Theologe Dieter Kaufmann, Mitglied des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und ehemaliger Vorstandsvorsitzender der württembergischen Diakonie, warnt davor, Suizidassistenz in kirchlich-diakonischen Einrichtungen zuzulassen. Kaufmann sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd), er könne sich einem entsprechenden Vorschlag des Präsidenten der Diakonie Deutschland, Ulrich Lilie, nicht anschließen.

"Als Kirche sehen wir im Selbstbestimmungsrecht ein hohes Gut", sagte Kaufmann. Unterstützung für Menschen in der Sterbephase könnten etwa palliative Sedierung, Sterbefasten und andere palliative Begleitung sein. "Aber assistierter Suizid ist kein Weg, den wir in unseren kirchlich-diakonischen Einrichtungen unterstützen können", betonte Kaufmann. Selbstbestimmung im Sterben sei in anderen Formen möglich.

"Hoher Druck"

Aus christlicher Sicht sei "die Grundlinie der Schutz des Lebens, egal ob körperlich behindert oder psychisch krank oder alt". Es gebe durchaus ein Dilemma, nämlich eine für den Betroffenen existenzielle Not. Und dann stehe die Frage im Raum, wie man damit umgehen könne. Wenn kirchlich-diakonische Einrichtungen dann assistierten Suizid als Möglichkeit in Erwägung zögen, bestünde die Gefahr, "dass dieser Weg letztendlich zum gesellschaftlich akzeptierten Weg des Sterbens wird", sagte der Theologe, der im vergangenen Jahr als Vorstandsvorsitzender des Diakonischen Werkes der evangelischen Kirche in Württemberg in den Ruhestand gegangen ist. Es gebe "dahingehend manchmal einen hohen Druck, teilweise auch aus wirtschaftlichen Gründen".

Hochrangige evangelische Theologen - darunter auch Diakonie-Präsident Lilie - hatten sich in einer Stellungnahme für die Möglichkeit von Sterbehilfe in kirchlich-diakonischen Einrichtungen ausgesprochen. Die Einrichtungen sollten eine bestmögliche medizinische und pflegerische Palliativversorgung sicherstellen, heißt es darin. Zugleich dürften sie sich aber dem freiverantwortlichen Wunsch einer Person nicht verweigern, ihrem Leben mit ärztlicher Hilfe ein Ende zu setzen. Offiziell wird in der evangelischen sowie in der katholischen Kirche die Möglichkeit zur Suizidassistenz abgelehnt.

"Schutzkonzepte nötig"

Kaufmann sagte, Diakonie und Kirche sähen durchaus den Menschen in seiner Not, und es werde wohl auch Ausnahmen geben müssen, "die man klären muss". Assistierter Suizid habe aber nichts mit Selbstbestimmung zu tun, sondern resultiere aus empfundener Ausweglosigkeit. Deshalb braucht es aus seiner Sicht "verstärkt Informationen und vertiefte Beratung, und es sind Schutzkonzepte nötig".

Auslöser für die Debatte über Sterbehilfe ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem vergangenen Februar. Die Verfassungsrichter hatten den Klagen von Sterbehilfeorganisationen, Ärzten und Einzelpersonen Recht gegeben, die sich gegen das 2015 verabschiedete Verbot organisierter - sogenannter geschäftsmäßiger - Hilfe bei der Selbsttötung richteten. Die Karlsruher Richter erklärten das entsprechende Gesetz für nichtig und begründeten das mit dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben, das auch Dritten die Assistenz beim Suizid erlaube.

Susanne Müller


Medizinethik

Hessischer Diakoniechef für Möglichkeit einer Suizidassistenz




Carsten Tag
Diakonie Hessen/Arno F. Kehrer

Der hessische Diakoniechef Carsten Tag hat die Ermöglichung eines begleiteten Suizids in kirchlichen Einrichtungen befürwortet. Er stimme der neuen Position des Präsidenten der Diakonie Deutschland, Ulrich Lilie, und weiteren Theologen sowie führenden Vertretern der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zu, sagte Tag am 12. Januar in Frankfurt am Main dem Evangelischen Pressedienst (epd). Diese hatten in einem Gastbeitrag in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (Montag) dafür geworben, in eigenen Einrichtungen einen assistierten, professionellen Suizid zu ermöglichen. Offiziell lehnt die EKD die Sterbehilfe ab.

Ausgangspunkt der Kehrtwende der Autoren ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar vergangenen Jahres. Die Richter kippten dabei das Verbot organisierter Sterbehilfe und stellten das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben in den Mittelpunkt, das auch Dritten die Assistenz beim Suizid erlaube. Die Theologen übernahmen das Argument des Gerichts, Selbstbestimmung müsse auch im Sterben gelten. Die Diakonie müsse eine Alternative schaffen für den Fall, dass Menschen in ihrem Wunsch nach assistiertem Suizid auf möglicherweise eigennützig handelnde Organisationen auswichen. Die Einrichtungen sollten daher qualifizierte interdisziplinäre Teams für die Unterstützung zum Suizid zulassen, so die Autoren.

Kein "richtig" oder "falsch"

Der hessische Diakoniechef bejahte diese Argumentation und wies darauf hin, dass es für das ethische Dilemma zwischen dem Recht auf Selbstbestimmung bis in den Tod hinein und dem Respekt vor dem Leben als geschenktem Leben kein eindeutiges "richtig" oder "falsch" in christlicher Perspektive gebe, sondern nur Versuche der Annäherung. Die Gesellschaft müsse mehrere Handlungsoptionen zulassen, jeder Einzelne müsse Entscheidungen sorgfältig abwägen, sagte Tag.

Bedingung für die Zulassung eines assistierten Suizids in den Einrichtungen sei, dass Kirche und Diakonie "alles dazu beitragen, dass insbesondere schwerstkranken und sterbenden Menschen ein würdiges und weitgehend schmerzfreies Leben bis zum Schluss ermöglicht werden muss", erläuterte Tag. Des weiteren müssten die Einrichtungen "umfassende Beratungssysteme vorsehen, die helfen, eine solche irreversible Entscheidung verantwortungsvoll zu treffen", auch unter Einbeziehung der Angehörigen und Freunde. Schließlich müssten Kirche und Diakonie "eine Entwicklung verhindern, die dazu führen könnte, den Wert des Lebens eines Schwerstkranken herabzumindern oder es als Belastung anzusehen".



Medizinethik

Arzt: Assistierter Suizid in kirchlichen Krankenhäusern tabu



Der Braunschweiger Palliativmediziner Rainer Prönneke ist strikt dagegen, Menschen in kirchlich-diakonischen Einrichtungen einen medizinisch assistierten Suizid zu ermöglichen. Für evangelische Krankenhäuser halte er dies von ihrem Selbstverständnis her für ausgeschlossen, sagte der Chefarzt des Marienstifts in Braunschweig dem Evangelischen Pressedienst (epd). Dort gelte das Gebot, nicht töten zu dürfen. Einem Menschen mit dem Verabreichen eines Medikamentes im Suizid zu helfen, sei aber eine Tötung. "Ziel ist dabei der Tod, nicht eine Leidensverminderung mit Todesfolge."

Prönneke, der auch dem Vorstand des Deutschen Evangelischen Krankenhausverbandes (DEVK) angehört, stellt sich damit gegen die Position, mit der hochrangige Theologen in einem Beitrag in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" die Debatte um den assistierten Suizid neu entfacht hatten. Darin heißt es, kirchliche Einrichtungen sollten eine bestmögliche Palliativversorgung sicherstellen. Zugleich dürften sie sich aber dem freiverantwortlichen Wunsch einer Person nicht verweigern, ihrem Leben mit ärztlicher Hilfe ein Ende zu setzen.

Sanfter Übergang in den Tod

Auch er kenne Situationen, in den schwer kranke Menschen unerträglich gelitten hätten, räumte Prönneke ein. Doch die Palliativmedizin habe mit der Sedierung ein Mittel, um auch dann zu helfen. "Wir können einen Schlafzustand erzeugen und damit einen sanften Übergang in den Tod. Das ist Hilfe beim Sterben, nicht auf den Tod hin."

Der Palliativmediziner begrüßte allerdings, dass die Debatte nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar vergangenen Jahres jetzt wieder Fahrt aufnimmt. Die Richter kippten dabei das Verbot organisierter Sterbehilfe und stellten das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben in den Mittelpunkt, das auch Dritten die Assistenz beim Suizid erlaube. "Es ist wichtig, dass wir die Diskussion führen", sagte der Chefarzt der zur Evangelischen Stiftung Neuerkerode gehörenden Klinik. Dies gelte insbesondere unter Medizinern.

Selbstbestimmung eingeschränkt

Mit Berufung auf die Selbstbestimmung nähmen Menschen allerdings auch andere in die Pflicht. Es müsse ausgeschlossen bleiben, dass Mediziner oder Pflegepersonal dadurch unter Druck gerieten, sich an einer Selbsttötung zu beteiligen. "Der nächste Schritt zur aktiven Sterbehilfe wäre klein", mahnte Prönneke. Dann würden Grenzen überschritten. So würden in den Niederlanden bereits schwerbehinderte Neugeborene getötet.

Zum Thema Selbstbestimmung, erläuterte er: Menschen könnten sich nicht selbst erschaffen. In bestimmten Lebensphasen wie als Säugling oder Schwerkranke sei ihre Selbstbestimmung eingeschränkt. "Ob ein Mensch, der nicht mehr leben will, eigenständig oder fremdbestimmt handelt, ist beispielsweise bei Menschen mit psychischen Krankheiten nicht immer klar zu trennen." Es gebe darüber hinaus diejenigen, die etwa das Alter nicht aushalten wollten und damit eine Abhängigkeit und fehlende Perspektiven im Pflegeheim. Hier bestehe eine besondere Herausforderung für eine bessere Ausstattung der Altenhilfe.

Karen Miether


Medizinethik

Lilie: "Niemand von uns will den Tod organisieren"




Ulrich Lilie
epd-bild/Heike Lyding

Diakonie-Präsident Ulrich Lilie hat den von ihm mitgetragenen Vorstoß für die Möglichkeit von Suizidassistenz in kirchlichen Einrichtungen verteidigt. "Niemand von uns will den Tod organisieren", sagte Lilie dem Evangelischen Pressedienst (epd). Es gehe um einen Aufschlag "zu einer anstehenden, nachdenklichen und differenzierten Debatte über die Frage, wie wir respektvoll, wertegebunden und ergebnisoffen mit dem Willen von Betroffenen umgehen", sagte er.

Er verwahre sich "gegen Karikaturen unseres Anliegens, es gehe uns um ein geregeltes Angebot neben anderen oder einen Anspruch auf Sterbehilfe in unseren Einrichtungen", sagte er: "Selbstverständlich bleibt die Diakonie Anwältin des Lebens."

Neuregelung der Suizidassistenz

Am 11. Januar war in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ein Gastbeitrag erschienen, der sich für die Möglichkeit des assistierten Suizids in evangelischen Einrichtungen ausspricht. Zu den Autoren gehören neben Lilie der Theologe Reiner Anselm und die Theologin Isolde Karle sowie der hannoversche Landesbischof Ralf Meister, der Jurist Jacob Joussen und der Palliativmediziner Friedemann Nauck. Sie reagierten damit auf die Debatte um eine mögliche Neuregelung, nachdem das Bundesverfassungsgericht im vergangenen Jahr das Verbot organisierter Suizidassistenz etwa durch Sterbehilfeorganisationen gekippt hatte.

Das Urteil hatte auch in der Kirche für Diskussionen gesorgt. "Zu einer offenen Debatte innerhalb der Kirche gehört, dass auf solche grundlegenden Fragen nicht zu schnell der Deckel draufgelegt wird", sagte Lilie. Nach seinen Worten gehen die Gespräche mit dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) aktuell weiter. "Meiner Meinung nach kommen wir mit der bloßen Wiederholung der Argumente aus der Gesetzesdebatte von 2015 nun nicht wirklich weiter", sagte der Diakoniepräsident. Die EKD hatte in Reaktion auf den Gastbeitrag ihre Position betont, wonach sie organisierte Hilfe bei der Selbsttötung ablehnt.

"Jede Haltung hat ihren ethischen Preis"

"Wir müssen das christliche Verständnis des Tötungsverbots und des Lebens als Gabe Gottes zusammen mit der grundlegenden Wertschätzung der Würde und Selbstbestimmung des Menschen neu bedenken", sagte Lilie. Diese Wertschätzung habe in der evangelischen Ethik auch einen hohen Wert. Jede Haltung, die man bei dem Thema einnehme, habe einen "ethischen Preis". "Wo wir sagen, wir tun das nicht, überlassen wir verzweifelte Menschen in diesen Lebensphasen anderen Akteuren, zum Beispiel Sterbehilfeorganisationen", gab der Theologe zu bedenken.

Lilie betonte, dass sich die Autoren des Beitrags einig darin seien, dass sich eine Öffnung für die Möglichkeit der Suizidassistenz oder die Begleitung von Menschen beim assistierten Suizid "ausschließlich auf die Menschen bezieht, die am Ende einer schweren Erkrankung sind, die keine Aussicht auf Besserung haben und am Ende eines langen Lebens stehen". Das sei gerade keine vorwegnehmende oder kritiklose bloße Übernahme eines höchstrichterlichen Urteils.

Corinna Buschow



sozial-Politik

Corona

Kita-Eltern im Dilemma




Warnhinweis am Eingang einer Kita
epd-bild/Jörn Neumann
Kitas fühlen sich in der Corona-Krise von der Politik im Stich gelassen. Eltern können ihre Kinder trotz Infektionsgefahr in die Betreuung schicken. Covid-19-Tests für das Personal oder Investitionen in Luftentkeimungsgeräte - weitgehend Fehlanzeige.

Dem Coronavirus möglichst zu entwischen, dem gilt gerade die Hauptsorge der meisten Bürger. "Doch wie sollen wir das tun?", fragt Eva Mors (Name geändert). Die Kita-Leiterin aus Unterfranken ist empört, dass Bayern im aktuellen Lockdown so lax mit dem Kita-Personal umgeht: "An Eltern wird lediglich appelliert, dass sie ihre Kinder zu Hause lassen sollen." Doch jede Mutter, die denkt, die Kita sei für ihr Kind nötig, darf die Notbetreuung in Anspruch nehmen: "Damit sind die Kitas letztlich offen für alle."

Angst vor einer Infektion

Das missfällt Eva Mors im höchsten Grade. Und zwar vor allem deshalb, weil die 49-jährige Pädagogin, die sich aus Furcht vor beruflichen Nachteilen nicht namentlich äußern möchte, sicher ist, dass auch Kinder das Coronavirus übertragen können. Das habe sie an ihrem eigenen Sohn erlebt: "Der hat sich während seines Praktikums in einer Kita infiziert." Sonst habe er in dieser Zeit kaum Kontakte gehabt. Daher deute alles darauf hin, dass er von einem an Covid-19 erkrankten Kind angesteckt worden war. Doch nicht nur die Angst vor einer Infektion setzt Eva Mors unter Stress. Es sei nahezu unmöglich, sagt sie, die Corona-Auflagen mit dem vorhandenen Personal zu erfüllen.

Der Begriff "Notbetreuung" sorgt nach Mors' Ansicht für illusionäre Vorstellungen über das, was aktuell in Kitas abgeht. Mehr als die Hälfte der Eltern werden ihre Kinder im zweiten Lockdown bringen, schätzt die Pädagogin. Ein Kollege von ihr bestätigt dies: "Schon nach wenigen Tagen wurden in unserer Kita 32 von 80 Kindern für die Notbetreuung angemeldet." Mit weiteren Kindern sei zu rechnen. Betreut wird dabei in kleinen Gruppen. Dafür bräuchte es viel mehr Personal. "Vor 8 Uhr und nach 15 Uhr wurden die Kinder bei uns bisher gruppenübergreifend betreut, das geht nun nicht mehr." Die durchgehende Betreuung in kleinen Gruppen mache Überstunden nötig.

Nach Angaben des bayerischen Familienministeriums kann die Notbetreuung von allen Eltern in Anspruch genommen werden, die "die Betreuung nicht auf andere Weise sicherstellen können". Das, sagt Eva Mors, "ist Larifari". Dieses "Larifari" in Form von Eltern-Appellen gibt es laut Björn Köhler von der GEW in mehreren Bundesländern. In Berlin reiche es, wenn Eltern angeben, dass sie auf die Betreuung wegen Berufstätigkeit angewiesen sind: "Ein Nachweis ist nicht erforderlich." In Baden-Württemberg genüge eine einfache Arbeitgeberbescheinigung. Die GEW geht deshalb davon aus, dass in einigen Kitas bis zu 90 Prozent der Kinder anwesend sein werden.

"Familien müssten stärker entlastet werden"

Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sollten offengehalten werden, wo immer das pandemiebedingt möglich ist, wünscht sich Christine Kuhn von der Würzburger Fachakademie für Sozialpädagogik St. Hildegard. In vielen Familien sei das private Betreuungsnetzwerk zusammengebrochen, selbst Großeltern fallen weitgehend aus. Studien zeigten, dass diese Situation besonders hart jene Familien betrifft, die bereits vor der Pandemie belastet waren. "Das sind Familien aus prekären Verhältnissen, Alleinerziehende, Familien mit mehreren Kindern sowie solche mit psychisch erkrankten Eltern", erläutert Kuhn.

Die Münsteraner Expertin für Sozialpädagogik, Karin Böllert, bestätigt, dass Kita-Schließungen Kinder mit ohnehin schlechteren Startchancen besonders hart treffen: "Sie drohen durch die Pandemie, dauerhaft abgehängt zu werden." Familien müssten prinzipiell stärker entlastet werden, sagt die Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe. Böllert fordert, die Anzahl der bezahlten Urlaubstage für berufstätige Eltern deutlich zu erhöhen. Außerdem müssten Familien, die auf das bezuschusste Mittagessen in Kitas angewiesen sind, ihr Kind auch im Lockdown günstig verpflegen können.

Freie Räume in Museen und Bibliotheken

Dass Bund, Länder und Kommunen in Sachen "Kita" an einem Strang ziehen, wünscht sich Waltraud Weegmann, Vorsitzende des Deutschen Kitaverbandes: "Wir fordern eine einheitliche Regelung mit abgestuften Maßnahmen je nach Inzidenz und R-Faktor." Was politisch aktuell geschieht, bezeichnet der Kita-Verband als "Blindflug". "Es wurden bisher weder die Herausforderungen bei der personellen Ausstattung der Einrichtungen in Angriff genommen, noch wurden Testkapazitäten zur Verfügung gestellt", kritisiert Weegmann. Ebenso wenig sei in Technik oder Bauliches investiert worden: "Zum Beispiel, was den Einsatz von Luftentkeimungsgeräten anbelangt."

Familien geraten durch den Lockdown in ein großes Dilemma. Sollen sie den Appellen folgen und ihr Kind daheimlassen, um es vor dem Virus zu schützen und das Kita-Personal zu entlasten? Oder wäre es für ihr Kind besser, in die Kita zu gehen? "Eltern werden alleine gelassen mit der Frage, wie sie den Lockdown bewältigen können", sagt Erziehungsberater Bernhard Bopp von der Caritas im baden-württembergischen Tauberkreis.

Es wäre wichtig, auf der Landesebene zu regeln, wie mehr Platz für Kinderbetreuung geschaffen werden könnte, um die Notbetreuung bald zu beenden, sagt Frank Jansen, Geschäftsführer des Verbands Katholischer Tageseinrichtungen für Kinder (KTK). Jansen denkt zum Beispiel an freie Räume in Museen und Bibliotheken.

Pat Christ


Corona

Hintergrund

Entschädigung für Eltern, deren Kinder zu Hause bleiben müssen



Im Zuge des Corona-Lockdowns und der damit verbundenen Schließung von Kitas und Schulen haben viele Eltern das Problem, die Betreuung ihrer Kinder sicherzustellen. Wer keine andere Möglichkeit hat, muss seine Kinder selbst betreuen. Ein Überblick über Ersatzleistungen für Eltern.

Eltern haben nach einem Beschluss der Bundesregierung einen Anspruch auf Entschädigung, wenn aus Gründen des Infektionsschutzes Betriebs- oder Schulferien angeordnet oder verlängert werden, die Kita geschlossen ist oder die Präsenzpflicht in der Schule ausgesetzt wird. Voraussetzung für die Entschädigung ist, dass die Eltern für ihre unter 13-jährigen Kinder keine anderweitige - zumutbare - Betreuungsmöglichkeit sicherstellen können, etwa durch die Großeltern, befreundete Familien oder eine Notbetreuung im Kindergarten.

Maximal 2.016 Euro Lohnersatz

Doch was bedeutet "zumutbar"? Wenn es für die Kinder eine Notbetreuung im Hort oder in der Kita gibt, können Eltern arbeiten gehen. Gehen die Kinder aber in die Kita, haben sie wieder mehr Kontakte und tragen so möglicherweise das Coronavirus in die Familie. Dennoch gilt: Eltern, die die Betreuungsmöglichkeit nicht in Anspruch nehmen und der Arbeit deshalb fernbleiben, können nicht auf finanzielle Entschädigung hoffen.

Bei fehlender Betreuungsmöglichkeit sind anspruchsberechtigt: Sorgeberechtigte von Kindern, die das zwölfte Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder die behindert und hilfebedürftig sind. Den betroffenen Eltern wird ein Teil des entstehenden Verdienstausfalls ausgeglichen: Sie haben Anspruch auf Entschädigung in Höhe von 67 Prozent des Nettolohns, maximal jedoch von 2.016 Euro monatlich.

Der Anspruch gilt für insgesamt 20 Wochen - für jedes Kind jeweils zehn Wochen für beide Elterteile, beziehungsweise 20 Wochen für Alleinerziehende, wenn das Kind unter zwölf Jahre alt ist. Der Maximalzeitraum von zehn beziehungsweise 20 Wochen kann über mehrere Monate verteilt werden.

Zusätzlich Kinderkrankengeld

Außerdem wird das Kinderkrankengeld ausgeweitet: Es wird in diesem Jahr für zehn zusätzliche Tage pro Elternteil (20 zusätzliche Tage für Alleinerziehende) gewährt - und zwar rückwirkend zum 5. Januar. Damit werden die Tage verdoppelt. Die Lohnersatzleistung für den Krankheitsfall eines Kindes liegt in der Regel bei 90 Prozent des ausgefallenen Nettogehalts, die Höchstgrenze für das Kinderkrankentagegeld beträgt 112,88 Euro pro Tag.

Der Anspruch soll nach einem am 14. Januar vom Bundestag verabschiedeten Gesetz auch für die Fälle gelten, in denen eine Betreuung des Kindes zu Hause erforderlich wird, weil beispielsweise die Schule oder der Kindergarten geschlossen ist, der Zugang zum Kinderbetreuungsangebot eingeschränkt wurde oder sich das Kind aufgrund von Corona in Quarantäne befindet. Das Kinderkrankengeld kann grundsätzlich auch von Eltern in Anspruch genommen werden, die derzeit im Homeoffice tätig sind. Anspruchsberechtigt sind nur gesetzlich krankenversicherte Eltern.

Zur Finanzierung des ausgeweiteten Anspruchs soll der Gesundheitsfonds einen zusätzlichen Bundeszuschuss in Höhe von 300 Millionen Euro bekommen. Wie viel die Maßnahme kostet, hängt davon ab, wie viele Familien davon Gebrauch machen. Das Bundesgesundheitsministerium rechnet mit Kosten von bis zu einer halben Milliarde Euro.

Homeoffice: "Da geht deutlich mehr"

Ein Teil der Eltern, die derzeit im Homeoffice arbeitet, können Beruf und Familie relativ gut in Einklang bringen. Einen Rechtsanspruch auf Arbeit zu Hause gibt es nicht, aber Arbeitgeber können dies gestatten und unterstützen. Wie gut die Berufstätigkeit neben der Kinderbetreuung gelingt, ist individuell unterschiedlich. Hier spielt insbesondere eine Rolle, ob sich der oder die Beschäftigte zur beruflichen Arbeit in der eigenen Wohnung ausreichend zurückziehen kann. Bei sehr kleinen Kindern oder sehr kleinen Wohnungen ist dies kaum möglich.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sagte am 12. Januar, die Erwartungshaltung gegenüber den Betrieben sei ganz klar: "Jetzt geht es darum, dieses klare Signal zu setzen an die deutsche Wirtschaft, an die Unternehmen: Lasst, wo immer es geht, die Leute von zu Hause arbeiten." Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sagte: "Auf jeden Fall geht da noch mehr, und zwar deutlich mehr." Er schlug vor zu überlegen, wie Homeoffice steuerlich stärker gefördert werden kann, "damit ein Anreiz für die Arbeitgeber besteht".

Die Grünen fordern ein Recht auf Homeoffice für Arbeitnehmer, das mit Bußgeldern für uneinsichtige Firmen durchgesetzt werden soll. "Wir brauchen eine Corona-Arbeitsschutzverordnung, die Unternehmen verpflichtet, überall dort, wo es möglich ist, Homeoffice jetzt auch anzubieten", sagte die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Katrin Göring-Eckardt.

Markus Jantzer


Corona

Psychologin: Schulen müssen sich viel mehr um Kinder kümmern



Im Lockdown der kommenden Wochen müssen sich nach Ansicht der Marburger Psychologin Hanna Christiansen Schulen und Betreuungseinrichtungen viel stärker als bisher um die Kinder und Jugendlichen kümmern. Es reiche für den Online-Unterricht nicht aus, einfach Lernaufgaben auf Plattformen zu stellen, sagte Christiansen dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Lehrkräfte müssen kreative Lösungen entwickeln, um die soziale Funktion von Schule zu ermöglichen."

Größtes Problem für die Kinder und Jugendlichen sei, dass mit der weitgehenden Schließung von Schulen und Kitas eine strukturierte Beschäftigung und Kontakte wegfielen. In Ländern wie Dänemark, Kanada oder den USA habe sich in der Corona-Krise lediglich die Form des Unterrichts geändert, nicht aber der Unterricht als solcher. Er beginne dort vielfach wie vor der Pandemie für alle Lehrkräfte und Schüler um acht Uhr, nur eben online. In Deutschland würden die Kinder aber häufig mit den Aufgaben alleingelassen.

Regelmäßige Tagesstrukturen

"Die Schulen hatten jetzt acht Monate Zeit sich umzustellen", kritisierte die Professorin für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Universität Marburg. "Es ist ein Skandal, dass das nicht passiert ist." Lehrer könnten beispielsweise Lerngruppen aus schwächeren und stärkeren Schülern bilden und die Kommunikation der Jugendlichen untereinander fördern.

Ursache ist ihrer Auffassung nach die verschleppte Digitalisierung. Stabile Internetverbindungen fehlten, Kultusministerien hätten die Modernisierung verschlafen. Statt Milliardensummen für Konzerne wie die Lufthansa auszugeben, müsse jetzt in die Zukunft der Kinder investiert und Schüler mit Computern und Laptops ausgestattet werden.

Die Wissenschaftlerin rät den Eltern, im Lockdown regelmäßige Tagesstrukturen beizubehalten. Das familiäre Zusammenleben könne wie in einer studentischen Wohngemeinschaft organisiert werden, mit Freiräumen und Pflichten. Eltern im Homeoffice sollten sich bei der Kinderbetreuung abwechseln. Bei jüngeren Kindern eigne es sich am besten, den Tag an den Schlafrhythmus der Kleinen anzupassen und "Ruhezeiten geschickt zu nutzen". Die Psychologin empfahl, den Lockdown als kreative Pause zu nutzen und die Kinder anzuregen, neue Sachen auszuprobieren.

Stefanie Walter


Corona

Spahn: Das Vertrauen in die Impfstoffe ist entscheidend




Eine Fachkraft zieht den Corona-Impfstoff auf.
epd-bild/Matthias Rietschel
Mit seinem Vorstoß für eine Corona-Impfpflicht von Pflegekräften kommt der bayerische Ministerpräsident Söder nicht gut an. Das zeigt sich auch im Bundestag bei einer Debatte über die Ende Dezember angelaufene Impfkampagne.

Im Bundestag hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am 13. Januar Anlaufschwierigkeiten bei der Impfkampagne gegen das Coronavirus eingeräumt und zugleich das europäische Vorgehen bei der Beschaffung von Impfstoffen verteidigt. Entscheidend für eine erfolgreiche Bekämpfung des Virus sei das Vertrauen der Bevölkerung in diese Impfstoffe, damit sich möglichst viele Menschen impfen ließen, sagte Spahn. In der anschließenden Debatte spielte auch die Auseinandersetzung um eine Impfpflicht für Pflegekräfte, die der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) ausgelöst hatte, eine Rolle.

Ausweg aus der Pandemie

Spahn sagte, das gemeinsame Handeln Europas liege auch im deutschen Interesse. Kein Land könne das Virus allein besiegen. Die in ganz Europa angelaufenen Impfungen eröffneten den Ausweg aus der Pandemie. In Deutschland seien bereits 750.000 Menschen geimpft worden, sagte Spahn. Er dankte den Pflegekräften, die sich impfen lassen und betonte seine Hoffnung auf eine Steigerung der Impfbereitschaft in der Bevölkerung. Damit wandte er sich indirekt erneut gegen eine Impfpflicht, wie er es am Morgen bereits in einem Interview mit dem Deutschlandfunk klargestellt hatte.

Natürlich ruckele es am Beginn der größten Impfkampagne in der Geschichte, räumte Spahn ein. Manches hätte schneller gehen können. Doch es sei immer klar gewesen, dass es zu Beginn an Impfstoff mangeln werde. Grund dafür seien mangelnde Produktionskapazitäten und nicht fehlende Verträge, sagte Spahn und reagierte damit auf Kritik auch vom Koalitionspartner SPD.

Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller (SPD), stellte in der auf Spahns Regierungserklärung folgenden Bundestagsdebatte klar, die SPD stehe voll und ganz hinter einem europäischen Vorgehen bei der Beschaffung und Verteilung von Impfstoffen. Die Bundesländer, die sich auf die Durchführung der Impfungen gut vorbereitet hätten, müssten aber wissen, wann welche Lieferung komme. Wenn kein Impfstoff da sei, funktioniere auch kein Einladungssystem für die Impftermine, sagte Müller.

"Debatte über Impfpflicht hilft nicht weiter"

Die Debatte um eine Impfpflicht sei hingegen "eine Nebendebatte, die nicht weiterhilft", erklärte Müller. Beschäftigte im Gesundheitswesen sollten sich nur aus Überzeugung impfen lassen, nicht weil sie dazu gezwungen würden. Auch Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) und Ärztepräsident Klaus Reinhardt hatten sich gegen eine Corona-Impflicht für Pflegekräfte ausgesprochen. Lambrecht sagte, wenn die Menschen von der Sicherheit und Wirksamkeit der Impfung überzeugt seien, würden sich die Allermeisten auch impfen lassen. Reinhardt sagte, wenn es keine allgemeine Impfpflicht gebe, müsse das auch für die Beschäftigten im Gesundheitswesen gelten.

Die pflegepolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Kordula Schulz-Asche, wandte sich gegen Söders Vorstoß und sagte im Bundestag, statt die völlig überlasteten Pflegekräfte für ihre angebliche Impfskepsis zu beschimpfen, müsse zunächst beobachtet werden, wie die Impfungen beim Personal des Gesundheitswesen verliefen. Die für den Bereich Gesundheit zuständige stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Bärbel Bas nannte Söders Vorstoß "katastrophal". Der bayerische Ministerpräsident stelle eine ganze Berufsgruppe unter Verdacht, kritisierte sie.

In Deutschland wird seit Ende Dezember gegen Corona geimpft. Zum Impfstart wurde Kritik an der Bundesregierung wegen zunächst knapper Dosen und an den Ländern für deren Impforganisation laut. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums stehen im ersten Quartal voraussichtlich elf Millionen Dosen des Biontech- und zwei Millionen Dosen des Moderna-Impfstoffs in Deutschland zur Verfügung. Diese beiden Vakzine haben bislang eine EU-Zulassung erhalten. Im Verlauf des Jahres sollen so viele Dosen geliefert werden, dass jeder in Deutschland geimpft werden kann.

Bettina Markmeyer


Corona

Forscher: Ausländische Haushaltshilfen vorrangig impfen




Niklas Harder
epd-bild/Rasmus Tanck/DeZIM
Die Impfstrategie der Bundesregierung stößt zwar weitgehend auf Zustimmung. Aber es gibt auch Kritik, bestimmte Gruppen bei der Priorisierung nicht angemessen berücksichtigt zu haben. Etwa die ausländischen Hilfen für Seniorenhaushalte: Sie müssten als enge Kontaktpersonen Hochaltriger schneller geimpft werden, fordert der Migrationsforscher Niklas Harder im Interview.

Niklas Harder ist Co-Leiter der Abteilung Integration am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) in Berlin. Im Projekt "Häusliche Pflege in Zeiten der Pandemie" wird dort aktuell die Rolle der osteuropäischen Frauen bei der Betreuung von Seniorinnen und Senioren hierzulande untersucht. Dass diese Gruppe trotz enger Kontakte zur Hochrisikogruppe nicht an erster Stelle geimpft wird, rügt der Forscher. Zumal viele der betreuenden Frauen selbst schon über 60 Jahre alt sind. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Herr Harder, Ihr Institut hat das Forschungsprojekt "Häusliche Pflege in Zeiten der Pandemie" aufgelegt. Was sind die zentralen Erkenntnisse mit Blick auf die Impfstrategie der Bundesregierung?

Niklas Harder: Zunächst mal ein Blick auf die Zahlen, zum besseren Verständnis der Zusammenhänge. Schätzungen gehen davon aus, dass etwa 70 Prozent der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland in den eigenen vier Wänden betreut werden. In vielen Fällen passiert das mit Hilfe von ausländischen Betreuerinnen, die oft aus Osteuropa stammen. Die pendeln häufig. Das heißt, sie arbeiten mehrere Wochen in Deutschland und wechseln diesen Einsatz dann mit mehrwöchigen Ruhepausen im Heimatland ab. Ein nicht unerheblicher Teil der Risikogruppe hierzulande wird durch solche Betreuerinnen aus dem Ausland gepflegt. Um sie wirksam zu schützen, müssen auch die Betreuerinnen in der Impfstrategie berücksichtigt werden. Das ist bislang nicht der Fall.

epd: Was genau untersuchen Sie?

Harder: In unserem Projekt haben wir insbesondere Frauen aus Polen zu ihren Arbeitsumständen befragt. Dabei haben wir festgestellt, dass dieses grenzüberschreitende Betreuungssystem auch während der andauernden Pandemie weiter funktionierte. Das trifft sogar für den Zeitraum zu, in dem Grenzen zwischen Deutschland und Polen geschlossen waren. Die Nachfrage nach Betreuerinnen für die häusliche Pflege ist in Deutschland während der Pandemie sogar noch gestiegen. Denn manche Pflegeheime nahmen während des Lockdowns keine neuen Pflegebedürftigen mehr auf. Andererseits fürchteten manche Menschen auch, sie könnten ihre Angehörigen nicht mehr besuchen, wenn diese ins Heim kämen. Manche Agenturen warben deshalb während der Pandemie sogar im polnischen Fernsehen oder gewährten Sonderzahlungen, um neue Pflegekräfte zu gewinnen.

epd: Hochbetagte Senioren sollen zwar zuerst geimpft werden, sind aber oft auch mit Begleitung nicht in der Lage, ein Impfzentrum aufzusuchen. Was sagen Sie zu dem Problem?

Harder: Als medizinische Laien können wir die medizinische Seite des Problems nicht beurteilen. Aber wenn die größte Gefahr für immobile Hochbetagte von ihren direkten Kontaktpersonen ausgeht, dann müssen natürlich auch diese in der Impfstrategie berücksichtigt werden. Und wenn diese Menschen durch ausländische Hilfskräfte betreut werden, sollten auch diese geimpft werden.

epd: Was ist zur Priorität der Haushaltshilfen zu sagen?

Harder: Viele der daheim lebenden Senioren werden von Frauen betreut, die oft auch schon älter als 60 Jahre sind. Zu den primären Risikogruppen zählen sie damit zwar nicht. Aber wäre es nicht nahe liegend, auch diese Personen als mögliche Infektionsüberträger schneller als bisher vorgesehen zu impfen? Ziel der Impfstrategie ist es doch, die Risikogruppen wirksam zu schützen, indem sie, deren Angehörige und ihre Kontaktpersonen geimpft werden. Also auch die Haushaltshilfen.

epd: Was für Infektionsdaten aus diesem Bereich haben Sie?

Harder: Wir haben eine Online-Umfrage gemacht. Von den 100 Betreuerinnen, die wir bislang befragen konnten, gaben drei an, sie hätten sich mit dem Coronavirus infiziert. Prozentual gesehen liegt der Anteil der Infizierten in dieser Gruppe damit über dem Durchschnitt in der deutschen Bevölkerung.

epd: Alles schaut derzeit zunächst auf die Hochbetagten in den Pflegeeinrichtungen. Aber 70 Prozent der Pflegebedürftigen werden in den eigenen vier Wänden betreut. Bis die alle geimpft sind, werden Wochen, wenn nicht gar Monate vergehen. Ist das gerechtfertigt?

Harder: Die Bundesregierung musste im Rahmen ihrer Impfstrategie viele Gesichtspunkte berücksichtigen, das Thema ist hochkomplex. Wir maßen uns nicht an, es besser zu wissen. Wir möchten nur darauf aufmerksam machen, dass derzeit viele Menschen, die einer der Risikogruppen angehören, in ihren eigenen vier Wänden von ausländischen Betreuerinnen versorgt werden. Und denen wird eine niedrigere Impfpriorität zugestanden als der allgemeinen Bevölkerung, die über 60 Jahre alt ist.



Corona

Warn-App: "Ein Überwachungsstaat ist nicht die Lösung"




Marit Hansen
epd-bild/Markus Hansen/ULD
Deutschland sollte sich nach Ansicht der Landesbeauftragten für Datenschutz Schleswig Holstein, Marit Hansen, trotz der weiter hohen Infektionszahlen kein Beispiel an den asiatischen Corona-Warn-Apps nehmen. Auch lehnt sie es ab, die Menschen zu verpflichten, ihr Ergebnis einzutragen.

In der Corona-Krise gibt es Kritik an der vermeintlich wirkungslosen Corona-Warn-App. Sie nach dem Beispiel asiatischer Länder umzugestalten, wäre aber falsch, sagt Marit Hansen, Diplom-Informatikerin und Landesbeauftragte für Datenschutz Schleswig-Holstein, im Interview. Mit ihr sprach Jana-Sophie Brüntjen.

epd sozial: Derzeit erfasst die Corona-Warn-App ungefähr zehn Prozent aller Infektionen, heruntergeladen wurde sie nach den jüngsten RKI-Zahlen rund 24 Millionen Mal, etwas mehr als die Hälfte der infizierten Nutzerinnen und Nutzer hat ihr Testergebnis geteilt. Ist das ein Erfolg?

Marit Hansen: Ob das ein Erfolg ist oder nicht, mögen Politiker oder die Regierung besser beurteilen. Ich schaue aus Sicht des Datenschutzes auf die App und freue mich, dass dieser ziemlich ernst genommen wurde. Außerdem haben uns die Virologen beigebracht, dass die Schutzmaßnahmen nach dem Modell eines Schweizer Käses funktionieren: Jede einzelne Maßnahme – auch die App – weist wie eine Käsescheibe Löcher auf, aber zusammengenommen können sie einen angemessenen Schutz bieten.

epd: Unter den Kritikerinnen und Kritikern der App werden Stimmen laut, die fordern, sich bei der Warn-App ein Beispiel an asiatischen Ländern zu nehmen, da deren Anwendungen wesentlich erfolgreicher seien. Was halten Sie davon?

Hansen: Wir als Datenschützer erwarten geeignete und verhältnismäßige Maßnahmen. Dabei schauen wir nicht nur auf die beabsichtigten Folgen der App wie eine bessere Kontaktnachverfolgung, sondern auch auf die Risiken. Ein Beispiel dafür wären Datenbanken des Staates, aus denen hervorgeht, wer sich mit wem trifft.

epd: In Südkorea werden zum Beispiel auch der Ort und der Zeitpunkt erfasst, an dem man sich angesteckt haben könnte ...

Hansen: Da stellt sich die Frage, ob es angemessen und erforderlich ist, diese Daten zu erfassen. Ich würde sagen: Nein. Im Grunde ist es irrelevant, ob ich mich in der Schlange im Supermarkt oder im Bus angesteckt habe. Das zu erheben, würde nur weitere Datenspuren hinterlassen und man würde so potenzielle Nutzerinnen und Nutzer verlieren.

epd: Und wenn es wie im asiatischen Raum verpflichtend wäre, ein positives Testergebnis in der App einzugeben?

Hansen: Wie sollte man das kontrollieren? Erst einmal könnten die Menschen einfach angeben, dass sie die App nicht haben, die ist schließlich freiwillig. Und es ist ja auch nicht verpflichtend, immer ein Smartphone dabeizuhaben.

epd: Wäre es nicht angesichts der aktuellen Situation angebracht, etwas Datenschutz für den Gesundheitsschutz zu opfern?

Hansen: Es wird immer wieder gesagt, der Datenschutz verhindere eine sinnvolle Funktionalität der App. Bislang habe ich für diese Aussage keine fundierten Argumente gehört. Der Staat sollte aus meiner Sicht auf vertrauensbildende Maßnahmen setzen statt Zusicherungen auszuhöhlen. Ein Überwachungsstaat ist nicht die Lösung.

epd: Weil dann die Bereitschaft sinkt, die App überhaupt zu benutzen?

Hansen: Genau! Als die Polizei damals zur Strafverfolgung Zugriff auf die zweckgebundenen Kontaktdaten aus der Gastronomie haben wollte, hat das nach meinem Eindruck auch eigentlich gutwillige Bürgerinnen und Bürger so sehr verunsichert, dass einige nicht mehr in die Restaurants gegangen sind oder sogar falsche Daten angegeben haben.

epd: Ein weiterer Vorschlag ist, dass die Daten aus der App automatisch ans Gesundheitsamt weitergeleitet werden ...

Hansen: Da spricht datenschutzrechtlich nichts dagegen. In den Gesundheitsämtern läuft die Kommunikation allerdings größtenteils nicht digital ab – oder ist, wenn sie digital ist, nicht vernünftig nach dem Stand der Technik abgesichert. Das liegt aber nicht am Datenschutz, ganz im Gegenteil. Ein vernünftig abgesicherter digitaler Datenaustausch wäre zu begrüßen. Solange hier noch Probleme bestehen, wird eine Übermittlung per App keinen Nutzen bringen.

epd: Ist es nicht ein Widerspruch, dass Menschen ihre Daten bereitwillig an Social-Media-Riesen geben und bei der Corona-Warn-App so misstrauisch sind?

Hansen: Zwischen dem Staat und den Plattformbetreibern gibt es ein paar Unterschiede. Facebook ist zum Beispiel weit weg, und die Nutzer haben das Gefühl, dass sie selbst entscheiden, was sie von sich preisgeben. Wenn der Staat hingegen Daten sammelt, wird das viel mehr als Fremdbestimmung wahrgenommen. Obwohl ich persönlich in puncto Datenschutz Facebook weniger vertrauen würde als der Regierung.

epd: Was gäbe es für Möglichkeiten, das Vertrauen in die App durch mehr Datenschutz zu erhöhen?

Hansen: Bisher ist die offizielle Android-Version der App auf die Google-Dienste angewiesen und steht nur über den Google Store zur Verfügung. Das ist mit einer Datenweitergabe an den Konzern verbunden. Wer argumentiert, dass Android-Nutzende das eben in Kauf nehmen müssen, liegt nicht ganz richtig. Es gibt nämlich den alternativen App Store F-Droid. Außerdem ist nicht verständlich, warum bei Google-Handys die Standortübertragung angeschaltet werden muss, damit die App funktioniert.



Familie

Lesbisches Ehepaar will gemeinsame Mutterschaft erstreiten




Das Ehepaar Gesa Teichert-Akkermann (li.) und Verena Akkermann mit Tochter Paula
epd-bild/Nancy Heusel
Paula ist ein Wirbelwind. Ihre beiden Mamas freuen sich über jeden Entwicklungsschritt der fast Einjährigen. Dass die eine rechtlich gar nicht Paulas Mutter ist, finden sie diskriminierend - und klagen. Vor dem Oberlandesgericht Celle.

Paula wird bald ein Jahr alt. Dass ihre Mama Verena Akkermann rechtlich gar nicht ihre Mama ist, kann sie noch nicht verstehen. Verena Akkermann und ihre Ehefrau Gesa Teichert-Akkermann aus Schellerten bei Hildesheim wussten schon vor der Geburt, dass sie beide von Anfang an in Paulas Geburtsurkunde als gleichberechtigte Mütter aufgenommen werden wollten. Doch das ist in Deutschland trotz der "Ehe für alle" bislang nicht möglich. Also klagte das lesbische Ehepaar - und verlor in erster Instanz. Nun geht der Kampf in die nächste Runde vor das Oberlandesgericht Celle. Das Gericht will sein Urteil nach eigenen Angaben bis Anfang Februar verkünden.

Adoption als Stiefkind

Die Akkermanns waren vor rund einem Jahr die ersten in Deutschland, die den Klageweg wählten. Bei lesbischen Elternpaaren muss die zweite Mutter vor einem Familiengericht beantragen, das Kind als Stiefkind zu adoptieren. Die Bearbeitung einschließlich Besuchen durch das Jugendamt dauert oft mehrere Monate, manchmal Jahre.

Das finden die Akkermanns diskriminierend. "Paula hat bereits zwei Mamas", sagt Gesa Teichert-Akkermann. Sie seien miteinander verheiratet und hätten sich gemeinsam für das Kind entschieden, sagt Teichert-Akkermann, die Paula per Notkaiserschnitt zur Welt gebracht hat. Alles andere als die Anerkennung der gemeinsamen Mutterschaft käme ihnen unsinnig vor: "Wir lassen uns nicht beirren und streiten weiter für das Recht unserer Tochter auf zwei Eltern und auf unser Recht als Regenbogenfamilie mit zwei Müttern", schreiben sie in einem Brief an ihre Unterstützerinnen.

Mittlerweile ist aus der Initiative der Akkermanns eine Bewegung entstanden, die sich unter dem Hashtag #nodoption und auf der Webseite www.nodoption.de organisiert hat. Rund 30 weitere sogenannte Regenbogenfamilien haben Klage eingereicht. Dazu zählen auch Paare, bei denen der zweite Elternteil keinen Geschlechtseintrag oder einen divers-Eintrag hat. Zudem werden Gesa Teichert-Akkermann und Verena Akkermann von der Berliner Anwältin Lucy Chebout und der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) unterstützt.

Ein Schatten auf ihrem Leben

Sie alle wollen langfristig eine Gesetzesänderung erreichen. Das deutsche Abstammungsrecht stamme aus einer Zeit vor der "Ehe für alle" und vor der Einführung des dritten Geschlechtseintrages. Das Gesetz kenne bislang nur die Konstellation, in der der erste Elternteil eine Frau und der zweite Elternteil ein Mann ist. Eine Vaterschaft wird bei verheirateten Paaren automatisch anerkannt, auch wenn der Ehemann nicht der leibliche Vater des Kindes ist. Bei nicht verheirateten Paaren reicht dazu ein einfacher Antrag aus.

Den Akkermanns geht es als kleine Familie nach wie vor richtig gut, sagt Teichert-Akkermann mit einem fröhlichen Lachen. "Paula ist ein echter Wirbelwind und fängt sogar schon an zu laufen." Dass Paula rechtlich gesehen immer noch nur eine Mutter hat, wirft dennoch einen Schatten auf ihr Leben. "Sollte mir etwas zustoßen, dann wäre Paula Vollwaise. Meine Frau hätte keine Mutterrechte."

Umgekehrt hätte ihre Tochter keinen Anspruch auf Halbwaisenrente, wenn Verena Akkermann sterben würde. Auch alltägliche Eltern-Aufgaben wie etwa das Impfen kann Verena Akkermann nur mit einer entsprechenden Vollmacht ihrer Frau erledigen.

Martina Schwager


Arbeit

Grüne wollen Hartz IV durch Garantiesicherung überwinden




Jobcenter im Berliner Neuköln
epd-bild/Rolf Zöllner
Einst haben sie der Einführung zugestimmt, nun wollen die Grünen das Hartz-IV-System durch eine Garantiesicherung für das Existenzminimum überwinden. Bei Sozialverbänden kommt der Vorschlag gut an. Auch SPD-Arbeitsminister Heil plant Änderungen.

Mit einem eigenen Konzept wollen die Grünen Bewegung in die festgefahrene Hartz-IV-Debatte bringen. Am 8. Januar stellten sie in Berlin ihren Vorschlag für eine Garantiesicherung vor, der bei mehreren Sozialverbänden und dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) auf Zustimmung stieß. Auch Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) plant Vereinfachungen.

DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel erklärte: "Mit so einem Konzept könnte die Grundsicherung ihren Schrecken und ihren stigmatisierenden Charakter verlieren." Zentrale Defizite des Hartz-IV-Systems, das Angst vor einem sozialen Abstieg schüre, müssten angepackt und beseitigt werden, erklärte Piel. Richtig sei es auch, den Niedriglohnsektor als zentrale Ursache für Armut in den Blick nehmen.

Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, sprach von einem "großen Wurf". Der grüne Vorschlag eröffne eine echte Reformperspektive, urteilte Schneider. Im Einzelnen begrüßte er die vorgeschlagene Erhöhung der Regelleistungen, die Abschaffung der Sanktionen und die Zurücknahme überzogener Kontrollen, etwa bei der Vermögensprüfung.

Mit Konzept in den Wahlkampf ziehen

Die Grünen-Fraktion will ihr Konzept jetzt in den Bundestag einbringen und damit auch in den Wahlkampf zur Bundestagswahl im Herbst ziehen, wie die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Anja Hajduk sagte. Die Grundsicherung müsse umfassend reformiert und in eine arbeitsmarktpolitische Gesamtstrategie zur Eindämmung des Niedriglohnsektors eingebettet werden. Man habe Bausteine für eine Reform erarbeitet, die schrittweise umsetzbar und finanzierbar seien. Die Mehrkosten bezifferte Hajduk mit niedrigen zweistelligen Milliardenbeträgen pro Jahr.

Mit Blick auf die Bildung einer neuen Bundesregierung erklärte Hajduk, dass es mit der Union kaum Übereinstimmungen gebe und auch die SPD bisher die zentralen Probleme des Hartz-IV-Systems nicht angepackt habe. Bei der FDP werde ebenfalls über bessere Zuverdienstmöglichkeiten nachgedacht, und die Linke setze sich wie die Grünen für die Abschaffung der Sanktionen ein.

Regelsatz soll schrittweise auf 600 Euro steigen

Im Kern wollen die Grünen den Regelsatz schrittweise auf gut 600 Euro im Monat erhöhen. Bei der derzeitigen Höhe von 446 Euro für einen alleinstehenden Erwachsenen sei nicht einmal eine minimale Teilhabe am gesellschaftlichen Leben möglich, argumentieren sie. Die Sanktionen sollen abgeschafft und die Vermögensprüfung durch eine einfache Erklärung der Antragsteller, dass sie über keine höheren Ersparnisse verfügen, ersetzt werden. Diese Erklärung soll nur bei einem Verdacht auf falsche Angaben überprüft werden.

Der Vorschlag kommt dem gegenwärtigen Verfahren nahe, das Solo-Selbstständigen den Zugang zu Hartz-IV-Leistungen während der Corona-Pandemie erleichtert. Nach einem Bericht des "Spiegel" plant Arbeitsminister Heil, das dauerhaft beizubehalten. In den ersten beiden Jahren des Hartz-IV-Bezugs sollen danach Ersparnisse bis zu 60.000 Euro etwa für die Altersvorsorge Selbstständiger nicht aufgebraucht werden müssen und die Wohnkosten ohne Prüfung der Angemessenheit übernommen werden. Dies sei Teil eines Gesetzentwurfs zur Reform der Grundsicherung, der auch Änderungen bei den Sanktionen vorsieht, die das Bundesverfassungsgericht für teilweise verfassungswidrig erklärt hat, heißt es in dem Bericht.

Höhere Zuverdienste vorgesehen

Das Konzept der Grünen für eine Garantiesicherung sieht weiter vor, die Grundsicherung auch dann jeweils individuell zu gewähren, wenn Paare in einem Haushalt leben, und strebt bessere Zuverdienstmöglichkeiten für Hartz-IV-Aufstocker an. Der arbeitsmarktpolitische Sprecher der Fraktion, Wolfgang Strengmann-Kuhn, verwies darauf, dass aktuell mehr Erwerbstätige als Langzeitarbeitslose Hartz-IV-Leistungen beziehen. Deren Situation müsse verbessert werden.

Die Diakonie Deutschland erklärte, die nächste Bundesregierung werde sich einer Reform des Hartz-IV-Systems stellen müssen. Dabei müssten "Respekt und Ermutigung endlich Wirklichkeit werden", sagte Vorstandsmitglied Maria Loheide. Ähnlich äußerte sich VdK-Präsidentin Verena Bentele. Die Zeit sei reif für eine neue, soziale Grundsicherung. Der VdK kritisiere seit Jahren, dass die Regelsätze kleingerechnet würden und in die Armut führten, erklärte Bentele.

Bettina Markmeyer


Wohnen

Drei Millionen Euro für den "City-Blick"




Durch den Bau von Luxuswohnungen ändert sich ein Münchner Stadtviertel.
epd-bild/Rudolf Stumberger
Die Stadt München will dem Druck auf die Wohnungspreise begegnen und wieder mehr bezahlbare Wohnungen ermöglichen. Wie die Schere am Wohnungsmarkt auseinandergeht und Normalverdiener vertreibt, zeigt das Beispiel eines ehemaligen Arbeiterviertels.

Die Au und das daneben liegende Isar-Hochufer in München waren früher ein Arme-Leute-Viertel. Unten am Auermühlbach reihten sich in krummen Gassen Holzhütten an Bretterbuden, bis alles in einer Bombennacht im Zweiten Weltkrieg zum Opfer der Flammen wurde. Oben am Hochufer baute ein katholischer Siedlungsverein Ende des 19. Jahrhunderts Wohnhäuser für die Arbeiter. Schräg gegenüber zu diesen "Josephs-Häusern" wurde in den 1920er Jahren ein Wohnblock mit Genossenschaftswohnungen errichtet. Die Arbeiter in dem Viertel verdienten ihr Geld bei der Paulaner-Brauerei, beim Pfanni-Werk oder in der Zündapp-Fabrik. Ende der 1980er Jahre begann sich das Viertel zu ändern, die Tante-Emma-Läden verschwanden. Aktuell erleben die Anwohner den Bau von Luxuswohnungen.

Immobilienpreise im Höhenflug

"Die Wohnungen, die hier entstehen, kann sich keine normale Familie mehr leisten", sagt Jörg Spengler und blickt auf den Rohbau, der gerade an der Regerstraße emporwächst. Spengler ist der Vorsitzende des zuständigen Bezirksausschusses Haidhausen-Au, der sich schon seit einiger Zeit mit der Bebauung des Paulaner-Geländes beschäftigen muss. Seit dem Wegzug der Brauerei schießen hier die Fantasien und die Quadratmeterpreise der Investoren und Bauherren in die Höhe.

"Hoch der Isar" preist eine Firma ihre hier entstehenden Nobelresidenzen – "Exklusive Lobby mit Concierge-Service" – an, die Drei-Zimmer-Wohnung mit "City-Blick" ist für rund drei Millionen Euro zu haben, das "Townhouse" kostet fünf Millionen Euro. Die 80-Quadratmeter-Wohnung für rund eine Million Euro ist da fast schon ein Schnäppchen. Auch unten in der Au geht es hoch her, was die Immobilienpreise anbelangt. Dort entsteht am Auer Mühlbach das "Haus Mühlbach": Hier wird ein ehemaliges Untersuchungsgefängnis zu Luxusappartements umgebaut.

Klar ist: Weder unten in der Au noch am Hochufer werden Busfahrer oder Altenpflegerinnen in die neuen Wohnungen einziehen. Das Viertel wird seine soziale Zusammensetzung ändern, und auch die umliegenden Wohnungen sind dem Preisdruck ausgesetzt. Hier und ebenso an vielen anderen Stellen der Stadt ist München dabei, eine Stadt der Reichen zu werden.

Gentrifizierung und Vertreibung

Die Politik versucht gegenzusteuern: "Im Paulaner Areal konnten 30 Prozent geförderter Wohnungsbau durch die sozialgerechte Bodennutzung realisiert und damit unser Anspruch der Münchner Mischung weiter verfolgt werden", sagt Stadtbaurätin Elisabeth Merk. "Unser Ziel ist es, künftig 50 Prozent aller neuen Baulandflächen in städtische Hand zu bekommen."

Trotz dieser Maßnahmen fürchtet Brigitte Wolf, ebenfalls Mitglied im zuständigen Bezirksausschuss, dass dies die fortschreitende Gentrifizierung in der Stadt nur verlangsamt. Das "explodierende Mietpreisniveau" werde den Mietspiegel in die Höhe treiben, was eine "faktische Vertreibung" derjenigen bedeute, die sich diese Mieten nicht mehr leisten können, warnt der Bezirksausschuss in einem einstimmig angenommenen Antrag.

Dass das Vordringen von Nobelwohnungen, die für Normalverdiener nicht zu bezahlen sind, auf lange Sicht dem Wirtschaftsstandort München schadet, darauf hat bereits vor drei Jahren in einer Studie die Immobilienfirma Wealthcap hingewiesen, der nach eigenen Angaben größte Investor am Münchner Gewerbeimmobilienmarkt. "Kümmern sich Städte nicht um die Daseinsvorsorge, erschweren sie es Gering- und Normalverdienern, dort zu wohnen", heißt es in der Studie. "Deshalb sollte die Stadtpolitik verhindern, dass gentrifizierte Viertel das Stadtbild prägen." Und weiter: "Neben dem wirtschaftlichen Verlust verringert die Stadt auch ihre soziale und kulturelle Vielfalt. Das könnte ein Standortnachteil sein."

Rudolf Stumberger



sozial-Branche

Behinderung

"Menschen wie ich werden in der Corona-Krise vergessen"




Constantin Grosch
epd-bild/Harald Koch
Sie sind jung, aber nicht gesund. Und tragen ein erhöhtes Risiko, an Covid-19 zu erkranken. Von der Politik fühlen sich Menschen wie Constantin Grosch ignoriert. Ihr Leben mit Pflege in den eigenen vier Wänden kommt in den Corona-Regeln nicht vor.

Constantin Grosch ist ein optimistischer und meistens gut gelaunter Mensch. Äußerlich wirkt der 28-Jährige, der eine Muskelschwäche hat, gelassen. In seinem Gesicht spielt meist ein schelmisches Lachen. Doch in ihm brodelt es. "Seit zwei, drei Wochen steigt in mir die Wut auf", sagt der Soziologiestudent aus Hameln, der sich als "Inklusions-Aktivist" bundesweit für die Teilhabe behinderter Menschen einsetzt. "Politik, Krankenkassen und Experten haben Menschen wie mich in der Corona-Pandemie einfach vergessen."

Hoffnung auf eine frühe Impfung

Menschen wie er - das sind jüngere chronisch Kranke oder Behinderte, die zu Hause von Angehörigen oder angestellten Fachkräften gepflegt und unterstützt werden. Viele tragen wie Grosch ein hohes Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken. "Aber wir bekommen keine Schutzausrüstung und keine Antigen-Schnelltests." Er hatte seine Hoffnung auf eine frühe Impfung gesetzt. Doch laut Impfverordnung gehört er zu keiner der beiden ersten Risikogruppen. Es ist sogar fraglich, ob er in die dritte einsortiert wird. "Ich finde es ungerecht, dass wir weder einen passiven noch einen aktiven Schutz bekommen."

Das niedersächsische Sozialministerium verweist auf die begrenzten Kapazitäten in der Impfstoffproduktion. "Deshalb hat sich die Ständige Impfkommission gemeinsam mit dem Deutschen Ethikrat und der Nationalen Akademie der Wissenschaften intensiv mit der Frage beschäftigt, welche Personengruppen zunächst geimpft werden sollen, um auf der einen Seite so schnell wie möglich individuelles Leid zu reduzieren und auf der anderen Seite das Gesundheitswesen zu entlasten", erläutert Sprecherin Silke von der Kammer. "Junge Menschen mit Vorerkrankungen sind hier auch berücksichtigt, aber eben nicht an erster Stelle."

Constantin Grosch hat Muskeldystrophie, eine fortschreitende Erkrankung, die ihm nach und nach die Muskelkraft nimmt. Seine Lungenfunktion ist eingeschränkt. Er sitzt im Rollstuhl und ist 24 Stunden am Tag auf Hilfe angewiesen. Ein Team von Pflegern, die direkt bei ihm angestellt sind, betreut ihn. Doch in den Corona-Regeln für Risikogruppen kommt dieses Modell der Assistenz nicht vor, obwohl es nicht so selten ist, wie Grosch sagt. "Pflegeheime, Krankenhäuser, Pflegedienste werden mit Hilfsmitteln ausgestattet. Aber diejenigen, die die ambulante Versorgung zu Hause selbst organisieren, fallen hinten runter. Wir werden ignoriert."

Offener Brief an den Behindertenbeauftragten

Schon Anfang Oktober hatte der Student den Spitzenverband der Krankenkassen angeschrieben und um Schnelltests gebeten. Zur Antwort habe er bekommen, dass er darauf keinen Anspruch habe. "Dann gaben sie mir noch den Hinweis, dass es in einigen Drogerien Tests zu kaufen gebe." Der Verband verweist auf Nachfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd) auf die Verordnung des Bundesgesundheitsministeriums, die regle, wer wann einen Corona-Schnelltest anwenden darf.

Jetzt hat Grosch sich als Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke in einem offenen Brief unter anderem an Gesundheitspolitiker und den Bundesbehindertenbeauftragten gewandt. Er fordert, die Regeln zu ändern. "Bei den steigenden Fallzahlen können pflegende Angehörige und Pflegekräfte ohne Schutzausrüstung, Impfung und präventive Testung zu tödlichen Gefahren werden."

Das Büro des Bundesbehindertenbeauftragten antwortete dem epd, mit Blick auf knappe Impfstoffe sei die Priorisierung unausweichlich. "Für uns haben Menschen, die in Einrichtungen leben, Vorrang, weil sie noch einmal gefährdeter sind", sagt Sprecherin Regine Laroche. Allerdings sei dem Behindertenbeauftragten wichtig gewesen, dass die Impfverordnung in ihrer neuesten Fassung auch Ausnahmen zulasse und in Einzelfällen weitere Menschen vorrangig geimpft werden könnten.

Seit Monaten lebt Grosch quasi in Selbstisolation. "Aber so richtig effizient ist das natürlich nicht, denn ich weiß ja nicht, wie meine Pfleger sich draußen verhalten", berichtet er. Die arbeiten bei ihm jeweils für zwei bis drei Tage am Stück. Dann ist Schichtwechsel. "Es wäre also eine große Erleichterung für mich, wenn sie bei Dienstantritt wenigstens einen Antigen-Schnelltest machen könnten."

Martina Schwager


Corona

Interview

Verband: Noch keine Daten zur Impfbereitschaft der Pflegekräfte




Bernd Meurer
epd-bild/bpa/Jürgen Henkelman
Umfragen zeigen, dass bei Pflegekräften und Ärzten keine besonders hohe Impfbereitschaft besteht - obwohl sie im Beruf täglich mit Corona-Infizierten zu tun haben. Bernd Meurer, Chef des Bundesverbandes private Anbieter sozialer Dienste (bpa), verweist im Interview darauf, dass es noch keine belastbaren Daten dazu gibt. Seine Organisation werbe "um jeden Impfwilligen".

Verbandschef Bernd Meurer sieht in einer Distanz von Pflegefachkräften zu Corona-Impfungen keine generelle Ablehnung der Immunisierung. Viele Pflegekräfte seien noch unsicher, etwa wegen möglicher Nebenwirkungen, und wollten sich erst noch informieren, betont der Präsident des Bundesverbandes private Anbieter sozialer Dienste (bpa) im Interview. "Wir gehen davon aus, dass die Impfbereitschaft erheblich stiege, würde wissenschaftlich belegt sein, dass von geimpften Personen keine Infektionsgefahr ausgeht." Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Es gibt Hinweise, wonach die Bereitschaft des Altenpflege- wie auch des Klinikpersonals nicht besonders hoch ausgeprägt ist, sich gegen Corona impfen zu lassen. Hat Ihre Organisation dazu schon Erkenntnisse?

Bernd Meurer: Zurzeit haben wir noch keine verlässlichen Daten darüber, wie viele Fachkräfte sich bereits haben impfen lassen. Aus einer Umfrage der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin geht jedoch hervor, dass sich rund die Hälfte der Pflegekräfte momentan nicht impfen lassen will.

epd: Können Sie das erklären?

Meurer: Der Grund dafür liegt nicht in einer generellen Impfskepsis, sondern daran, dass einige noch etwas Zeit brauchen und sich umfassend informieren wollen. Auch über die Frage der fortbestehenden erforderlichen Schutzmaßnahmen. Die Zurückhaltung liegt sicherlich zum Teil daran, dass Pflegekräfte auch nach der Impfung die Hygieneregeln einzuhalten haben. Vor allem werden sie auch weiterhin FFP2-Masken tragen müssen. Insofern bringt die Impfung außer dem Schutz vor schwerem Verlauf bei einer Infektion noch keine berufliche Alltagserleichterung. Aber wir gehen davon aus, dass die Impfbereitschaft erheblich stiege, würde wissenschaftlich belegt sein, dass von geimpften Personen keine Infektionsgefahr ausgeht. Wir werben um jeden Impfwilligen. Einen Impfzwang halten wir nicht für durchsetzbar.

epd: Hat der bpa eigene Umfragen zur Impfbereitschaft beim Personal gemacht?

Meurer: Nein, das haben wir nicht. Aufgrund der Rückmeldungen unserer Mitglieder schätzen wir die Impfbereitschaft jedoch höher ein als 50 Prozent.

epd: Plant der bpa spezielle Kampagnen, um die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Mitgliedseinrichtungen zum Impfen zu bewegen?

Meurer: Nein. Aber wir stellen unseren Mitgliedern seit Beginn der Impfplanung alle offiziell verfügbaren Informationen rund um die Impfungen zur Verfügung. Das ist unser Beitrag zur Unterstützung der Impfkampagne der Bundesregierung. Mit den eigenen Materialien motivieren unsere Mitgliedsunternehmen natürlich ihre Mitarbeiter, sich impfen zu lassen. Dabei leisten sie viel Überzeugungsarbeit und erläutern immer wieder aufs Neue, dass jeder geimpfte Mitarbeiter das Risiko in den Einrichtungen senkt und Leben schützt. Trotzdem bleibt die Impfung freiwillig, und wir können niemanden zwingen, sie durchführen zu lassen.

epd: Wie bewerten Sie die aktuelle Impfstrategie?

Meurer: Wir kritisieren das Fehlen einer speziellen Impfstrategie für die häusliche Pflege. Weder haben die Länder ein einheitliches Konzept zur Umsetzung der Impfungen der ambulanten Pflegekräfte noch für die große Mehrheit der zu Hause lebenden pflegebedürftigen Menschen.

epd: Warum muss hier nachgebessert werden?

Meurer: Wer glaubt, dieser Personenkreis könne vernachlässigt werden, wird anhand der Infektionshäufigkeit in Privathaushalten eines Besseren belehrt. Welche Hürden allein die Vereinbarung eines Impftermins für 80-Jährige oder deren häufig genauso alten pflegenden Angehörigen darstellen, liegt auf der Hand. Warteschleifen in der Telefonhotline und eine aufzusuchende Webseite sind vielleicht für die jüngere Bevölkerung zu vernachlässigende Probleme, nicht aber für betagte Pflegebedürftige.



Corona

Pflegekräfte zur Covid-19-Schutzimpfung



Der Bremer Pflegewissenschaftler Stefan Görres hat Anfang Januar auf seinem Twitter-Account um Erklärungen für die geringe Impfbereitschaft unter Pflegenden gebeten, was eine Flut von Reaktionen auslöste. Einige Beispiele:



MATTHIAS ZEPPER, @matthiaszepper: "Meine Erfahrung aus Gesprächen im Bekanntenkreis: Es ist oft ein diffuses Gefühl (Überforderung, Unsicherheit) als ein konkreter Grund. Analog zu Organspende, Patientenverfügung usw. ist die Verweigerung oft eher ein Aufschieben einer Entscheidung."

PHILIPP LEUSBROCK, @_PhilHarmonie: "Ich habe wahrgenommen, dass gerade die Unwahrheiten rund um das Thema Schwangerschaft viele Unsicherheiten erzeugt haben. In unserem Pflegeunternehmen haben wir ein Q&A zum Thema Impfung (...) gemacht. In den Teams ist die Impfquote deutlich gestiegen. Ich bin davon überzeugt, dass Aufklärung und offene Gespräch auf Augenhöhe helfen."

MADAME MALEVIZIA, @Madame_Malevizi: "Ich habe keine abschließende Erklärung, nur eine Wahrnehmung. Die meisten von uns haben bisher unter größtem Druck nur noch 'funktioniert'. Keiner hatte bisher die Zeit, sich mit dieser speziellen Impfung auseinanderzusetzen."

SUNU, @RealSunu: "Spätestens wenn es Impfstoffe gibt, die nachweislich vor Übertragung schützen, gäbe es keine Argumente mehr. Solange es die aber nicht gibt, bleibt es eine ganz persönliche Entscheidung, ob man sich vor den Symptomen schützen will oder nicht."

PROFFESSOR GERRIETS, @GerrietsProf: "Die (akademische) Ausbildung von Ärztinnen und Ärzten orientiert sich seit Jahrzehnten zunehmend an wissenschaftlich basierten Fakten, die Ausbildung in den Pflegeberufen ist immer noch primär "Erfahrungsmedizin". Mehr ärztliche Dozenten in der Pflegeausbildung wären hilfreich."

ANKA, @anka2356: "Die Pflegerin im Altenheim, die meinen Schnelltest machte, lässt sich auch nicht impfen. Warum? 'Man liest so viel Negatives in den Social Media.' Impfgegner haben hier offensichtlich die Deutungshoheit."



Corona

Impfpflicht bei Masern - kein Modell für Covid-19



Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat mit seinem Vorschlag, eine Corona-Impfpflicht für Pflegekräfte zu diskutieren, viel Widerspruch ausgelöst. Er verwies zur Begründung darauf, dass es auch eine Masern-Impfpflicht für Kita-Kinder, Erzieherinnen und anderes Personal in Gesundheitseinrichtungen gibt. Doch die Ausgangslage ist hier eine ganz andere, rechtlich und vor allem aber bei den Impfwirkungen - ein Blick auf die Fakten.

Warum wurde die "Nachweispflicht einer Immunität" bei Masern eingeführt?

Das geschah, weil über Jahre hinweg sämtliche Appelle zur freiwilligen Impfung gegen die hochansteckende Viruserkrankung ins Leere liefen. Noch 2019 wurden hierzulande laut Robert Koch-Institut (RKI) 514 Masernfälle gemeldet, darunter ein Todesfall. Ziel des Gesetzes ist es, Impflücken zu schließen, die in allen Altersgruppen bestehen, und so zu einer Herdenimmunität zu kommen. Die bundesweite Impfquote für die empfohlene zweite Masern-Schutzimpfung bei Kindern im Alter von 24 Monaten liegt nur bei 73,9 Prozent. Für eine erfolgreiche Eliminierung der Masern sind laut RKI mindestens 95 Prozent nötig. Nach einer zweimaligen Impfung geht man von einem lebenslangen Schutz aus.

Was ist im "Gesetz zum Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention" vom März 2020 geregelt?

Das Gesetz soll den Schutz vor Masern in Kindergärten, Schulen und anderen Gemeinschaftseinrichtungen sowie in medizinischen Einrichtungen fördern. Es schreibt vor, dass alle Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr für den Besuch einer Kita, der Kindertagespflege oder der Schule gegen Masern geimpft sein müssen. Gleiches gilt für nach 1970 geborene Personen, die in Gemeinschaftseinrichtungen oder medizinischen Einrichtungen arbeiten, wie Erzieher, Lehrer, Tagespflegepersonen und medizinisches Personal, sowie für Asylbewerber und Geflüchtete in einer Gemeinschaftsunterkunft.

Wie ist eine Impfpflicht rechtlich zu bewerten?

Gerichtliche Auseinandersetzungen über Impfpflichten auch gegen andere Krankheiten gibt es seit Jahrzehnten, denn das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist ein grundgesetzlich geschütztes Gut. So hat sich das Bundesverwaltungsgericht bereits in einem Urteil vom 14. Juli 1959 (Az.: I C 170.56) mit der Frage der Vereinbarkeit des Impfgesetzes vom 8. April 1974 mit dem Grundgesetz auseinandergesetzt. Damals ging es um eine verpflichtende Pockenschutzimpfung. Eine Impfpflicht wird bei besonders ansteckenden Krankheiten, die Leben und Gesundheit anderer Menschen schwer gefährden, als zulässig erachtet. Begründung: Der Schutz der Gesundheit anderer Personen beziehungsweise der Allgemeinheit zur Abwehr von Seuchengefahren rechtfertigt dann den gesetzlichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit. Bei den Masern ist das gegeben. Aber es gibt keine allgemeine Impfpflicht, sondern nur Vorgaben für eng umrissene Personengruppen. Denn sie können sich teilweise nicht selbst vor einer Masern-Infektion schützen und sind darauf angewiesen, dass Menschen in ihrem engen Umfeld geimpft sind.

Was spricht gegen eine Impfpflicht gegen Corona bei Pflegekräften?

Kritiker weisen auf mehrere Aspekte auf unterschiedlichen Ebenen hin. Zum einen fehle eine gesetzliche Grundlage, die zu schaffen unter Umständen Monate dauern würde. Dann ist zu bedenken, dass eine Zwangsimpfung von Pflegekräften für das Ziel der Herdenimmunität der Bevölkerung rein zahlenmäßig nur eine untergeordnete Bedeutung hätte. Und schließlich halten viele Expertinnen und Experten diese Debatte für verfrüht. Verlässliche Daten über bereits geimpfte Pflegekräfte gibt es nur wenige Wochen nach Impfstart in den Heimen nicht - und damit auch keine Hinweise auf eine ausgeprägte Impfskepsis der Fachkräfte.

Wo liegen die Unterschiede in der Wirkung der Impfstoffe gegen Masern und Corona?

Es gibt unterschiedliche Folgewirkungen. Wer zwei Masern-Impfungen erhalten hat, ist immun und kann die Krankheit nicht übertragen. Anders ist das bei Corona. Noch ist laut RKI unklar, über welchen Zeitraum eine geimpfte Person vor einer Covid-19-Erkrankung geschützt ist, das heißt, wie lange der Impfschutz besteht. Zudem ist noch nicht geklärt, in welchem Maße eine Erregerübertragung durch geimpfte Personen verringert oder verhindert wird. Trotzdem bietet die Impfung dem Institut zufolge einen sehr guten individuellen Schutz vor der Erkrankung. Der Verband Forschender Arzneimittelhersteller (vfa) teilte dem Evangelischen Pressedienst (epd) mit, dass derzeit noch von keinem Impfstoff geklärt sei, ob er eine Weitergabe von Viren durch symptomfrei Infizierte verhindert. Bekannt sei, dass die Hersteller der beiden bereits zugelassenen Impfstoffe Biontech/Pfizer und Moderna an der Klärung dieses Aspekts arbeiten, kenne aber nicht den Zeitplan.

Dirk Baas


Menschenrechte

Sozialexperten fordern Reformen von Behinderteneinrichtungen




Oliver Tolmein
epd-bild/Kanzlei Menschen und Rechte/Cord
Ermittlungen wegen Freiheitsentzugs in einer diakonischen Einrichtung in Bad Oeynhausen rücken stationäre Einrichtungen in den Blick. Juristen und Wissenschaftler mahnen Reformen für die stationäre Betreuung Behinderter an.

Nach dem Bekanntwerden von staatsanwaltlichen Ermittlungen wegen Freiheitsberaubung in der diakonischen Einrichtung Wittekindshof werden Rufe nach Reformen bei der stationären Betreuung von Behinderten laut. Die Bochumer Wissenschaftlerin Theresia Degener sagte, seit Jahrzehnten gebe es Erkenntnisse, dass in der Behindertenhilfe immer wieder Gewalt angewendet werde. Stationäre Einrichtungen sollten daher langfristig aufgelöst werden. Der Hamburger Fachanwalt für Medizinrecht, Oliver Tolmein, erklärte, dass im Fall der diakonischen Stiftung die Staatsanwaltschaft gegen 145 Beschuldigte ermittle, zeige, dass die Justiz das Thema ernstnehme.

Freiheitsentziehende Zwangsmaßnahmen

Die Staatsanwaltschaft Bielefeld ermittelt unter anderem gegen den ehemaligen Leiter eines Geschäftsbereichs. Ihm und den anderen Beschuldigten wird Freiheitsberaubung und gefährliche Körperverletzung vorgeworfen. Bislang haben die Ermittler 32 mutmaßlich Geschädigte identifiziert. Bei den freiheitsentziehenden Zwangsmaßnahmen handele es sich unter anderem um Gruppen- oder Zimmerverschluss sowie das Fixieren von behinderten Menschen, ohne dass ein richterlicher Beschluss vorgelegen hätte.

Man dürfe nicht so tun, als wenn ein solcher Fall bloß eine unvorhersehbare Panne sei, sagte Tolmein dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Wenn Verstöße gegen grundlegende Rechte so lange geduldet werden, dann muss es auch ein entsprechendes Klima gegeben haben", erklärte der Jurist, der überwiegend Menschen mit Behinderungen in Verfahren um Teilhabe- und Grundrechte vertritt. Ausnahmesituationen, in denen Zwangsmaßnahmen ergriffen werden dürfen, sind nach Worten Tolmeins klar definiert. Dafür sei auf Grundlage der gesetzlichen Regelung eine richterliche Entscheidung nötig. "Verstöße dagegen sind nicht hinzunehmen", unterstrich der Mitbegründer der Kanzlei Menschen und Rechte.

Besserer Betreuungsschlüssel

Wichtiger als die Strafverfolgung sei jedoch "zu verhindern, dass es so weit kommt", sagte Tolmein. So könnte in problematischen Bereichen der Betreuungsschlüssel erhöht werden sowie größere Zimmer oder ein besseres Freizeitangebot ermöglicht werden. Außerdem könnten die Dichte von Kontrollen, die Schulung der betreuenden Menschen sowie die Rahmenbedingungen deutlich verbessert werden.

Dass es Übergriffe und freiheitsentziehende Maßnahmen auch in diakonischen Einrichtungen gebe, sei nicht überraschend, sagte die Wissenschaftlerin und Juristin Theresia Degener dem epd. In diakonischen Einrichtungen seien die Strukturen nicht viel anders als in anderen Einrichtungen. "Heimstrukturen schaffen menschenrechtliche Gefährdungslagen", sagte die Professorin für Recht und Disability Studies der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum.

Kurzfristig müsse jede Dienstleistung in der Behindertenhilfe regelmäßig von Überwachungsstellen überprüft werden, forderte Degener. Zudem müssten Anti-Gewalt-Konzepte von allen Trägern der Behindertenhilfe entwickelt werden. Hier müssten die Interessenvertretungen von behinderten Menschen eingebunden werden. Langfristiges Ziel müsse es sein, diese Einrichtungen komplett aufzulösen.

"Bestürzt und tief betroffen"

Die große Zahl der Beschuldigten komme dadurch zustande, dass sie nach den Ermittlungen als Pflegepersonal an der Umsetzung von einzelnen freiheitsentziehenden Maßnahmen beteiligt gewesen seien, ohne diese jedoch angeordnet zu haben, erklärte die Staatsanwaltschaft. Über den aktuellen Ermittlungsstand hinaus seien in den nächsten Tagen und Wochen keine weiteren Erkenntnisse zu erwarten, sagte ein Polizeisprecher am 13. Januar dem epd.

Der Vorstand der Diakonischen Stiftung Wittekindshof, Dierk Starnitzke, hatte sich angesichts der Ermittlungsdetails erschüttert geäußert: "Wir sind bestürzt und tief betroffen", sagte der Theologe in Bad Oeynhausen. Die Stiftung sei entschlossen, die Anschuldigungen schonungslos aufzuklären. Zudem kündigte er personelle Konsequenzen an. Auch das NRW-Sozialministerium kündigte eine gründliche Aufarbeitung und Konsequenzen an.

Die 1887 gegründete Stiftung Wittekindshof mit Sitz in Bad Oeynhausen unterstützt nach eigenen Angaben jährlich rund 5.000 Kinder, Jugendliche und Erwachsen mit Beeinträchtigungen.

Holger Spierig


Corona

Heim-Kinder können nicht nach Hause geschickt werden



Heimerzieher betreuen Kinder und Jugendliche rund um die Uhr. Das stellt sie in Zeiten der Pandemie vor besondere Herausforderungen. Von Politik und Gesundheitsbehörden fühlen sich viele im Stich gelassen.

Es ist harte Arbeit, neun Kinder im Alter zwischen 8 und 14 Jahren sechs Tage lang alleine rund um die Uhr zu versorgen. Doch wenn die Kinder dazu auch noch unter Quarantäne stehen, müsse man schon "ein wenig Raubtierdompteur sein", sagt Harald Schwab, Geschäftsführer der Evangelischen Jugendhilfe Oberhausen. Erlebt hat das Ende vergangenen Jahres ein pädagogischer Mitarbeiter aus Schwabs Team. Seine vier Kolleginnen waren zusammen mit den neun Kindern einer Wohngruppe der Jugendhilfe in Quarantäne geschickt worden. Das Problem: Die Betreuerinnen und ihre Schützlinge durften sich nicht gemeinsam in Isolation begeben.

Starre Quarantäne-Regeln

Die Kinder mussten in der Wohngruppe bleiben, während die Erzieherinnen in ihre eigenen Wohnungen verbannt wurden. So habe ihr Kollege, der zufällig gerade aus dem Urlaub kam, die Kinder fast eine Woche alleine rund um die Uhr betreuen müssen, sagt Schwab. Arbeitsrechtlich sei das bedenklich. "Aber wir konnten die Kinder ja nicht einfach sich selbst überlassen."

Die starren Quarantäne-Regelungen führten in Heimen und stationären Einrichtungen der Jugendhilfe immer wieder zu schwierigen Situationen, sagt Schwab, der auch Sprecher der Oberhausener Facharbeitsgruppe "Hilfen zur Erziehung" ist. Dadurch fielen immer wieder gesunde Mitarbeiter ohne jegliche Symptomatik aus. "Und schließen können wir ja nicht. Wir sind darauf angewiesen, präsent zu sein." Es sei auch kaum möglich, Ersatzpersonal zu beschaffen.

Dabei gebe es Lösungen, meint Schwab. Die ambulante Quarantäne etwa, die es den Erzieherinnen ermöglicht hätte, sich sowohl zu Hause als auch an ihrem Arbeitsplatz in der Wohngruppe aufzuhalten. Doch dazu seien die Gesundheitsbehörden in der Regel nicht bereit, beobachtet Schwab. "Die Erziehungshilfe ist ein kleiner Bereich, der völlig vergessen wurde."

Abstand und Maske - nicht durchweg möglich

"Im Großen und Ganzen sind die Einrichtungen der Jugendhilfe auf sich selbst gestellt", beobachtet auch Dagmar Hardt-Zumdick, Fachreferentin beim Caritas-Verband im Bistum Aachen. Keiner habe ein Augenmerk auf die besondere Situation in den Heimen und Wohngruppen der Erziehungshilfe. "Für die Mitarbeitenden ist es auf Dauer frustrierend, dass sie nicht gesehen werden."

Grundproblem sei, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Heimen und Wohngruppen nicht als systemrelevant eingestuft würden, sagt Tim Rietzke vom Evangelischen Fachverband für Erzieherische Hilfen Rheinland-Westfalen-Lippe, in dem 146 Träger zusammengeschlossen sind. Aus seiner Sicht müssten die pädagogischen Fachkräfte in der Heimerziehung Lehrern oder Erzieherinnen in den Kitas gleichgestellt werden, etwa wenn es um die Möglichkeit regelmäßiger Corona-Tests gehe. "Doch mit dieser Forderung sind wir nicht durchgedrungen." Dabei sei es für die Heim-Mitarbeiter bei ihrer Arbeit schlichtweg unmöglich, durchweg Abstand zu halten und Maske zu tragen.

Priorisierung bei der Impfung gefordert

Jetzt fürchten die Beschäftigten der Erziehungshilfe, auch beim Zugang zu Corona-Schutzimpfungen das Nachsehen zu haben. "Wenn wir mit unserer relativ jungen Belegschaft warten, bis die Mitarbeiter als Altersklasse drankommen, dann wird es Sommer werden, und die großen Herausforderungen für uns werden zunehmen", fürchtet Schwab. Auch Rietzke fordert bei der Impfung eine Priorisierung der Heim-Erzieherinnen und Erzieher, so wie sie auch für die Beschäftigten in den Kitas vorgesehen ist. "Derzeit sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Erziehungshilfe aber allen anderen Bürgern gleichgestellt."

Die Landesarbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrtspflege NRW sieht das etwas anders. Zwar würden Einrichtungen der Erziehungshilfe bei den Priorisierungen für die Schutzimpfungen nicht erwähnt, erklärt der Vorsitzende, Frank J. Hensel. Aber: "Die stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe gehören aus Sicht der Freien Wohlfahrtspflege in die Kategorie der Einrichtungen, in denen mit einer schützenswerten Klientel gelebt und gearbeitet wird." Damit seien sie zum Beispiel Kindertageseinrichtungen gleichgestellt.

Harald Schwab von der Evangelischen Jugendhilfe Oberhausen ist nach seinen bisherigen Erfahrungen weniger hoffnungsvoll und hat nun nordrhein-westfälischen Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) um Unterstützung gebeten. "Wir kümmern uns um hilflose Menschen. Ich kann ja Kinder nicht sich selbst überlassen."

Claudia Rometsch


Corona

Kein Vor-Ort-Termin im Jobcenter möglich




Schild eines Jobcenters
epd-bild/Gustavo Alàbiso
Wer Hartz IV beantragt, braucht dabei Beratung. Vor Corona konnte man einfach im Jobcenter vorsprechen. Doch seit dem Frühjahr geht das nur noch ausnahmsweise. Seither läuft das meiste online - mit vielen Schwierigkeiten, sagen Sozialarbeiter.

Mehrere Monate wurden einem jungen Mann die Heizkosten nicht erstattet. 50 Euro im Monat, das ist viel für jemanden, der nur wenig Geld hat. Aber das kann passieren beim Jobcenter. Oft fehlt nur ein Formular. Dann genügt ein Anruf oder ein Besuch, schon klärt sich die Lage. Doch in Corona-Zeiten, wo die Jobcenter für Präsenzbesuche fast geschlossen sind, ist das häufig anders. Viele Anliegen seien umständlicher, langwieriger und teils erfolgloser geworden, klagen Sozialarbeiter und Flüchtlingshelfer. Bei ihnen staut sich die Arbeit. Sie sorgen sich um die Menschen, die keine Hilfe in Anspruch nehmen - zumal in Zeiten, da wieder mehr Menschen arbeitslos werden.

Seit zehn Monaten haben die Jobcenter, in denen Arbeitslosengeld II ("Hartz IV") beantragt wird, in ganz Bayern aus Gründen des Infektionsschutzes den Parteiverkehr drastisch reduziert. Niemand kann mehr einfach hingehen und mit einem Berater sprechen. Wer dringend einen der wenigen Vor-Ort-Termine haben möchte, muss diesen online oder telefonisch vereinbaren. Ansonsten läuft das Beantragen von Hartz IV fast nur noch online. Übrige Anfragen werden über Hotlines oder E-Mail abgewickelt.

Mails gingen ins Leere

Den Fall des Heizkosten-Klienten erzählt Johanna Albert (Name geändert), eine Angestellte aus der Flüchtlingshilfe. Sie will weder ihren Namen veröffentlicht wissen noch ihren genauen Beruf oder die kleine südbayerische Stadt, in der sie tätig ist, "weil ich ja weiterhin gut mit dem Jobcenter zusammenarbeiten will". Nachdem ihr Klient von den ausstehenden Zahlungen berichtete, mailte sie der Leistungsabteilung des Jobcenters. Nichts tat sich. Sie mailte ein zweites Mal, dann rief sie die Servicehotline an, erst nach Monaten klärte sich der Fall.

"Vor Corona konnte man einfach mal hingehen und nachfragen", sagt Albert. Zumindest in kleineren Städten sind es oft enge Beziehungen zwischen Beratern, Sozialarbeitern und Klienten, etwa jugendlichen Geflüchteten. Man kennt sich. Doch jetzt gebe es mit dem Jobcenter seit Monaten nur Telefonkontakt, klagt Albert: "Ich habe kein Verständnis für die Schließung. Jede Kassiererin kann auch hinter Plexiglas arbeiten, mit Maske."

Karin Costanzo (Name geändert), Sozialpädagogin in einer nordbayerischen Kleinstadt, berichtet: Bei manchem ihrer Jugendlichen sei ein mühsam ergatterter Gesprächstermin geplatzt, weil der Klient ihn aufgrund seines Drogenkonsums versäumt habe. Nun sei es "extrem aufwändig, einen neuen Termin zu bekommen". Sorgen bereiten ihr vor allem die jungen Leute, die nicht an eine Einrichtung angebunden sind, die ihnen hilft, den Erstantrag online zu stellen.

Online-Antrag überfordert viele

Denn dieser hat es in sich. Man braucht einen Computer, er ist inhaltlich und sprachlich komplex. Das allein zu schaffen, sei für viele Menschen unmöglich, sagt Barbara Klamt von der Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Jugendsozialarbeit Bayern. Vor Corona reichten viele Klienten, darunter Geflüchtete, fehlende Unterlagen persönlich in den Jobcentern nach. Doch diese Aufgabe bleibt nun häufig an den Sozialberatern hängen. Dies beklagten im Sommer auch Mitarbeiter der Diakonie München.

Weil die Probleme offenbar in vielen bayerischen Städten ähnlich sind, haben sich die Fachkräfte beschwert. Die LAG Jugendsozialarbeit etwa hat im Spätherbst an diverse Vertreter von übergemeindlichen Gremien geschrieben.

Aus dem Jobcenter München heißt es auf Anfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd), bislang seien dort keine Beschwerden über die geänderten Kontaktwege bekannt. Viele Bürger zeigten Verständnis für die Maßnahmen und seien "froh, ihre Anliegen telefonisch, digital oder postalisch erledigen zu können", teilen die Sprecher der Bundesagentur für Arbeit, Regionaldirektion Bayern, und des Münchner Jobcenters gemeinsam mit.

"Angepasste Zugangswege"

Weil der Gesundheitsschutz für Mitarbeiter und Kunden "höchste Priorität" habe, seien die "Zugangswege angepasst" worden: Auf Empfehlung seiner Träger - der Arbeitsagentur und der Kommune - habe das Jobcenter München die persönliche Beratung "vorübergehend auf terminierte Gespräche und Notfälle beschränkt".

Wegen des "gestiegenen Anrufvolumens" sei ein zusätzliches telefonisches Angebot für Menschen eingerichtet worden, die erstmalig Arbeitslosengeld II beantragen. "Besonders in der Krise legen wir gesteigerten Wert auf die Qualität der telefonischen Beratung, um möglichst adäquat die persönliche Beratungssituation zu ersetzen", sagen die Sprecher. Auch das digitale Angebot sei erweitert worden. Zudem habe der Gesetzgeber den Zugang zu den Grundsicherungssystemen vereinfacht.

Albert und Costanzo sind dennoch in Sorge. Viele Bedürftige versuchten es zurzeit gar nicht erst, ihre Ansprüche auf Leistungen aus dem Sozialgesetzbuch II und XII oder auf Qualifizierungsmaßnahmen geltend zu machen, vermuten sie.

Den Vorwurf der erschwerten Kontaktmöglichkeiten können Jobcenter und Arbeitsagentur nicht nachvollziehen: "In dringlichen Fällen und Notfallsituationen" seien weiterhin Vorsprachen ohne Termin möglich, betonen die Sprecher. Zudem würden telefonisch Dolmetscherdienste angeboten. In München gebe es auch Versuche mit "Beratungs-Spaziergängen" und Videoberatung.

Christine Ulrich


Corona

Mieterbund fordert erhöhten Kündigungsschutz in der Pandemie




Lukas Siebenkotten
epd-bild/Deutscher Mieterbund

Der Deutsche Mieterbund (DMB) warnt angesichts harter Corona-Maßnahmen vor einer Zunahme von zahlungsunfähigen Mietern im kommenden Jahr. "Wir gehen davon aus, dass spätestens im Frühjahr Tausende Menschen ihre Miete nicht mehr zahlen können", sagte DMB-Präsident Lukas Siebenkotten dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Berlin. Aktuell seien viele Mieter, die durch die Corona-Krise ihren Job verloren hätten oder in Kurzarbeit gehen mussten, zwar noch in der Lage, ihre Miete mit Ersparnissen zu decken. "Je länger die Situation aber andauert, desto mehr wird sich die Lage verschärfen", mahnte Siebenkotten.

Nach seiner Einschätzung setzen die meisten Mieter momentan alles in Bewegung, "um wenigstens die Miete noch bezahlen zu können. Aber auch das Ersparte wird irgendwann aufgebraucht sein, und dann droht jedem, der die Miete nicht mehr zahlen kann, die fristlose Kündigung", mahnte der 63-Jährige, der seit 2019 Präsident der Mietervereinigung ist.

Schutz vor Verlust der Wohnung

Siebenkotten fordert die Bundesregierung auf, den Corona-Kündigungsschutz aus dem Frühjahr erneut für mindestens sechs Monate einzuführen. "Wir stehen womöglich vor einem längeren Lockdown, was dazu führen wird, dass immer mehr Arbeitnehmer nicht mehr ihr normales Entgelt bekommen werden", sagte Siebenkotten. "Vor diesem Hintergrund ist ein neuer Kündigungsschutz dringend erforderlich."

Im ersten Lockdown Anfang des Jahres hatte der Bundestag ein Kündigungsmoratorium beschlossen, das Mieter vor dem Verlust ihrer Wohnung schützte, wenn sie Corona-bedingt nicht in der Lage waren, ihre Miete zu zahlen. Der erhöhte Kündigungsschutz galt allerdings nur bis 30. Juni. Seither gilt das gewöhnliche Kündigungsrecht, nach dem die Wohnung gekündigt werden kann, wenn der Mieter mit mehr als einer Monatsmiete im Verzug ist.

DMB-Präsident Siebenkotten rät Mietern, die aktuell Zahlungsschwierigkeiten haben, zuerst das Gespräch mit dem Vermieter zu suchen, um sich auf eine gemeinsame Lösung wie etwa eine Mietstundung oder Ratenzahlung zu einigen. Zusätzlich sollten sie versuchen, einen Antrag auf Wohngeld zu stellen. Die Bundesregierung habe den Zugang zum Wohngeld in der Corona-Krise vereinfacht und die Prüfungszeit verringert, erklärte Siebenkotten. Anspruch auf den staatlichen Mietzuschuss haben Menschen mit niedrigem Einkommen, die weder Arbeitslosengeld noch Sozialhilfe beziehen.

Patricia Averesch


Kirchen

Online-Spenden über Portal der KD-Bank 2020 verdreifacht



Das Spendenaufkommen über das Online-Spendenportal der Bank für Kirche und Diakonie (KD-Bank) hat sich 2020 verdreifacht. 127 gemeinnützige Kunden nutzten das Portal und erzielten darüber eine Spendensumme von über 445.000 Euro, wie die Bank am 8. Januar in Dortmund mitteilte. Mit den Geldern werden insgesamt 382 Projekte unterstützt.

Die Organisationen können den Angaben zufolge ihre Vorhaben auf dem Portal präsentieren und per Spendenbutton auf ihrer Homepage, mit QR-Codes sowie über Social-Media-Aktivitäten bewerben. Da aufgrund der Corona-Pandemie 2020 viele Veranstaltungen und Gottesdienste nicht möglich gewesen seien, hätten sich Kirchen und gemeinnützige Organisationen auf die Suche nach Alternativen gemacht, erklärte Ricarda Schneider von der KD-Bank. Gerade während der beiden Lockdowns im Frühjahr und Winter 2020 sei das Online-Spendenaufkommen stark angestiegen.

Besonders beeindruckt habe die Kreativität der Spenden sammelnden Bankkunden, sagte Schneider. Die Aktivitäten reichten demnach von Wohnzimmer-Gottesdiensten über Online-Kollekten bis zum Spenden-Adventskalender. 2021 solle das Portal "KD-onlineSpende" um eine Funktion erweitert werden, mit der Geber regelmäßig spenden können, der Spendenprozess solle künftig noch einfacher und schneller möglich sein.

Die KD-Bank ist eine Genossenschaftsbank und gehört Kirche und Diakonie. Mit rund 4.200 Mitgliedern zählt sie nach eigenen Angaben zu den größten Kirchenbanken Deutschlands.



Digitalisierung

Projekt der badischen Diakonie wird "Zukunftszentrum"



Das Diakonische Werk Baden wird ein sogenanntes Zukunftszentrum. Sie soll kleine und mittlere Unternehmen sowie deren Beschäftigte beim digitalen Wandel unterstützen, insbesondere bei der Nutzung von Künstlicher Intelligenz (KI). Die badische Diakonie hatte sich mit ihrem Projekt "pulsnetz.de - gesund arbeiten in der Sozialwirtschaft" beworben und erhielt jetzt den Zuschlag, teilte das Diakonische Werk am 8. Januar Karlsruhe mit.

Das Projekt der Diakonie lege als Zukunftszentrum den Fokus auf die Sozial- und Pflegewirtschaft für die Bundesländer Berlin, Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen, hieß es in der Mitteilung weiter. Profitieren sollen insbesondere Pflegekräfte, Erzieherinnen und Erzieher, Sozialberaterinnen und Sozialberater und alle, die in der Sozialwirtschaft tätig sind. "In der Corona-Pandemie sind besonders belastet die Beschäftigten in Pflege- und Sozialeinrichtungen", sagt André Peters, Vorstand im Diakonischen Werk Baden. "Deshalb stellt sich für uns jetzt die Frage, was wir tun können, damit die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gesund arbeiten können." Dabei gelte es die Möglichkeiten von Künstlicher Intelligenz zu erforschen.

Auch für Menschen mit Defiziten und Handicaps biete die Digitalisierung große Potenziale. Sie eröffne neue Möglichkeiten der Teilhabe und Chancen auf mehr Inklusion für ein gesundes, selbstbestimmtes Leben.

Die Zukunftszentren sind ein Teil der KI-Strategie der Bundesregierung. Bis Ende 2022 stehen an Bundesmitteln 34 Millionen Euro zur Verfügung, wie es hieß.




sozial-Recht

Oberverwaltungsgericht

Rechtliche Anforderungen an Befreiung von Maskenpflicht umstritten




Maskenpflicht in der Fußgängerzone
epd-bild/Norbert Neetz
Die Maskenpflicht ist eine tragende Säule zum Gesundheitsschutz in der Corona-Pandemie. Ob für die Befreiung davon ein genaues Attest erforderlich ist, ist rechtlich umstritten. Das Oberverwaltungsgericht Berlin äußerte in einem aktuellen Beschluss hier Datenschutzbedenken.

Die wegen der Corona-Pandemie eingeführte Maskenpflicht soll das Risiko einer Ansteckung mit dem SARS-CoV-2-Virus verringern. Unter welchen Voraussetzungen Menschen aus gesundheitlichen Gründen von der Maskenpflicht befreit werden können, ist jedoch nicht immer klar. So entschied das Oberverwaltungsgericht (OVG) Berlin-Brandenburg in zwei am 7. Januar bekanntgegebenen Beschlüssen, dass für die Befreiung von der Maskenpflicht zwar die Vorlage eines ärztlichen Attestes im Original verlangt werden kann. Es gebe aber Datenschutzbedenken, dass die ärztliche Bescheinigung auch Angaben zu konkreten Diagnosen enthalten darf, entschieden die Berliner Richter.

Aus Datenschutzgründen bedenklich

Damit bekam ein Mann aus Brandenburg vorläufig recht. Die Landesbestimmungen schreiben fest, dass das Attest konkrete Diagnosen und Angaben enthalten muss, warum diese eine Befreiung von der Maskenpflicht erforderlich machen. Damit müsse der Betroffene vielen Personen Auskunft über seinen Gesundheitszustand geben, ohne dass diese zur Verschwiegenheit verpflichtet seien.

Dies sei aus Datenschutzgründen bedenklich, da es sich bei Gesundheitsdaten um besonders sensible Daten handele. Bis zur Entscheidung in der Hauptsache setzte das Gericht die entsprechenden brandenburgischen Bestimmungen daher außer Vollzug.

Das Oberlandesgericht (OLG) Dresden hat dagegen bei der Offenlegung konkreter Diagnosen im ärztlichen Attest keine Datenschutzbedenken. In einem am 8. Januar bekanntgegebenen Beschluss billigten die Richter damit den Ausschluss einer Auszubildenden vom Präsenzunterricht in einer Berufsschule.

Die Frau hatte mit einer Klinik einen Ausbildungsvertrag zur Physiotherapeutin abgeschlossen, wollte aber die vorgeschriebene Maske im Berufsschulunterricht nicht tragen. Sie legte ein nicht näher begründetes Attest zur Befreiung von der Mund-Nasen-Bedeckung vor. Die Klinik akzeptierte dies nicht. Die Auszubildende könne am Präsenzunterricht nur mit einer Mund-Nasen-Bedeckung teilnehmen.

Muster zum Selbstausfüllen

Das OLG stimmte dem zu und verwies auf die Vorgaben der Sächsischen Landesärztekammer. Diese verlangten, dass die für die Befreiung von der Maskenpflicht hierfür ausgestellten ärztlichen Bescheinigungen konkrete und nachvollziehbare Angaben enthalten müssen. Auch die gesundheitlichen Beeinträchtigungen beim Maskentragen im Unterricht müssten benannt werden. Atteste ohne gesicherte ärztliche Diagnose oder gar blanko unterschriebene Muster zum Selbstausfüllen würden nicht als berufsrechtsgemäß angesehen.

Auch das Verwaltungsgericht Würzburg entschied mit Beschluss vom 24. November vergangenen Jahres im Fall dreier Schulkinder, dass diese sich nur mit einem genau begründeten ärztlichen Attest von der Maskenpflicht im Schulbus befreien lassen können. Dabei müssten relevante Vorerkrankungen ebenso genannt werden wie die Grundlage, auf der die ärztliche Einschätzung beruht. Datenschutzrechtliche Bedenken gebe es dagegen nicht.

Hier habe der Arzt nur allgemeine Beschwerden wie Übelkeit und Atembeschwerden beim Tragen der Maske angeführt. Der Bezug zur konkreten Tragesituation im Schulbus fehle. Auch müsse berücksichtigt werden, dass der Arzt sich generell gegen eine Maskenpflicht für gesunde Kinder ausgesprochen habe.

Kein Zutritt ohne Maske

Doch selbst wenn jemand konkrete gesundheitliche Beeinträchtigungen belegen kann, kann eine Mund-Nasen-Bedeckung verlangt werden. So entschied das Amtsgericht München in zwei am 7. August 2020 bekanntgegebenen Beschlüssen, dass eine Einrichtung der freien Wohlfahrtspflege einem wohnsitzlosen Mann ohne Maske den Zutritt verwehren kann.

Im Streitfall hatte der Wohlfahrtsträger einem 40-jährigen Wohnsitzlosen ohne Maske den Zutritt zu einer Essensausgabe und einer Tageseinrichtung wegen des Ansteckungsrisikos verweigert. Der Mann berief sich ohne Erfolg auf sein ärztliches Attest und sein darin bescheinigtes schweres Asthma. Das Essen wurde ihm jedoch auf Wunsch nach draußen gebracht.

Das Amtsgericht hielt dies für rechtmäßig. Im Grundsatz dürften private Eigentümer selbst entscheiden, wen sie in ihre Räume lassen.

Az.: OVG 11 S 132/20 und OVG 11 S 138/20 (OVG Berlin)

Az.: 6 W 939/20 (OLG Dresden)

Az.: W 8 E 20.1772 (Verwaltungsgericht Würzburg)

Az.: 275 C 12174/20 und 275 C 12175/20 (Amtsgericht München)

Frank Leth


Bundesverfassungsgericht

Häftlinge müssen Beobachtung ohne Anlass nicht hinnehmen



Häftlinge in einer Gemeinschaftszelle dürfen laut Bundesverfassungsgericht nicht ohne jeglichen Anlass über ein Sichtfenster vom Gefängnispersonal immer wieder beobachtet werden. Denn auch eine Justizvollzugsanstalt (JVA) muss grundsätzlich die Privat- und Intimsphäre eines Gefangenen wahren und ist bei der Einsichtnahme in den Haftraum an das Willkürverbot gebunden, wie das Gericht in einem am 11. Januar veröffentlichten Beschluss entschied. Gerichte müssten daher vom Häftling vorgebrachten entsprechenden Beschwerden auch nachgehen, forderten die Karlsruher Richter.

Im Streitfall ging es um einen mittlerweile aus der Haft entlassenen Mann, der im Jahr 2019 über einen Zeitraum von zweieinhalb Monaten zusammen mit fünf weiteren Personen in einer Gemeinschaftszelle untergebracht war. In der Wand zur Zelle war ein Sichtfenster angebracht, dessen Vorhang von außen aufgezogen werden konnte. Das Fenster wurde auch als sogenannte Kostklappe genutzt.

Ständig beobachtet

Der Häftling rügte, dass ohne jeglichen Anlass das JVA-Personal, darunter auch Frauen, mindestens 20 Mal über das Fenster in den Haftraum gesehen hätten. Selbst andere Gefangene hätten von außen in die Zelle hineingesehen. Die anlasslosen Einsichtnahmen führten zu einem Gefühl, ständig beobachtet zu werden. Dies greife in seine Intimsphäre ein und sei auch nicht verhältnismäßig.

Das Landgericht Amberg hatte mit der anlasslosen Kontrolle keine Probleme. Es sei "gerichtsbekannt", das es in Gemeinschaftszellen häufig zu Aggressionen zwischen den Häftlingen oder mitunter zu Selbsttötungen komme, hieß es. Stichprobenartige Kontrollen wirkten vorbeugend. Gefangene könnten sich für ihre Privatsphäre ja in den Toilettenraum zurückziehen. Ob die Einsichtnahmen tatsächlich stattfanden, wurde vom Gericht nicht geprüft.

Dies beanstandete das Bundesverfassungsgericht. Zwar könne sich ein in einer Zelle untergebrachter Gefangener nicht auf das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung berufen. Er habe aber grundsätzlich Anspruch auf Achtung seiner Privat- und Intimsphäre. Anlasslose Einsichtnahmen in den Haftraum verstießen gegen das Willkürverbot und gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, "die ein schonendes Vorgehen gebieten". Zu Unrecht habe das Landgericht daher die Beschwerden des Mannes nicht weiter geprüft. Dies müsse das Gericht nun nachholen.

Az: 2 BvR 2194/19



Oberverwaltungsgericht

Kirchlicher Kindergarten hat keinen Anspruch auf höheren Zuschuss



Kirchliche Kindergartenbetreiber haben keinen Anspruch auf höhere staatliche Zuschüsse. Das Oberverwaltungsgericht Münster wies am 12. Januar die Berufung eines Wuppertaler Betreibers eines kirchlichen Kindergartens zurück. Der Kindergartenbetreiber wollte nach Gerichtsangaben mit seiner Klage für das Kindergartenjahr 2016/2017 einen höheren staatlichen Zuschuss zur Kindergartenfinanzierung von der Stadt Wuppertal erstreiten. Die gesetzlich geregelten staatlichen Zuschüsse würden zur Finanzierung der von ihm betriebenen Kindertageseinrichtung nicht ausreichen, hatte der Betreiber laut Gericht argumentiert.

Finanzierungsregelungen verfassungsgemäß

Das Gericht erklärte hingegen, der Kläger habe sämtliche Zuschüsse, die im nordrhein-westfälischen Kinderbildungsgesetz (KiBiz) festgelegt seien, von der Stadt erhalten. Im Gesetz sei nicht vorgesehen, dass eine Stadt nach Ermessen höhere Zuschüsse gewähren könne. Die Finanzierungsregelungen des Kinderbildungsgesetzes sind nach Einschätzung des Gerichts nicht verfassungswidrig. Dass kirchliche Träger von Kindertageseinrichtungen einen höheren Eigenanteil als andere freie Einrichtungsträger aufbringen müssten, sei angesichts einer höheren finanziellen Leistungsfähigkeit der kirchlichen Träger kein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz, erklärte das Oberverwaltungsgericht.

Der Gesetzgeber habe zudem bereits Finanzierungsregelungen nachgebessert, nachdem das auf Pauschalzahlungen beruhende System für die freien Einrichtungsträger keine auskömmliche Finanzierung gewährleistet habe, erklärte das Gericht weiter. Außerhalb des Kinderbildungsgesetzes gebe es keine Grundlage für einen Anspruch auf einen höheren Zuschuss. Der sogenannte Subsidiaritätsgrundsatz für das Kinder- und Jugendhilferecht, nach dem Einrichtungen freier Träger der Jugendhilfe Vorrang gegenüber staatlichen Einrichtungen hätten, bedeute für einen freien Träger keinen Anspruch auf eine Vollfinanzierung.

Das Oberverwaltungsgericht, das damit ein Urteil des Düsseldorfer Verwaltungsgerichts bestätigt, ließ keine Revision zu. Gegen die Entscheidung kann eine Nichtzulassungsbeschwerde erhoben werden, über die das Bundesverwaltungsgericht entscheidet.

Az.: 21 A 3824/18



Landessozialgericht

Hartz IV für behinderten Teilzeit-Studenten



Teilzeit-Studierende können Hartz IV beanspruchen. Dies entscheid das Hessische Landessozialgericht in Darmstadt in einem am 12. Januar veröffentlichten Beschluss. Die Entscheidung ist unanfechtbar.

Zugrunde lag der Fall eines 1978 geborenen behinderten Mannes, der ab 2012 Theologie studierte und 2018 wegen seiner Epilepsie auf ein Teilzeit-Studium in Geschichte und Kulturwissenschaft umschwenkte. Sowohl sein BAföG-Antrag als auch sein Antrag auf Arbeitslosengeld II wurden abgelehnt.

Das sah das Landessozialgericht anders und verurteilte das Jobcenter im Wege der einstweiligen Anordnung, dem Studenten Arbeitslosengeld II und damit eine Grundsicherung zu gewähren. Denn BAföG-Leistungen stünden ihm wegen seines Teilzeitstudiums nicht zu.

Az.: L 9 AS 535/20 B ER



Verwaltungsgericht

Kein Anspruch auf sofortige Corona-Impfung für Ehepaar



Ein Senioren-Ehepaar aus Essen hat keinen Anspruch auf eine sofortige Corona-Schutzimpfung. Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen lehnte am 11. Januar einen entsprechenden Eilantrag der 84-Jährigen ab. In dem Beschluss stellten die Richter klar, dass die beiden Senioren auf die Öffnung des regionalen Impfzentrums und die Freischaltung der Telefonnummer für die Terminvergabe warten müssten.

Der Argumentation der Antragsteller, dass es vonseiten der Stadt Essen rechtwidrig sei, zunächst alle Bewohner von Pflegeheimen und das dort tätige, jüngere Personal zu impfen, folgte das Gericht nicht. Die Richter betonten, es bestehe ein Anspruch auf Impfung nur im Rahmen der Verfügbarkeit der vorhandenen Impfstoffe. Es stelle keine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung dar, dass innerhalb der Gruppe der Hochbetagten der Impfstoff zunächst primär in Pflegeheimen eingesetzt werde. Das Schutzbedürfnis dort sei ungleich höher als für über 80-Jährige, die noch in häuslicher Umgebung wohnten.

Die Richter verwiesen auf Erkenntnisse und Empfehlungen des Robert Koch-Instituts. Menschen in Gemeinschaftseinrichtungen sei es nicht gleichermaßen möglich, zum Eigenschutz die Kontakte so weit wie möglich zu reduzieren, erklärten sie. Menschen im eigenen Haushalt hingegen seien deutlich weniger Kontakten ausgesetzt.

Zudem sei die Kommune nicht der richtige Adressat für ein entsprechendes Begehren, erläuterten die Verwaltungsrichter. Die Terminvergabe für eine Corona-Impfung erfolge in NRW nicht durch Städte, Kreise oder Gemeinden. Vielmehr habe sich das Düsseldorfer Gesundheitsministerium die Konkretisierung der Priorisierungs-Empfehlungen der Ständigen Impfkommission ausdrücklich selbst vorbehalten. Gegen den Beschluss kann Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht NRW in Münster eingelegt werden.

Az.: 20 L 1812/20



Sozialgericht

Kostenübernahme für Gebärdensprachkurs trotz Hörprothese



Eine Hörprothese für ein hörbehindertes Kind schließt die Kostenübernahme für einen zusätzlichen Gebärdensprachkurs durch den Sozialhilfeträger nicht aus. Selbst wenn bei einem gehörlosen Kleinkind der lautsprachliche Entwicklungsstand aufgrund der sogenannten Cochlea-Implantate gut ist, kann das Erlernen der Deutschen Gebärdensprache zur Kommunikation mit den Eltern und in besonderen Situationen dennoch erforderlich sein, entschied das Sozialgericht Nürnberg in einem am 7. Januar veröffentlichten Urteil.

Im Streitfall hat die heute vierjährige beidseitig hörgeminderte Klägerin die Kostenübernahme für einen Hausgebärdensprachkurs im Umfang von zwei Wochenstunden im Rahmen der Eingliederungshilfe beantragt. Die Eltern führten aus, dass ihre Tochter wegen ihrer Hörminderung bereits im Alter von acht Monaten zwei Innenohr-Implantate, sogenannte Cochlea-Implantate, erhalten habe, mit der sie das Sprechen und Hören lernen könne.

Implantate reichen nicht

Dennoch bleibe sie in vielen Situationen gehörlos. So müssten die Implantate zum Schlafen und bei bestimmten Sportarten oder auch beim Duschen abgenommen werden. Eine Verständigung und das Hörverständnis sei in Räumen mit vielen Menschen - etwa bei Geburtstagen oder Gottesdiensten nur sehr schwer möglich. In all diesen Fällen sei ihre Tochter faktisch gehörlos und auf Gebärdensprache angewiesen.

Der Sozialhilfeträger, der Bezirk Mittelfranken, lehnte den Antrag auf Kostenübernahme für den Gebärdensprachkurs ab. Das Kind erhalte bereits eine ausreichende Frühförderung mit heilpädagogischen und logopädischen Leistungen.

Das Sozialgericht sprach dem Kind die Kostenübernahme dem Grunde nach zu. Zwar sei der lautsprachliche Entwicklungsstand des Kindes wegen der zwei Cochlea-Implantaten gut. Dies schließe aber die Kostenübernahme für einen Gebärdensprachkurs nicht aus. Zu Recht hätten die Eltern auf zahlreiche Situationen hingewiesen, bei denen die Cochlea-Implantate nicht ausreichten.

Nur wenige können Gebärdensprache

Der Gutachter habe dargelegt, dass künftig mit Einschränkungen des Sprachverstehens zu rechnen sei. Das zusätzliche Erlernen der Gebärdensprache könne hier die Kommunikationsfähigkeit sicherstellen. Der Einwand des Sozialhilfeträgers, dass nur etwa 200.000 Menschen die Gebärdensprache beherrschen und das Kind diese daher meist eh nicht anwenden könne, gehe fehl. Denn gerade bei kleinen Kindern komme es auf die Eltern-Kind-Kommunikation an, die die Gebärdensprache erleichtern könne.

Die UN-Behindertenrechtskonvention lege zudem fest, dass behinderte Menschen die Möglichkeit erhalten müssen, in ihrer natürlichen Sprache zu kommunizieren. Dies sei bei gehörlosen Menschen die Gebärdensprache. Der Sozialhilfeträger müsse im Streitfall noch entscheiden, in welchem Umfang die Kostenübernahme für den Gebärdensprachkurs erfolgen soll.

Az.: S 4 SO 81/18




sozial-Köpfe

Führungswechsel

Ines Trzaska wird Vorstandsvorsitzende der Diakonie Himmelsthür




Ines Trzaska
epd-bild/Diakonie Himmelsthür
Ines Trzaska wird im August 2021 Vorstandsvorsitzende der Diakonie Himmelsthür. Das bisherige Vorstandsmitglied folgt als neue Direktorin auf Ulrich Stoebe, der im Sommer in den Ruhestand geht.

Ines Trzaska übernimmt im August das Amt der Vorstandsvorsitzenden der Diakonie Himmelsthür vom scheidenden Ulrich Stoebe, der im Sommer in den Ruhestand geht. Neues gleichberechtigtes Mitglied im Vorstand wird dann Pastor Florian Moitje.

Diplom-Kauffrau Trzaska war als kaufmännische Direktorin bereits Vorstandsmitglied der seit 135 Jahren bestehenden Diakonie Himmelsthür und zuvor Prokuristin der Lebenshilfe Braunschweig. Die gelernte Kinderkrankenschwester hat Management in Einrichtungen des Gesundheitswesens studiert.

Moitje ist seit März 2020 Referent des Vorstands der Diakonie Himmelsthür. Zuvor war er Geschäftsführer der diakonischen Einrichtungen der Kirchenkreise Lüneburg und Uelzen, später als Diakoniepastor im "Lebensraum Diakonie" tätig. Er hat Theologie und Diakoniemanagement studiert und ist seit mehreren Jahren als Gemeindeberater und Organisationsentwickler in der hannoverschen Landeskirche aktiv. Bis zum Antritt seiner neuen Tätigkeit bereitet sich Moitje unter anderem im Johanneswerk in Bielefeld und bei Diakoneo in Neuendettelsau auf die Aufgabe als Vorstand vor.

Stoebe habe in seiner 16-jährigen Tätigkeit nachhaltige Ergebnisse geschaffen, hieß es. So habe er die wirtschaftliche Stabilität des Unternehmen verbessert und die Umwandlung des Unternehmens im Sinne der Menschen mit Assistenzbedarf vorangetrieben. Die Diakonie Himmelsthür zählt mit neun Tochtergesellschaften und rund 3.300 Mitarbeitenden in ganz Niedersachsen als größte Einrichtung für behinderte Menschen in dem Bundesland.



Weitere Personalien



Jens M. Schubert (51) ist seit dem Jahreswechsel Sprecher des Bündnis Kindergrundsicherung für die Jahre 2021 und 2022. Der neue Vorstandsvorsitzende des AWO Bundesverbandes übernimmt das Amt von Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes. Schubert kündigte an, er werde sich in den kommenden beiden Jahren dafür stark machen, dass die Kindergrundsicherung weiter Fahrt aufnimmt und politisch umgesetzt wird. Es müsse gelingen, alle Kinder und Jugendliche in Deutschland mit einer Kindergrundsicherung sozial gerecht abzusichern und ihre Bildungs- und Teilhabechancen wirksam zu verbessern. Schubert ist seit Jahresanfang Vorsitzender des AWO Bundesverbandes.

Jochen Messemer (54) wird im April den Vorsitz der Geschäftsführung der katholischen Marienhaus Holding GmbH übernehmen, Andreas Tecklenburg (61) wird bereits Anfang Februar in die Geschäftsführung der Marienhaus Holding GmbH eintreten und Vorsitzender der Geschäftsführung der Marienhaus Kliniken GmbH werden. Mit Messemers Einstieg wird sich Heinz-Jürgen Scheid, der derzeit an der Spitze der Marienhaus Holding steht, sukzessive aus der Geschäftsführung zurückziehen und auf die Aufgaben als Vorsitzender des Vorstandes der Marienhaus Stiftung konzentrieren. Die Marienhaus Stiftung in Waldbreitbach ist einer der größten christlichen Träger von sozialen Einrichtungen in Deutschland. Zum Unternehmen zählen unter anderem 14 Krankenhäuser und 20 Alten- und Pflegeheime. Die Einrichtungen liegen in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland, insgesamt arbeiten in der Trägerschaft etwa 13.800 Frauen und Männer.

Andreas Schlamm (53) wird neuer AMD-Generalsekretär. Der Berliner Diakon und Religionspädagoge wurde als neuer Generalsekretär der Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste (AMD) berufen. Ab 1. April wird er zugleich Referent für Missionarische Kirchenentwicklung in der Evangelischen Arbeitsstelle für missionarische Kirchenentwicklung und diakonische Profilbildung (midi) sein. Die Delegiertenversammlung der AMD und das Kuratorium von midi entschieden sich einvernehmlich für Schlamm als Nachfolger von Generalsekretär Hans-Hermann Pompe (65), der im März in den Ruhestand geht. Schlamm war bereits 2002-2013 Referent für Missionarische Projekte und Evangelisation in der AMD und koordinierte dort ab 2008 das EKD-Reformprojekt "Erwachsen glauben". Danach ging er als leitender Mitarbeiter für Bildung zur Berliner Stadtmission. 2019 wechselte er ins Organisationsteam des EKD-Zukunftsforums im EKD-Kirchenamt.

Annette Bruhns (54), langjährige "Spiegel"-Redakteurin, hat zum Jahreswechsel Birgit Müller (64) als Chefredakteurin des Hamburger Straßenmagazins "Hinz&Kunzt" abgelöst. Sie tritt nach 25 Jahren als Chefin in den Ruhestand. Herausforderung im neuen Job sei die Gestaltung der Digitalisierung, um jüngere Leserinnen und Leser zu gewinnen, sagte Bruhns dem Evangelischen Pressedienst (epd). Dazu zählten auch neue Bezahlsysteme bei den obdachlosen Verkäufer. "Hinz&Kunzt" solle auch künftig die "soziale Stimme der Stadt" sein, sagte Bruhns. Das Thema Obdachlosigkeit werde an Bedeutung zunehmen. Die Corona-Pandemie werde für viele Menschen mit einem wirtschaftlichen Ruin einhergehen.

Martin E. Kreis und Christopher Baum sind seit dem 1. Januar neue Mitglieder des Vorstands der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Damit ist der Prozess der Weiterentwicklung des nun sechsköpfigen Charité-Vorstandes abgeschlossen. Professor Kreis ist für die Krankenversorgung an der Charité zuständig. Der Viszeralchirurg folgt auf Ulrich Frei, der nach 27 Jahren an der Charité im Dezember in den Ruhestand gegangen ist. Kreis ist seit Oktober 2012 als Direktor der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Gefäßchirurgie am Campus Benjamin Franklin an der Charité tätig. Im Jahr 2018 wurde er zudem Ärztlicher Leiter des CharitéCentrums für Chirurgische Medizin. Professor Baums Position wurde im Zuge der Integration des Berlin Institute of Health (BIH) eingerichtet. Mit der Leitungsfunktion des BIH, die Baum seit Oktober 2020 innehat, ist zugleich die Position des Charité-Vorstands Translationsforschungsbereich verbunden. Baum war zuletzt erster hauptamtlicher Vizepräsident Medizin der Universität Lübeck und Vorstandsmitglied des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein.

Winfried Meißner ist neuer Präsident der Deutschen Schmerzgesellschaft, seine Stellvertreterin ist die psychologische Schmerztherapeutin Christiane Hermann. Geschäftsführer der Fachgesellschaft bleibt Thomas Isenberg. Der Anästhesist und Schmerzmediziner Meißner leitet am Universitätsklinikum Jena die Sektion Schmerztherapie. Er erklärte zu einem Schwerpunkt seiner Präsidentschaft die klinische und wissenschaftliche Nachwuchsförderung sein. Die Deutsche Schmerzgesellschaft e. V. ist mit rund 3.500 persönlichen Mitgliedern die größte wissenschaftlich-medizinische Fachgesellschaft im Bereich Schmerz in Europa.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis Februar



Wir haben Tagungen, Seminare, Workshops und Webinare aufgelistet, die aktuell geplant sind. Wegen der Corona-Epidemie sagen Veranstalter allerdings Termine auch kurzfristig ab. Wir bitten unsere Leserinnen und Leser, dies zu beachten.

Januar

21.1.:

Online-Seminar "Hass ist keine Meinung! Umgang mit Hate Speech im Netz"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-488

21.-27.1.:

Online-Seminar "Agile Führung - Teams und Organisationen in die Selbstorganisation führen" der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/275828215

22.1.-4.2.:

Online-Seminar "Ausländer- und Sozialrecht für EU-Bürger*innen"

der AWO Bundesakademie

Tel.: 030/26309-139

25.-29.1. Freiburg:

Fortbildung "Moderations- und Leitungskompetenz für Konferenzen, Arbeitsteams und Projektgruppen"

der Fortbildungsakademie der Caritas

Tel.: 0761/2001700

26.1.:

Online-Seminar "Grundzüge des Arbeitsrechts aus Arbeitgebersicht"

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/2758282 17

26.1. Berlin:

Seminar "Chancen- und Risikomanagement in Einrichtungen der Sozialwirtschaft - vom Umgang mit rechtlichen und wirtschaftlichen Risiken"

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-159

26.-27.1.:

Webinar "Fachtag 8. Altersbericht - Digitalisierung und ältere Menschen" |

des Deutschen Vereins

Tel.: 030/62980419

27.1. Berlin:

Seminar "Strategisches Management und Management-Modelle in Non-Profit-Organisationen - Wie kann besseres Management gelingen?"

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-159

27.1.-10.3.:

Online-Fortbildung: "Qualität in stationären Hospizen sorgsam gestalten"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-488

28.1.-8.2.:

Online-Seminar: "Online Seminar: Positive Corona-Effekte - was Führungskräfte aus der Corona-Krise gelernt haben"

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 0160/5768667

Februar

8.2. Köln:

Seminar "Die Arbeitsergebnisrechnung von Werkstätten für behinderte Menschen in Zeiten einer Pandemie"

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-159

10.2. Köln:

Seminar "Kostenrechnung für ambulante Pflege- und Betreuungsdienste"

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-159

17.-19.2.:

Online-Seminar: "Sozialräumliches Arbeiten in migrantisch geprägten Quartieren"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-488

18.-19.2.:

Online-Seminar: "Mit Mitarbeiter/Innen sprechen 2.0"

der Fortbildungsakademie der Caritas

Tel.: 0761/200-1700

22.-24.2.:

Online-Seminar "Der Offene Dialog als wertebasierte Kommunikation - Die harte Realität der weichen Organisationsentwicklung

der Fortbildungsakademie der Caritas

Tel.: 0761/200-1700

24.2.:

Online-Fortbildung "Die Herausforderungen und Chancen für die Führungskraft bei der Realisierung der Selbststeuerung"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-488