sozial-Politik

Behinderung

Proteste

Die neue Behindertenbewegung - selbstbewusst und gut vernetzt




Blinde schwimmen in der Spree gegen das Bundesteilhabegesetz.
epd-bild/Rolf Zöllner
Behinderte Menschen treten mit teilweise schrillen Aktionen für ihre Rechte ein. Der Erfolg gibt ihnen recht: Wie nie zuvor greifen die Medien ihren selbstbewussten politischen Protest auf. Mit Facebook und Twitter verstärkt die Bewegung den Effekt.

Rollstuhlfahrer und andere behinderte Menschen ketten sich in der Nähe des Reichstags fest, um für Barrierefreiheit und für bessere Teilhabe zu demonstrieren. Vor dem Hauptbahnhof in Berlin wird ein Käfig aufgebaut, der symbolisch gegen die Unterbringung in Heimen stehen soll. Unter dem Motto "Blinde gehen baden" springen blinde Menschen in die Spree, um gegen das geplante Teilhabegesetz der Bundesregierung zu demonstrieren. In vielen deutschen Städten fanden in diesem Jahr Aufmerksamkeit heischende Demonstrationen und Aktionen der Behindertenbewegung statt. An diesem Montag versammeln sich wieder Behindertenorganisationen in Berlin, um mit Aktionen gegen das geplante Teilhabegesetz der Bundesregierung zu protestieren.

Starke Medienpräsenz

Wohl noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik haben behinderte Menschen mit ihren Forderungen eine derartige Medienpräsenz wie derzeit. Ihre Proteste sind so originell und laut, dass von den "Tagesthemen" bis zu "SternTV" Medien im ganzen Land darüber berichten.

Das Internet verstärkt die Protestwirkung: "Als wir die Aufmerksamkeit in sozialen Netzwerken hatten, haben auch viele etablierte Medien berichtet. Sonst verstecken sie sich oft hinter Ausreden wie der, dass Behindertenthemen zu komplex seien", sagt der Berliner Aktivist Raul Krauthausen dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Dabei ist die Gesellschaft schon viel weiter als viele Chefredakteure."

Über das Internet erfolgt auch die Vernetzung für die Aktionen. So können sich auch Menschen, die nicht mobil sind, an Protesten beteiligen und mitorganisieren. Auf Twitter ist #nichtmeinGesetz zum Slogan der Bewegung geworden. So erlebt die Behindertenbewegung nach vielen Jahren eine neue Blüte.

300.000 Protest-Unterschriften

Einer ihrer Aktivisten ist Constantin Grosch. Der 24-Jährige ist Kreistagsabgeordneter in Hameln und Rollstuhlfahrer. Er hatte vor drei Jahren eine Petition gestartet, in der er gemeinsam mit Krauthausen dafür eintrat, dass behinderte Menschen, die vom Staat Hilfsleitungen erhalten, das Recht bekommen, Vermögen anzusparen. Denn nach geltender Rechtslage dürfen voll berufstätige Menschen mit Behinderungen nicht mehr als 2.600 Euro auf dem Konto haben. Danach wird alles abgezogen, wenn sie vom Staat sogenannte Eingliederungshilfe erhalten. 300.000 Protest-Unterschriften haben die beiden Aktivisten im vergangenen Jahr zusammenbekommen und sie Bundessozialministerin Andrea Nahles (SPD) übergeben.

"An der Situation von Menschen mit Behinderungen hat sich in den vergangenen 20 Jahren kaum etwas geändert", sagt Constantin Grosch. Mit Blick auf das Bundesteilhabegesetz müsse man jetzt sogar darum kämpfen, dass etablierte Rechte und Standards erhalten bleiben, sagt Grosch.

Das sieht auch Swantje Köbsell so. Sie ist Professorin für Disability Studies an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin. Bereits in den 1980er Jahren hatte sie sich an Protesten beteiligt. "Im Gegensatz zu damals sind die Menschen heute besser vernetzt", sagt sie. Außerdem habe sich die Lage für Behinderte verschärft: "Damals ging es allein darum, Dinge zu erkämpfen. Heute geht es bei den Protesten oft darum, erkämpfte Dinge zu erhalten."

Neues Selbstbewusstsein

Constantin Grosch sieht noch einen anderen Unterschied zu den Protesten der 80er Jahre: "Ich glaube, dass wir es früher der Politik und Öffentlichkeit zu leicht gemacht haben." Denn die Behinderten hätten sich damals schon mit kleinen Verbesserungen, die weit hinter den eigenen Forderungen geblieben seien, zufrieden gegeben. "Es war ja immerhin etwas."

Grosch freut sich über das neue Selbstbewusstsein: "Zum Glück werden heute in der Behindertenbewegung Forderungen formuliert und keine Wünsche. Forderungen gilt es durchzusetzen - politisch, juristisch und medial. Gerade bei Letzterem tritt eine, wenn auch sehr langsame, Professionalisierung ein."

Christiane Link


Behinderung

Krauthausen: Soziale Medien wichtig für Protest der Behinderten




Raul Krauthausen
epd-bild/Rolf Zöllner
Soziale Medien haben es behinderten Menschen nach Ansicht des Behindertenaktivisten Raul Krauthausen ermöglicht, ihre Stimme wirkungsvoll gegen das geplante Bundesteilhabegesetz zu erheben.

"Wir haben uns vor allem über soziale Medien sehr gut vernetzt", sagte Krauthausen dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Wir konnten dadurch unseren Protest organisieren. Außerdem haben wir über die Netzwerke sehr viel Unterstützung bekommen." Für 7. Novrmber haben mehrere Verbände aus Anlass der öffentlichen Anhörung zum Gesetzentwurf im Bundestag Protestaktionen in Berlin angekündigt.

Krauthausen ist prominentes Gesicht der Aktionen von Behindertenaktivisten gegen das geplante Bundesteilhabegesetz. Mit dem Gesetz will die Bundesregierung behinderten Menschen ermöglichen, mehr am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Behindertenvertreter kritisieren aber zahlreiche Aspekte des Vorhabens. "Unser Anstoß war, dass unsere Interessen mal wieder weitgehend ausgeklammert sind. Wir hatten die Idee, der Politik direkt mitzuteilen, dass wir mit den Plänen nicht einverstanden sind", erläuterte Krauthausen. Unter dem Hashtag #nichtmeingesetz sammelten die Behindertenvertreter in den vergangenen Monaten den Protest und erreichten damit auf Twitter und Facebook große Aufmerksamkeit.

Sie hätten gezielt versucht, ihren Protest mediengerecht zu gestalten, etwa als Blinde im September in die Spree vor dem Berliner Reichstag sprangen, berichtete Krauthausen. "Als wir die Aufmerksamkeit in sozialen Netzwerken hatten, haben auch viele Medien berichtet. Sonst verstecken sie sich oft hinter Ausreden wie der, dass Behindertenthemen zu komplex seien", sagte Krauthausen. "Dabei ist die Gesellschaft schon viel weiter als viele Chefredakteure."

Außerdem seien die Informationen in den sozialen Medien für die Bewegung selbst wichtig gewesen. "Wir konnten durch unsere Aktionen viele Menschen motivieren, bei unserem Protest mitzumachen", sagte Krauthausen. Eine große Rolle habe die Kommunikation auf Facebook gespielt. "Wir haben dort viele Betroffene erreicht. Viele, die sich von sich aus niemals getraut hätten, ihre Meinung zu sagen, sind eingestiegen, als sie gesehen haben, wie viele andere mitmachen."

Inklusion funktioniere nur über Kontakte zwischen Behinderten und Nichtbehinderten, betonte Krauthausen. "Viele Menschen haben Berührungsängste, scheuen sich, auf Behinderte zuzugehen. Im Internet ist eine Behinderung aber erstmal gar kein Thema. Online kann man uns einfach ansprechen."

Dennoch sei das Internet für die Inklusion "Fluch und Segen zugleich", fügte Krauthausen hinzu. So habe er durch sein Engagement auch viele negative Kommentare bis hin zu Hassbotschaften bekommen. Und schließlich gebe es online auch eine Vielzahl neuer Barrieren: "Viele Videos haben keine Untertitel. Oder man findet bei Portalen zur Buchung von Unterkünften keine behindertengerechten", kritisierte Krauthausen. "Von einer gelungenen Inklusion sind wir weit entfernt."

Matthias Klein


Armut

Rumänisches Elendsquartier in Frankfurt




Kirilie Ovidiu aus Rumänien lebt auf einer Industriebrache in Frankfurt am Main.
epd-bild/Thomas Rohnke
Mitten in Frankfurt am Main hausen Menschen unter Bedingungen, wie man sie sonst von afrikanischen oder südamerikanischen Elendsquartieren kennt. Auch in nächster Zeit dürfte sich daran nichts ändern.

Neben der Tür steht ein Gebinde aus Reisig und Weidentrieben, Blüten aus Filz hängen darin. Aus der Tür kommt Nicola Varga, schlank, schwarzer Vollbart. Er hat sich seine Hütte wohnlich gemacht. Neben seiner stehen weitere Behausungen, mehr als 30. Sie reihen sich entlang einer Mauer, die sich um ein brachliegendes Industriegrundstück im Gutleutviertel in Frankfurt am Main zieht. Europaletten, Sperrholzreste, Knochensteine und Plastikplanen dienen als Baumaterial.

Wertstoffe im Müll

Hier sind etwa 50 Menschen versammelt, alle aus Alba Iulia, einer Stadt im rumänischen Siebenbürgen. Vargas ganze Familie ist hier, acht Personen, nebenan wohnt seine Tochter. "In Alba haben wir auch schon so gelebt", sagt er und zeigt auf seine Hütte. Sein Neffe sei der erste gewesen, der nach Deutschland kam. Mit der Zeit folgten die anderen nach. Varga lebt seit mehr als einem Jahr hier. Er schlägt sich mit Flaschensammeln durch oder sucht im Müll nach Wertstoffen. So wie alle hier.

Die Frankfurter Industriebrache ist nicht zum ersten Mal das Ziel rumänischer Wanderarbeiter. Schon einmal vor drei Jahren lebten auf dem Gelände Rumänen - unter Bedingungen, die jenen von Elendsvierteln in Entwicklungsländern ähneln. Der Eigentümer ließ das Gelände damals räumen - mittlerweile haben sich wieder Menschen hier niedergelassen.

Diese Art des Wohnens passe zwar nicht ins Bild Frankfurts, sagt der Sprecher des Ordnungsamts, Michael Jenisch. Seine Behörde habe aber dagegen keine Handhabe. "Wir kümmern uns um die Auswüchse menschlichen Verhaltens", sagt er. Aber dort im Gutleut-Viertel gebe es keine, gegen die man einschreiten müsse. Die Bewohner des Grundstücks verhielten sich unauffällig.

Geschäftsführer im Gefängnis

Die Stadt könne dem Eigentümer kaum Vorgaben machen, wie er sein Gelände nutze, erläutert Jenisch. Um das Grundstück räumen zu lassen, könne er sein Hausrecht geltend machen und die Dienste der Polizei in Anspruch nehmen. Dem Vernehmen nach habe er aber derzeit nichts gegen die Rumänen. Das Areal gehöre einer Firma aus Italien, deren Geschäftsführer derzeit im Gefängnis sitze, sagt Jenisch. Ein Vertreter jenes Unternehmens habe vor einiger Zeit Ratten auf dem Gelände bekämpft, seither gebe es dort keinen nennenswerten Schädlingsbefall mehr.

"Das ist der klassische Fall der Selbstorganisation von Menschen, die hierherkommen, aber keinen Anspruch auf staatliche Hilfe haben", sagt Joachim Brenner, Vorsitzender des Fördervereins Roma in Frankfurt. Zu etlichen der Menschen, die dort leben, habe man Kontakt durch die Sozialberatung, die der Förderverein anbiete. Allerdings leben auf dem Gelände nur ethnische Rumänen, keine Roma. Kinder gibt es dort nicht, die sind in Rumänien geblieben. Würden in den Hütten Kinder leben, stünde sofort das Jugendamt auf der Matte. Doch auch die Erwachsenen kämpfen tagtäglich. Gelegentlich hat Varga Schmerzen im linken Brustkorb. Zum Arzt gehen kann er nicht - keine Krankenversicherung, kein Geld.

Geld für eine Operation

Bettina Bonnet schaut in die Hütten. "Brauchen Sie Schlafsäcke?", fragt sie die Bewohner. "Es ist mittlerweile ja schon ziemlich kalt." Bonnet arbeitet für das Obdachlosenhilfezentrum "Weser5" der Diakonie Frankfurt. Das Zentrum im Bahnhofsviertel ist für viele der Rumänen ein Fixpunkt. Dort duschen sie, waschen ihre Kleidung, bekommen auch etwas zu essen. Eine Privatperson, die im benachbarten Main-Taunus-Kreis lebt, hat zwei chemische Toiletten auf dem Grundstück aufstellen lassen.

Trockenbauer sei er, sagt Varga. Er würde gerne in diesem Beruf arbeiten, aber er spricht kein Wort Deutsch - wie die meisten hier. Aus einer anderen Hütte kommt Kirilie Ovidiu. Er will hier Geld verdienen für eine Operation, die sein Sohn benötige, sagt er. Acht Jahre alt sei der, könne nicht laufen, weil er einen offenen Rücken habe. 1.000 Euro koste die OP in Rumänien, die will Ovidiu in Deutschland zusammensammeln.

Nils Sandrisser


Interview

Psychiatriereform

"Psychiatrien müssen stärker am Patienten ausgerichtet werden"




Dirk Heidenblut
epd-bild/ Deutscher Bundestag
Die SPD verlangt Änderungen am Gesetzentwurf zur Psychiatriereform, die zum Jahreswechsel in Kraft treten soll. Sie geht damit auf Kritiker ein, die Fehlanreize durch das geplante Vergütungssystem befürchten.

Seit gut zehn Jahren erhalten Krankenhäuser pauschale Leistungen für die Behandlung ihrer Patienten. Ausnahme sind die psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken. Ab Januar 2017 sollen aber auch für sie Pauschalen gelten. Doch Fachverbände befürchten, dass es durch Fehlanreize und überbordende Dokumentationspflichten zu Rückschritten in der Behandlung führen könnte. Im Interview erklärt Dirk Heidenblut, Mitglied der SPD-Fraktion im Gesundheitsausschuss des Bundestages, dass der "Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung der Versorgung und der Vergütung für psychiatrische und psychosomatische Leistungen" (PsychVVG) nachgebessert werden muss. Mit ihm sprach Hinnerk Feldwisch-Drentrup.

epd sozial: In der Psychiatrie wird bereits seit einigen Jahren eine Reform des Finanzierungssystems vorbereitet. Kritiker fürchten, dass es hierdurch zu einer Ökonomisierung der Psychiatrie kommt. Was ist das Ziel dieser Veränderungen, Herr Heidenblut?

Dirk Heidenblut: Wir von der SPD wie auch die gesamte Regierungskoalition verfolgen mehrere Ziele. Zum einen geht es darum, Transparenz zu schaffen: Wir wollen wissen, welche Leistungen erbracht werden – und welche Wirkungen die erbrachten Leistungen haben. Zum anderen ist es wichtig, die Übergänge zu vereinfachen zwischen einer ambulanten Therapie und der stationären Krankenhausbehandlung. Nach Überzeugung der SPD muss zukünftig mehr ambulant und weniger stationär behandelt werden. Lange Krankenhausaufenthalte sollen vermieden werden.

epd: Das bislang geplante „Pauschalierende Entgeltsystem Psychiatrie und Psychosomatik“ (PEPP) war wegen ökonomischer Fehlanreize in die Kritik geraten. Laut Experten erschwert es eine individuelle Behandlung von Patienten ...

Heidenblut: Auch PEPP ist unter der Prämisse gestartet, die Übergänge zwischen den verschiedenen Behandlungsformen zu vereinfachen. Das allerdings konnte PEPP nicht verwirklichen. Vielmehr drohte es gerade bei Schwerstkranken die Behandlung zu verschlechtern. Wir sind jetzt sehr froh, dass wir zusammen mit den Fachverbänden eine Veränderung bewirken konnten, die auch in einer Expertenanhörung am 26. September als deutlich positive Entwicklung bewertet wurde.

epd: Laut einer Stellungnahme von mehr als 20 Fachverbänden bleibt der Gesetzentwurf der großen Koalition noch weit hinter den Forderungen und Erwartungen zurück, während das Gesundheitsministerium Anfang des Jahres eine Einigung verkündet hatte. Wie groß ist der Änderungsbedarf aus Ihrer Sicht?

Heidenblut: Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Gesetz im ersten Aufschlag nicht alle Beteiligten befriedigt. In bestimmten Bereichen teile ich die Einschätzung der Verbände. Sicherlich werden wir Veränderungen vornehmen: Neben der Frage, wie zukünftig die Budgets der Kliniken bestimmt werden, sind verbindliche Personalrichtlinien eine ganz wichtige Frage. Diese Mindestvorgaben für das Personal sollen sicherstellen, dass Kliniken tatsächlich die Personalstellen bekommen, die für eine angemessene Behandlung notwendig sind. Für uns war dies immer ein zentraler Punkt – wie auch die Berücksichtigung struktureller und regionaler Besonderheiten, wie beispielsweise die regionale Pflichtversorgung. Es ist notwendig, dass wir für schwerstkranke Patienten ein System schaffen, in dem sie bestmöglich behandelt werden. An diesen Stellen müssen wir unter anderem nachbessern.

epd: Kliniken und Krankenkassen streiten um die Ausgestaltung der verbindlichen Personalrichtlinien. Ärzte fürchten, dass sie demnächst ohne diese Absicherung der Personalausstattung dastehen werden ...

Heidenblut: Eigentlich sagen alle Beteiligten, dass wir verbindliche Vorgaben brauchen. Unverbindlichkeit führt auf jeden Fall dazu, dass am Ende unklar ist, welches Personal für welche Leistung eingesetzt wird. Das halte ich für den absolut schlechtesten Weg. Ich würde für die SPD ausschließen, dass wir uns auf unverbindliche Standards einlassen. Es muss am Ende eine Verbindlichkeit geben, oder die bestehende Verbindlichkeit muss so lange fortgeschrieben werden, bis es eine vernünftige Ablösung gibt. Und ja, auch die Finanzierung muss klar sein.

epd: Kliniken werden zwar oft Stellen zugesichert – aber beispielsweise nach Tarifsteigerungen keine ausreichende Mittel für qualifiziertes Personal bereitgestellt. Inwiefern besteht hier Handlungsbedarf?

Heidenblut: Die SPD ist natürlich sehr dafür, dass in allen Häusern nach Tarif bezahlt wird. Wir haben auch in somatischen Kliniken eine Regelung eingeführt, die in der Refinanzierung auch eine bessere Berücksichtigung von Tarifsteigerungen vorsehen. Im Bereich der Psychiatrie müssen wir uns ebenso anschauen, wie wir sicherstellen können, dass die Kosten refinanziert werden können.

epd: Das Gesetz sieht einen Vergleich der Krankenhauskosten zwischen den Häusern vor. Ärzte- und Patientenverbände befürchten, dass teure Kliniken sparen müssen, während andere Häuser kaum zusätzliches Geld erhalten. Werden so der Psychiatrie immer mehr Mittel entzogen?

Heidenblut: Die Einschätzung teile ich so nicht, aber auch da werden wir nochmal hinschauen. Wir wollen die Psychiatrie vernünftig ausstatten. Trotzdem sind sich wohl alle einig, dass sich die Kliniken einem vernünftigen Vergleich stellen müssen. Es kann nicht sein, dass wir in bestimmten Fällen exorbitante Abweichungen haben.

Ich glaube nicht, dass es nur den Weg nach unten gibt. Wir müssen aber genau prüfen, welche Wirkung das System hat. Wo gespart werden kann, müssen wir herausfinden, ob es geht. Es geht aber nicht darum, die Psychiatrie schlechter auszustatten, sie jedoch schon transparenter zu machen.

epd: Zukünftig werden Psychiater und Pfleger viel mehr dokumentieren müssen, Kliniken stellen teils Kodierfachkräfte statt Pflegepersonal ein. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Heidenblut: Es gibt natürlich einen Dokumentationsaufwand, weil wir Geld geben und ein Ziel erreichen wollen. Dass muss dokumentiert sein. Ich habe immer Befürchtungen, dass der Bürokratieaufwand überborden könnte, daher versuchen wir den Aufwand zu verringern und einen vernünftigen Mittelweg zu finden.

epd: Das neue Finanzierungssystem orientiert sich wie schon PEPP stark an den Diagnosen der Patienten. Es wird berichtet, dass kaum noch mittelschwere Depressionen diagnostiziert werden – womöglich, weil schwere besser vergütet werden. Geht dies nicht zu Lasten der Patienten?

Heidenblut: Jedes Abrechnungssystem hat natürlich immer bestimmte Auswirkungen, das ist nicht von der Hand zu weisen. Aber ich bin zuversichtlich, dass es nicht zu einer Verschlechterung kommen wird. Mit dem neuen Gesetz wollen wir diese Probleme vermeiden. Wenn es so kommen sollte, dass praktisch nur noch schwerste Depressionen diagnostiziert werden, dann müssten wir gegensteuern. Natürlich sollen die Diagnose und Therapie an der Erkrankung des einzelnen Patienten ausgerichtet sein.

epd: Besondere Bedürfnisse haben Kinder und Jugendliche. Teilen Sie die Sorgen von Psychiatern, dass dieser Bereich bisher nicht ausreichend berücksichtigt wurde?

Heidenblut: Das ist ein Hinweis, den wir sehr ernst nehmen. Wir werden im Gesetz klarstellen müssen, dass die Anforderungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowohl budgetär als auch ganz zentral im Personalbereich ausreichend Berücksichtigung finden. Wir dürfen die Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht ins Hintertreffen geraten lassen.

epd: Die UN-Behindertenrechtskonvention verlangt, dass auch Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen individuell bestmöglich und in ihrem Lebensumfeld behandelt werden. Denken Sie, dieses Ziel wird mit dem neuen Gesetz erreicht?

Heidenblut: Es gibt den neuen Ansatz des Home-Treatments, bei dem Patienten statt in der Klinik zuhause behandelt werden sollen. Das ist ein wichtiger Schritt, aber auch da müssen wir nochmal nachschärfen: Wenn wir es wie geplant nur auf akute Fälle beziehen, dürfte es nicht den Erfolg haben, den wir erzielen wollen. Aber dieses Gesetz wird natürlich überhaupt nicht ausreichen, um die Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention umfassend anzugehen.

epd: In vielen Ländern gibt es nationale Pläne, die Ziele für die Entwicklung der Psychiatrie vorgeben ...

Ich würde noch viel weitergehen und bald eine weitere Psychiatrie-Enquete beginnen. Die letzte hat vor über 40 Jahren zu einer positiven Entwicklung beigetragen. In Teilbereichen haben wir in den letzten Jahren jedoch auch Rückschritte erlebt, so bei der Wartezeit auf ambulante Psychotherapien. Wir müssen Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie stark reduzieren und die gesamte Behandlung noch deutlicher an den Bedürfnissen der Patienten ausrichten. Mein wichtigstes und zentrales Thema ist die Überwindung der Sektorengrenzen: Wir dürfen Patienten nicht danach kategorisieren, ob sie stationär oder ambulant zu behandeln sind oder zur Eingliederungshilfe gehören sollen. Wir müssen dazu kommen, dass die Behandlung möglichst bruchlos läuft. Das ist für mich die zentrale Herausforderung.

epd: Wie wollen Sie dies erreichen?

Heidenblut: Wir brauchen entsprechende Ziele und Meilensteine. Das aktuelle Gesetz gibt eine gute Grundlage hierfür, aber alleine reicht es nicht aus. Wir sollten sehr schnell weitere Schritte gehen. Hierfür müssen wir eine politische Mehrheit finden, die bereit ist, sich dem Thema insgesamt anzunehmen. Zusammen mit den Beteiligten müssen wir Wege finden, bestehende Barrieren abzubauen. Dass es nicht einfach wird, ist klar. Daher bedarf es eines gemeinsamen, nationalen Vorgehens.



Ausstellung

Coole Leute mit Down-Sydrom




Bundeskunsthalle zeigt Ausstellung über das Down-Syndrom.
epd-bild/Meike Boeschemeyer
Wie Menschen mit dem Down-Syndrom im Alltag wirklich leben, ist in der Öffentlichkeit kaum bekannt. Eine Ausstellung informiert nun umfassend über Geschichte und Erforschung der Trisomie 21. Das Besondere: Erstmals wirken Betroffene mit.

Natalie Dedreux ist ein selbstbewusster Teenager. "Meine Haare sehen schön aus. Und meine Augen auch. Mein Charakter ist gut", erklärt die 17-Jährige. Die Kölnerin geht gerne schwimmen und hat viele Freunde. Ein ganz normales Mädchen? Eigentlich schon, meint Natalie Dedreux. "Ich merke nicht, dass ich das Down-Syndrom hab." Jetzt hat Natalie Dedreux sogar an einer großen Ausstellung mitgearbeitet. Sie gehört zu dem Team von Menschen mit Trisomie 21, die an der Schau mit dem Titel "Touchdown" mitwirken, die bis 12. März in der Bundeskunsthalle zu sehen ist.

In mehrfacher Hinsicht Pionierarbeit

"Was Menschen mit Down-Syndrom können und wie sie leben, ist in der Öffentlichkeit noch sehr wenig bekannt", sagt Katja de Bragança, Humangenetikerin, Down-Syndrom-Expertin und Mit-Kuratorin der Ausstellung. In Deutschland leben rund 50.000 Menschen mit dem Down-Syndrom. Bei ihnen ist das 21. Chromosom dreimal statt zweimal vorhanden. Daher wird die Behinderung auch als Trisomie 21 bezeichnet.

Die Ausstellungsmacher leisteten in mehrfacher Hinsicht Pionierarbeit. Zum einen zogen sie erstmals Betroffene als Experten in eigener Sache hinzu. Diese begleiten auch dreimal pro Woche zusammen mit Führern der Bundeskunsthalle Besucher durch die Ausstellung. Zum anderen wird erstmals die Geschichte der Menschen mit Down-Syndrom in den Blick genommen.

Die Schau sei keine "Inklusionsausstellung", sondern eine kulturhistorische Schau, betont der Leiter der Bundeskunsthalle, Rein Wolfs. So sichteten die Kuratoren zum ersten Mal das Fotomaterial von John Langdon Down, dem Namensgeber des Down-Syndroms. Der britische Arzt hatte in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts zahlreiche Menschen mit Trisomie 21 fotografiert, Ähnlichkeiten festgestellt und sie zum ersten Mal als Gruppe beschrieben. Die Aufnahmen werden in der Bundeskunsthalle erstmals ausgestellt.

Suche in der Historie

Schwierigkeiten hatten die Ausstellungsmacher, als sie sich auf die Suche nach Spuren in der früheren Geschichte machten. Viel fanden sie nicht: Ein holländisches Gemälde aus dem 15. Jahrhundert mit Engelsgesichtern, die Züge von Kindern mit Down-Syndrom tragen. Oder eine rund 2.200 Jahre alte Kinderfigur aus der Kultur der Olmeken in Mexiko. "Wir müssen konstatieren, dass diese Spurensuche eigentlich erfolglos blieb", stellt Ausstellungsleiterin Henriette Pleiger fest. Insofern markiere die Ausstellung den Beginn einer neuen Geschichtsschreibung.

Und das geschieht aus dem Blickwinkel der Betroffenen. "Wir haben drübergeschaut, ob die Ausstellung so wird, wie wir das gerne hätten", sagt Julia Bertmann aus dem Kuratoren-Beirat. Die Betroffenen geben außerdem Einblicke in ihr Leben, die manches Vorurteil geraderücken dürften. In Steckbriefen erzählen sie über ihre Arbeit oder ihre Hobbies. Viele treiben Sport oder wohnen auch selbständig. In Vitrinen zeigen sie Gegenstände, die ihnen etwas bedeuten. Da liegt etwa das rote Plüschherz, das Angela Fritzen von ihrem Verlobten bekam. Anna-Lisa Plettenberg steuerte eine CD von Helene Fischer bei. "Ich höre viel Musik und singe mit," erklärt sie.

Düsteres Kapitel der Euthanasie

So fröhlich war das Leben für behinderte Menschen nicht immer. Auch das düstere Kapitel der Euthanasie während der Zeit des Nationalsozialismus wird in der Ausstellung behandelt. Rund 100.000 Behinderte wurden in den sogenannten Pflegeheimen der Nazis in Deutschland und Österreich ermordet. Grausige Relikte dieser Zeit sind mit Namensschildern beschriftete Gläser, in denen einst die Gehirne von Menschen mit Down-Syndrom aufbewahrt wurden, die in der Wiener Anstalt "Im Spiegelgrund" getötet worden waren. Erst 2002 wurden sie bestattet.

Die Ausstellung kam zustande durch die Zusammenarbeit zwischen der Bundeskunsthalle und dem Bonner Forschungsprojekt "Touchdown 21", das daran arbeitet, weltweit verfügbare Forschungsergebnisse über das Down-Syndrom zu sammeln und zu strukturieren. Obwohl beide Institutionen nur wenige Kilometer voneinander entfernt arbeiten, war es das World Wide Web, das sie zusammenbrachte. De Braganca, Leiterin des Forschungsprojekts, und Ausstellungsleiterin Pleiger kamen über Facebook in Kontakt. Die Zusammenarbeit fand dann vor Ort statt. "Meine Kollegen mit Down Syndrom sind sehr coole Leute", stellte Pleiger dabei fest.

Claudia Rometsch


Arbeit

Nahles schlägt Umbau der Bundesagentur für Arbeit vor



Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hat eine Reform der Bundesagentur für Arbeit ins Gespräch gebracht. Die Behörde müsse zur Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung werden, sagte sie am 28. Oktober beim Kongress "Sozialstaat 4.0" der IG Metall in Berlin. Bildung und Weiterbildung seien zentral, "da brauchen wir verbriefte Rechte".

Nahles forderte außerdem, die Tarifbindung und die Sozialpartnerschaft zu stärken. Ziel müssten faire Löhne und "selbstbestimme Arbeitszeiten" sein.

Jörg Hofmann, Vorsitzender der IG Metall, forderte eine Abkehr von der bisherigen Arbeitsmarktpolitik, die nur auf schnellstmögliche Jobvermittlung setze. Der Gewerkschafter sagte, Bildung und Qualifikation seien der Schlüssel zur digitalen Ökonomie und außerdem Grundlage einer funktionerenden Demokratie. "Deshalb muss Lernen, Bildung und Weiterbildung während des gesamten Erwerbslebens mit einem individuellen Rechtsanspruch verbunden werden", erklärte der Gewerkschafter.



Bundesregierung

Noch kein Konzept zum Familiengeld



Derzeit gibt es keine konkreten Pläne, die von Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) angekündigte Einführung eines "Familiengeldes" umzusetzen. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hervor, über die der Bundestag am 2. November berichtete. Demnach liegt derzeit weder Referentenentwurf noch ein innerhalb der Bundesregierung abgestimmtes Konzept vor.

Schwesig hatte im Juli 2016 Eckpunkte für ein "Familiengeld" und eine "Familienarbeitszeit" vorgestellt. Danach sollten Eltern von Kindern unter acht Jahren maximal zwei Jahre lang ein Familiengeld von bis zu 300 Euro erhalten, wenn sie beide ihre Arbeitszeit auf 28 bis 36 Wochenstunden reduzieren.

Die im Koalitionsvertrag vereinbarte Weiterentwicklung des Teilzeitrechts möchte die Bundesregierung noch in der laufenden Legislaturperiode umsetzen, heißt es weiter in der Antwort. Und: Für Arbeitnehmer, die sich zu einer zeitlich befristeten Teilzeitbeschäftigung entschieden haben, soll die Rückkehr zur früheren Arbeitszeit sichergestellt werden, schreibt die Bundesregierung.



Migration

Soziologin plädiert für Integrationskurse auch für Deutsche



In Zeiten anhaltender Migration müssen sich nach Überzeugung der Soziologin Annette Treibel auch Einheimische in das Einwanderungsland Deutschland integrieren. Die Karlsruher Wissenschaftlerin plädierte bei einer Diskussionsveranstaltung am 27. Oktober in Düsseldorf für "Integrationskurse für alle". Obwohl Deutschland inzwischen ein Einwanderungsland sei, weigerten sich viele Deutsche und auch bereits vor vielen Jahren Zugewanderte nach wie vor, ihren Anteil an der Integration zu leisten.

Zu viele Deutsche würden sich zudem ohne jede Not den aktuellen Veränderungen verschließen, kritisierte Treibel weiter. Einwanderung sei ein wichtiges Element moderner Gesellschaften. Dabei gehörten Konflikte zur Integration dazu, allerdings nicht auf dem "Erregungslevel" der vergangenen zwei Jahre, sagte die Wissenschaftlerin.

Es gehe nicht an, dass sogar in Deutschland geborene und aufgewachsene Menschen mit Migrationshintergrund immer noch gefragt würden, wo sie eigentlich herkämen oder warum sie trotz ihres anderen Aussehens so gut Deutsch sprechen könnten, kritisierte die Professorin vom Institut für Transdisziplinäre Sozialwissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Als "Einwanderungsland wider Willen" müsse sich Deutschland "nicht über widerwillige Einwanderer wundern".

Zuwanderer, Asylbewerber und Flüchtlinge sollten die Perspektive bekommen, "einheimisch zu sein", sagte die Soziologin. "Einheimisch ist man dann, wenn man mit den Verhältnissen an seinem Wohnort vertraut ist." Treibel sprach sich dafür aus, statt der oft geforderten Leitkultur das Leitbild einer Einwanderungsgesellschaft zu propagieren. "Dazu gehört auch das Bewusstsein, dass man deutsch auch werden kann."



Nordrhein-Westfalen

Modellprojekt: Flüchtlinge helfen Flüchtlingen



Insgesamt 20 Frauen und Männer, die vor einigen Jahren selbst als Flüchtlinge an Rhein und Ruhr angekommen sind, haben am 28. Oktober ihre Ausbildung als Laienhelfer für andere Flüchtlinge begonnen. Das Modellprojekt "Unterstützung von traumabelasteten Flüchtlingen durch geschulte LaienhelferInnen" wird vom NRW-Gesundheitsministerium mit 250.000 Euro gefördert. Ministerin Barbara Steffens (Grüne) würdigte "Mut und Engagement" der Laienhelfer bei ihrer Arbeit, den Menschen zu helfen, "die in unser Land gekommen sind".

Helfer mit eigener Migrationsgeschichte können bei der psychischen Stabilisierung von Flüchtlingen wirkungsvolle Unterstützung leisten, betonte Steffens. Die Helfer, denen auch eine Weiterbildung geboten wird, sprechen die gleiche Sprache, verfügen über einen gemeinsamen kulturellen Hintergrund und wüssten zudem um die Belastungen und möglichen Traumatisierungen der Flüchtlinge, erklärte die Gesundheitsministerin.

In ihrer Schulung bekommen die Helfer Informationen über das deutsche Gesundheitssystem, über die Behandlung von Krankheiten und Hilfen für Krisensituationen und psychosozialen Belastungen, erläuterte eine Sprecherin des Psychosozialen Zentrums Düsseldorf, das die Helfer ausbildet.

Das Modellprojekt findet in enger Kooperation mit der Ärztekammer Nordrhein und der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein statt. Die Universität Aachen begleitet das Projekt wissenschaftlich und sorgt auch für eine entsprechende Auswertung, sagte Steffens.



Nordrhein-Westfalen

Präventionsprojekt gegen Jugendkriminalität wird ausgebaut



Das nordrhein-westfälische Präventionsprojekt "Kurve kriegen" gegen Jugendkriminalität hat einen weiteren Standort in Essen erhalten. Seit dem 2. November arbeiten dort unter der Trägerschaft der Arbeiterwohlfahrt pädagogische Fachkräfte in den Polizeidienststellen gemeinsam mit den Beamten, um ein dauerhaftes Abgleiten von acht- bis 15-Jährigen Straftätern in die Kriminalität zu verhindern, wie NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) zur Eröffnung erklärte.

Das bisher an zwölf Standorten laufende Projekt soll auf insgesamt 19 Städte ausgeweitet werden. Essen ist der erste neue Standort, Düsseldorf, Gelsenkirchen, Mönchengladbach, Münster, Oberhausen und Paderborn sollen folgen.

Das 2011 vom nordrhein-westfälischen Innenministerium gestartete Präventionsprojekt "Kurve kriegen" für jugendliche Intensivtäter hat sich nach Worten von Innenminister Ralf Jäger (SPD) bewährt. Das Projekt mit sozialpädagogischen und polizeilichen Hilfen und festen Ansprechpartnern zahle sich außerdem finanziell für die Gesellschaft aus. Die Kosten des Projekts, bei dem junge Intensivtäter in der Regel zwei Jahre lang individuell betreut werden, bezifferte der Minister auf insgesamt 5,1 Millionen Euro beziehungsweise auf 26.000 Euro pro teilnehmendem Jugendlichen. 40 Prozent der betreuten Kinder seien danach nicht wieder straffällig geworden. Bei anderen habe die Häufigkeit der Straftaten gesenkt werden können.

Nach Angaben des Insituts prognos, das im Auftrag der Landesregierung das Projekt in einer Kosten-Nutzen-Analyse evaluierte, verursacht ein jugendlicher Intensivtäter im Alter von 14 bis 25 Jahren volkswirtschaftliche Kosten in Höhe von jeweils rund 1,7 Millionen Euro. Das Projekt "Kurve kriegen" sorge für eine Einsparung der Folgekosten etwa für Erziehungshilfe, Haft und Resozialisierung von 15 bis 55 Millionen Euro. Jedem in das Projekt investierten Euro stehe ein sogenannter Nettonutzen von drei bis zu zehn Euro gegenüber.

In das Projekt können Kinder und Jugendliche zwischen acht und 15 Jahren aufgenommen werden, die mindestens eine Gewalttat oder drei schwere Eigentumsdelikte begangenen haben oder sich in problematischen Lebensumständen befinden, so dass ein dauerhaftes Abgleiten in die Kriminalität droht. Insgesamt waren bis Mitte September vergangenen Jahres rund 450 Kinder und Jugendliche aufgenommen worden. 66 von ihnen brachen die Teilnahme vorzeitig ab, 165 hatten ihre Teilnahme zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen.



Nordrhein-Westfalen

Schmeltzer fordert mehr Schutz vor berufsbedingten Krebserkrankungen



NRW-Arbeitsminister Rainer Schmeltzer (SPD) fordert mehr Schutz der Beschäftigten vor arbeitsbedingten schweren Erkrankungen wie Krebs. "Nach wissenschaftlichen Schätzungen sind in Deutschland jährlich etwa 25.000 Neuerkrankungen an Krebs berufsbedingt. Hier ist also immer noch viel zu tun", sagte Schmeltzer am 3. November auf der Jahrestagung des Landesinstituts für Arbeitsgestaltung in Düsseldorf.

Bei der anstehenden Novellierung der Gefahrstoffverordnung des Bundes werde NRW darauf achten, das hohe Niveau des Arbeitsschutzes - insbesondere beim Umgang mit krebserzeugenden Stoffen wie Asbest - beizubehalten, betonte der Minister. "Und bei der Reform des Berufskrankheitenrechts drängt NRW im Bundesratsverfahren beispielsweise darauf, dass Betroffenen die Beweisführung erleichtert wird, dass eine Krebserkrankung berufsbedingt ist." Dies sei wichtig, wenn es um Rentenansprüche gehe.

"Fehleinschätzungen, wie bei der Einführung von Asbest, dürfen sich nicht wiederholen", erklärte Schmeltzer weiter. So seien im Zusammenhang mit der Verwendung von Asbest bereits 1943 die ersten Berufskrankheiten anerkannt worden, aber das vollständige Verbot erfolgte erst 1993. "Dieses lange Zögern hat dazu geführt, dass über 20 Jahre nach dem Verbot von Asbest jährlich immer noch 1.500 Menschen, die in ihrem Berufsleben Asbeststaub eingeatmet haben, daran sterben", sagte der Minister.

Die Europäische Kommission geht davon aus, dass in den EU-Mitgliedsstaaten über die Hälfte aller arbeitsbedingten Todesfälle auf Krebs zurückzuführen sind. Insgesamt gibt es in Deutschland jährlich fast 500.000 Krebs-Neuerkrankungen, fünf Prozent davon sind beruflich bedingt.



Familie

Bayerns Sozialministerin: Kinderehen unvereinbar mit Grundwerten



Kinderehen sind nach Überzeugung der bayerischen Familien- und Sozialministerin Emilia Müller (CSU) nicht vereinbar mit den Grundwerten der deutschen Gesellschaft. "In unserem Kulturkreis muss kein Mädchen und kein Bub verheiratet werden, um seine wirtschaftliche Situation abzusichern", sagte Müller am 3. November in München. Familien dürften das Leben ihrer Kinder nicht in einer Weise beeinflussen, dass sie nicht selbst über den Menschen entscheiden könnten, mit dem sie ihr Leben verbringen wollten. "Diese Form von Zwangsverheiratung lehne ich in jeder Form ab", erklärte Müller laut einer Mitteilung ihres Ministeriums.

Damit ging die bayerische Politikerin nach eigenen Worten auf Distanz zu "Gedankenspielen, Kinderehen in Deutschland in Teilen oder ganz zu erlauben". Zuletzt hatte sich die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD), skeptisch zu einem generellen Verbot von Kinderehen geäußert. Dies könne im Einzelfall junge Frauen ins soziale Abseits drängen, sagte Özuguz in einem Zeitungsinterview. Sie könnten bei einer Aberkennung der Ehe beispielsweise Unterhalts- oder Rentenansprüche verlieren.

In ihrer Stellungnahme bezeichnet es Müller als "eines der wichtigsten Privilegien unserer Gesellschaft", dass Kinder zu eigenständigen jungen Menschen heranwachsen, die "auch und gerade" bei der Partnerwahl selbst entscheiden könnten. Wörtlich sagte die Ministerin: "Wer hier bei uns eine neue Heimat finden will, muss akzeptieren, dass wir unsere Kinder nicht bevormunden, dass wir ihnen nicht vorschreiben, wen sie zu heiraten haben und vor allem nicht wann. Kinder sollen Kinder sein dürfen. Deshalb gilt in Bayern: zuerst heranwachsen, dann heiraten."



Statistik

Mehr Pflegebedürftige in Brandenburg



Rund 3,3 Prozent der Berliner erhielten im vergangenen Jahr Leistungen nach dem Pflegeversicherungsgesetz. Wie das Statistische Landesamt am 1. November mitteilte, waren das insgesamt 116.424 Berliner. In Brandenburg lag die Zahl der Leistungsempfänger mit 111.595 zwar absolut etwas niedriger. Im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung des Bundeslandes erhielten mit 4,5 Prozent aber deutlich mehr Einwohner Leistungen nach dem Pflegeversicherungsgesetz.

Wie das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg weiter mitteilte, war die Mehrheit der Pflegebedürftigen in beiden Ländern mit 64 Prozent Frauen. Naturgemäßg steige das Risiko einer Pflegebedürftigkeit mit zunehmendem Alter. So waren 82,6 Prozent der Brandenburger Pflegebedürftigen 65 Jahre und älter, in Berlin waren es 80,1 Prozent.

Die Anzahl der in Pflegeheimen betreuten Menschen lag in Brandenburg bei 21,9 Prozent (24.411 Personen) und in Berlin bei 24,3 Prozent (28.299 Personen). In Brandenburg standen 697 Pflegedienste und 488 Pflegeheime zur Verfügung. Die Zahl der Beschäftigten in ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen betrug 34.648 Mitarbeiter. In Berlin erfolgte die Betreuung durch 43.515 Personen in 585 Pflegediensten und 385 Pflegeheimen.




sozial-Branche

Obdachlosenhilfe

"So viele Leute mit so viel Potenzial"




Obdachlose hausen draußen - die Diakonie Gießen sucht mit "Housing First" eine bessere Lösung.
epd-bild/Jürgen Blume
"Housing First" heißt ein Projekt der Gießener Diakonie für Obdachlose. Sie erhalten eine eigene Wohnung und werden von Sozialarbeitern begleitet. Das aus den USA stammende Konzept ist in Deutschland kaum bekannt.

Klaus scheint sein Glück noch nicht ganz zu fassen. "Momentan bin ich happy", sagt er nur. Dabei hat er Arbeit und Wohnung - beides vor kurzem noch unvorstellbar für einen wie ihn. Klaus war alkoholabhängig und lebte auf der Straße. Gemeinsam mit ihm probiert die Gießener Diakonie einen neuen Ansatz aus: "Housing First", was so viel bedeutet wie: zuerst eine Wohnung. Obdachlose können direkt in eine eigene Wohnung ziehen, werden aber noch von Sozialarbeitern begleitet.

Ein Leben im Teufelskreis

Klaus heißt eigentlich anders, sein richtiger Name soll nicht veröffentlicht werden. Obdachlosigkeit ist mit vielen Stigmata behaftet. "Die Leute denken, Obdachlose sind Penner", sagt der kräftige Mann mittleren Alters. Gerade habe er seine neue Nachbarin kennengelernt, eine alte Dame mit einem alten Hund. Die Wohnung liegt in einem gemischten Wohnviertel in Gießen. Zusammen mit seinem Chef war Klaus heute einkaufen: ein Sofa und ein Bett.

"Housing First" bedeute einen Wechsel der herkömmlichen Praxis, schildert Sarah von Trott, Diplom-Pädagogin in der Wohnungslosenhilfe "Die Brücke": Bisher leben Obdachlose oft in Frauen- oder Männerwohnheimen, in denen sie sich erst für verschiedene Wohnformen "qualifizieren" müssen, beispielsweise vom Mehrbett- für ein Einzelzimmer und dann erst für die eigene Wohnung. "Problemgruppen bleiben unter sich", kritisiert von Trott. Die Obdachlosen müssten außerdem tagsüber das Wohnheim verlassen, treffen sich in der Szene, wo Probleme sich potenzieren und Perspektivlosigkeit herrscht.

"Housing First" weist Erfolge auf

Auch Klaus lebte im Teufelskreis: "Tagsüber musste ich raus aus dem Wohnheim und ging dann zum Treffpunkt am Marktplatz. Man muss sich viele Gedanken machen, wo der nächste Schlafplatz ist. Viele sitzen im Knast, weil sie eine Flasche Wodka geklaut haben." Klaus landete im Gefängnis, weil er Essen und Alkohol stahl. Nach der Entlassung, ohne Perspektive, traf er die alten Freunde vom Marktplatz wieder.

"Housing First" bedeutet: so schnell wie möglich in eigenen Wohnraum. In Deutschland wird das aus den USA stammende Konzept wenig ausprobiert. Die USA, aber auch Norwegen oder Österreich setzen es schon länger um, Studien belegen die Erfolge. In Wien etwa lebten in einer Testphase 98 Prozent der insgesamt 131 betreuten Menschen stabil in der eigenen Wohnung - mit Unterstützung durch die Hilfsorganisation "neunerhaus".

Die Gießener Diakonie hat neben Klaus noch eine Frau im Projekt, ein dritter Klient bezieht demnächst eine Wohnung, ein vierter befindet sich derzeit in Therapie und soll danach ein eigenes Heim bekommen. "Wir nehmen Leute, die sich in einer Motivationsphase befinden", erklärt Sarah von Trott. Auch Klaus machte eine Therapie. Obdachlosigkeit hat eine politische Dimension: Seit Jahren werden kaum noch bezahlbare Sozialwohnungen gebaut.

Fördergeld von EU und Bund

"Für unsere Klienten lief auf dem Gießener Wohnungsmarkt nichts mehr", berichtet Sozialarbeiter Norbert Leidinger-Müller. Die Diakonie arbeitet daher mit der Wohnbau Gießen zusammen. Das Diakonische Werk mietet die Wohnungen und vermietet sie an einen Klienten weiter. Vor allem der Europäische Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen sowie das Bundessozialministerium finanzieren das Projekt.

Klaus streift einen roten Pulli über die sehr muskulösen, sehr tätowierten Arme. Er hat nicht nur eine Wohnung, sondern auch einen Job. Bei Armin Eisenkramer arbeitet er auf dem Bau. "Klaus hat zwei Wochen Praktikum gemacht, das gefiel mir sehr gut", erzählt sein Arbeitgeber. "Er war pünktlich und fleißig." Seit zwei Monaten ist Klaus nun fest angestellt. Sie sehe es immer wieder, sagt Sarah von Trott: "Es gibt so viele Leute mit so viel Potenzial." Eigentlich müssten sie alle in ein "Housing First"-Projekt.

Stefanie Walter


Interview

Flüchtlinge

"18-Jährige hängen zwischen den Leistungssystemen"




Birgit Löwe
epd-bild/Diakonisches Werk Bayern
Für die Begleitung und Betreuung minderjähriger Flüchtlinge sind nach Auffassung von Birgit Löwe mehr Fachkräfte notwendig. Das Vorstandsmitglied der Diakonie Bayern fordert deshalb eine jährliche Aufstockung der Gelder für die Jugendmigrationsdienste um zehn Millionen Euro.

Besonders schwierig ist laut der Birgit Löwe die Situation für junge Menschen an der Schwelle zur Volljährigkeit. Gerade der Freistaat Bayern setze diese Gruppe unter Druck, indem er hier rigide Hilfsleistungen streiche. Die Expertin füpr Jugendarbeit kritisiert im Interview mit epd sozial, dass dies nicht helfe, um junge Menschen auf eine selbstständige Lebensführung vorzubereiten. Löwe verlässt nach 17 Jahren den Vorstand der Diakonie Bayern, um in Zukunft als Psychotherapeutin zu arbeiten. Die Fragen stellte Markus Jantzer.

epd sozial: In Deutschland leben nach offiziellen Schätzungen fast 400.000 minderjährige Flüchtlinge. Davon flohen rund 65.000 ohne ihre Eltern hierher. Wie geht es ihnen?

Birgit Löwe: Die meisten Kinder und Jugendlichen leben in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und können von der fachlichen und sozialpädagogischen Begleitung und Betreuung profitieren. Dies ist für deren Sicherheit und Integration von entscheidender Bedeutung. Sie brauchen fachkundige Unterstützung bei den notwendigen Behördengängen, beim Erlernen der Sprache, in Schule und Ausbildung, um damit auch Kultur, Land und Leute kennenzulernen. Und letztendlich brauchen sie heilpädagogische Begleitung, um die Erfahrungen auf der Flucht und Trennungen von den Familien verarbeiten zu können.

epd: Sind diese Kinder und Jugendlichen, die vor Krieg und Terror geflohen sind, hier in Sicherheit? Welchen Gefährdungen sind sie hier ausgesetzt?

Löwe: Sicherlich sind die Kinder und Jugendlichen vor Krieg und Terror sicher, und für ihre Grundbedürfnisse ist gesorgt. Doch in vielerlei Hinsicht bleibt das Leben für sie unsicher. Gerade, wenn sie an der Schwelle zur Volljährigkeit stehen. In Bayern wird zunehmend rigide gehandelt, und die Leistungen aus der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) mit dem 18. Lebensjahr eingestellt. Da werden häufige Integrationsangebote nicht weitergeführt. Und die jungen Menschen "hängen" zwischen den verschiedenen Leistungssystemen. Oder es droht ihnen, dass sie in ihr Herkunftsland zurückgeschickt werden.

Auch beobachten wir häufig, dass für die Kinder und Jugendliche – gerade, wenn sie zur Ruhe kommen, Sicherheit und Vertrauen erleben - traumatische Erlebnisse sich ihren Ausdruck suchen. Häufig genug werden sie auch durch scheinbar harmlose Situationen in konflikthaften Auseinandersetzungen oder durch Verluste retraumatisiert. Hier bedarf es dann der fachkundigen heilpädagogischen, bisweilen auch therapeutischen Begleitung.

epd: Werden die Flüchtlingskinder im schulpflichtigen Alter auch wirklich in einer Regelschule unterrichtet? Oder fehlen ihnen dafür die erforderlichen Deutschkenntnisse?

Löwe: Unserer Kenntnis nach werden die Kinder im schulpflichtigen Alter in die Regelschule eingeschult, häufig genug ohne ausreichende Deutschkenntnisse. Die Beschulung selbst scheint örtlich sehr unterschiedlich zu sein, ebenso wie die fachkundige Betreuung und Begleitung. Schwierig gestaltet sich – neben der Beschulung der Kinder – die Zusammenarbeit mit den Eltern.

Schwieriger gestaltet sich die Beschulung bei der Berufsschulpflicht. Nicht immer stehen ausreichend Plätze oder fachkundiges Personal zur Verfügung.

epd: Wie bewerten Sie die sozialpädagogische Betreuung der minderjährigen Flüchtlinge?

Löwe: Solange die Kinder und Jugendlichen in einer sozial- bzw. heilpädagogischen Einrichtung leben, ist die fachpädagogische Begleitung und Unterstützung im Großen und Ganzen gewährleistet. Je älter die unbegleiteten ausländischen Jugendlichen werden, desto schwieriger wird deren Situation. Die Übergänge von Schule und Ausbildung problematisch. Wenn die Flüchtlinge volljährig werden, droht der Abbruch der bisherigen Betreuung und Begleitung durch die Jugendmigrationsdienste. Das Betreuungsverhältnis war in Bayern im vergangenen Jahr 1 zu 250 - eine Vollzeitkraft betreute also 250 Jugendliche. Da ist eine individuelle und spezifische Begleitung nur bedingt möglich.

epd: Welche Aufgaben übernehmen hier die 450 Jugendmigrationsdienste in Deutschland?

Löwe: Der Jugendmigrationsdienst ist heute faktisch der Regel-Migrationsdienst des Bundes für junge, darunter auch neu zugewanderte Menschen mit Migrationshintergrund, wenn sie eine dauerhafte Aufenthaltsperspektive haben. Sie sind ein Angebot der Jugendsozialarbeit und unterstützen junge Menschen mit Migrationshintergrund in ihrer sprachlichen, schulischen, beruflichen und sozialen Integration. Sie haben Anlauf-, Koordinierungs- und Vermittlungsfunktion.

Die Jugendmigrationsdienste beraten und begleiten junge Menschen im Alter von 12 bis 27 Jahren, die in erhöhten Maße Unterstützung am Übergang Schule – Ausbildung – Beruf benötigen, mit dem Verfahren des Case Managements. Darüber hinaus bieten sie allen jungen Menschen sozialpädagogische Begleitung während und nach den Integrationskursen und den Sprachkursen. Jugendmigrationsdienste setzen sich dafür ein, dass den jungen Menschen dauerhaft eine gesellschaftliche und berufliche Perspektive geboten wird. Zudem fördern sie das kulturelle Miteinander und tragen auch damit zur Sicherung des sozialen Friedens bei.

epd: Wie kommen die Jugendmigrationsdienste mit dem sprunghaft gestiegenen Unterstützungsbedarf zurecht? Konkurrieren hier Jugendliche mit Migrationshintergrund mit den neuen Flüchtlingen um die Leistungen der Migrationsdienste?

Löwe: Die Kapazitäts- und Belastungsgrenzen der Fachkräfte sind bereits seit langer Zeit überschritten: im Jahr 2015 wurden bundesweit 91.834 junge Menschen beraten, davon 44.470 im Rahmen des Case Managements intensiv begleitet. Dies ist eine Steigerung um 44 Prozent innerhalb von drei Jahren. Aufgrund des gestiegenen Bedarfs ist der Ausbau des Angebotes nicht nur fachlich notwendig und geboten, sondern unabdingbar. Gerade in Bayern gibt es noch zahlreiche Regionen, die gar kein Jugendmigrationsdienst vorhalten.

Der dringend notwendige Ausbau fordert die Erhöhung der Mittel des Kinder- und Jugendplanes des Bundes. Es ist gelungen, die anvisierte Kürzung der Mittel um acht Millionen Euro abzuwenden. Aber es ist noch nicht gelungen, die zwingend notwendigen weiteren Mittel in Höhe von zehn Millionen Euro für 2017 und darüber hinaus durchzusetzen.

epd: Brauchen Mädchen andere Hilfsangebote als Jungs? Und bekommen sie diese auch?

Löwe: Mädchen brauchen größere und klarere Schutzräume, um nicht weiteren Gefährdungen ausgesetzt zu sein und sich entwickeln zu können. Damit ist eine genderspezifische Begleitung und Beratung erforderlich, die die besonderen (Schutz-)Bedürfnisse im Blick behält, sowie Integration in einer freiheitlichen Gesellschaft unterstützt.

epd: Die Chancen auf einen Ausbildungsplatz für Flüchtlinge sind mit der Novelle des Integrationsgesetzes verbessert worden. Wie wirkt sich das in der Praxis aus?

Löwe: Neben dem Zugang zu einem Ausbildungsplatz ist es erforderlich, auch die Ausbildungsfähigkeit im Blick zu halten. Dies bedarf in der Regel auch einer Vorbereitungsphase zur Ausbildung bzw. eine intensive – sozialpädagogische bzw. fachtheoretische - Begleitung der Auszubildenden. Das bedeutet, dass sich Ausbildungsbetriebe entsprechender Fachkompetenzen bedienen müssen, um die Ausbildung der jungen Menschen mit Migrationshintergrund entsprechend begleiten zu können. Dies bedeutet jedoch auch, dass differenzierte Formen der berufsbezogenen Jugendsozialarbeit mit Angeboten wie Jugendwerkstätten, assistierte Ausbildung, Jugendmigrationsdiensten etc. ausgebaut und auskömmlich finanziert werden müssen.

epd: Inwieweit ändern sich für die jungen Menschen die Hilfsangebote, wenn sie das Erwachsenenalter erreicht haben. Gibt es hier gleitende Übergänge?

Löwe: In Bayern wird die Regelung, Jugendhilfeleistungen mit dem 18. Lebensjahr zu beenden, in der Regel rigide gehandhabt, häufig genug ohne die Übergänge entsprechend zu gestalten. Dem nach SGB VIII möglichen individuellen Anspruch bei Bedarf wird nicht stattgegeben oder kann nicht durchgesetzt werden, da eine entsprechende fachliche Beratung und Begleitung nicht mehr vorhanden ist.

Der aktuelle Beschluss bei der Jahreskonferenz der Regierungschefs und -chefinnen der Länder am 28. Oktober in Rostock, das Jugendwohnen im Rahmen der Jugendsozialarbeit zu stärken, wird für einen Teil der jungen Menschen mit Migrationshintergrund ein passendes und geeignetes Angebot sein. Allerdings ist das Angebot des Jugendwohnens, das darauf zielt, Mobilität zu ermöglichen, und das einem erfolgreichen Schul- und Ausbildungsabschluss dient, keine Hinführung und Begleitung zur Verselbstständigung junger Menschen, die einen erhöhten Betreuungsbedarf haben. Und diesen brauchen die jungen Menschen, die unbegleitet aufgrund von Flucht bei uns sind, dringend.

Eine Veränderung des SGB VIII für die Zielgruppe der unbegleiteten minderjährigen jungen Menschen unter dem Gesichtspunkt der Kostenreduzierung ist für deren Integration und Vorbereitung auf deren selbstständige Lebensführung kontraproduktiv.



Seniorenheime

Mit Fahrrad-Rikschas auf Spritztour




Zwei Seniorinnen werden auf einer Rikscha durch Wiesbaden gefahren.
epd-bild/Kristina Schäfer
Ehrenamtliche und Angehörige können beim Evangelischen Verein für Innere Mission in Nassau Senioren auf ungewöhnliche Art herumkutschieren. Die Idee für Fahrrad-Rikschas in Altenheimen stammt aus Dänemark.

Wenn Renate Heß erzählen soll, wie sie ihre erste Fahrt in der Rikscha fand, überlegt sie nicht lange. "Geil!", platzt es aus ihr heraus. Die 73-Jährige sitzt im Wiesbadener Albert-Schweitzer-Haus, einer Einrichtung für Senioren des Evangelischen Vereins für Innere Mission in Nassau (EVIM), und wartet auf ihre nächste Ausfahrt. Heute geht es auf eine Runde gleich nebenan in den Schlosspark und zu einer Lesung in einem Hinterhof im Stadtteil Biebrich.

Inspiration aus Dänemark

Seit Ende Mai besitzt der EVIM zwei Fahrrad-Rikschas für seine Seniorenheime. Die Idee kommt aus Dänemark. Ein Mann namens Ole Kassow war dort auf dem Weg zur Arbeit immer an einem alten Mann vorbeigeradelt, der auf einer Parkbank saß, neben sich einen Rollator. Kassow fragte sich, ob der Mann früher wohl genauso gerne Fahrrad gefahren war wie er heute. Er mietete eine Fahrrad-Rikscha, fuhr zum nächsten Altersheim und lud dessen Bewohner zu einer Spritztour ein. Heute sind Rikschas in dänischen Seniorenheimen Alltag, in deutschen aber eher selten.

Karin Klinger hat von Kassows Geschichte im Online-Netzwerk Facebook gelesen und fand sie toll. Anschließend hat sie sich an ihre Arbeit gemacht: Geld besorgen. Sie ist nämlich Fundraiserin bei EVIM. Ein gutes halbes Jahr hat es gedauert, dann hatte sie das Geld für die Rikschas zusammen. Die sind nämlich nicht billig: Rund 6.000 Euro kostet eine. Es sind Einzelanfertigungen. Natürlich aus Dänemark.

"Die meisten sind erstmal skeptisch, wenn sie das Teil sehen", erzählt Anna Eisold, die Leiterin der EVIM-Einrichtung. Denn die Fahrgastkabine befindet sich ganz vorn in der Rikscha, der Fahrer sitzt hinten außerhalb des Gesichtsfeldes der Insassen. Das kann bei ihnen schon ein mulmiges Gefühl beim Fahren verursachen. Senioren, die Angst haben herauszufallen, können sich aber in der Kabine anschnallen. Eisold führt das Gefährt vor und tritt in die Pedale. Sie radelt eine Weile, dann ertönt ein Surren. "Ein Elektro-Hilfsmotor", erklärt sie. "Ganz praktisch beim Anfahren oder bei Steigungen."

"Mein armes Kreuz"

Skepsis, wenn sie denn je welche empfand, hat Renate Heß längst abgelegt. Sie erzählt von ihrer vorangegangenen Tour am Rheinufer, bei der der Fahrer einige Baumwurzeln übersehen hatte und sie ordentlich durchgeschüttelt wurde. "Mein armes Kreuz", ruft sie, lacht dabei aber herzlich.

Wer die Drahtesel steuern will, erhält eine kurze Einweisung, und danach kann es losgehen. Einen Personenbeförderungsschein wie im Taxigewerbe braucht man nicht. Die Rikschas sind wie gemacht für Angehörige, die ihre Mutter oder ihren Onkel besuchen und mit ihnen ein paar Runden drehen wollen.

Der EVIM baut derzeit einen Stamm von ehrenamtlichen Rikscha-Fahrern auf, drei sind schon dabei. Sie verabreden sich entweder mit den Bewohnern für eine Spritztour oder kommen einfach in einen Wohnbereich und schnappen sich die Senioren, die gerade Lust auf ein bisschen Sonne und Wind um die Nase haben. "Das könnte auch die Generation jüngerer Ehrenamtlicher ansprechen", hofft Fundraiserin Klinger.

Nils Sandrisser


Armut

Verbände: Theaterbesuch darf nicht am fehlenden Geld scheitern




Besucher in der Westfalenhalle in Dortmund
epd-bild/Friedrich Stark
Für die kulturelle Teilhabe von Menschen mit wenig Geld wird nach Ansicht von Fachverbänden nicht genug getan.

"Es wird viel darüber geschrieben und gesprochen, aber wenig umgesetzt", sagte Sabine Ruchlinski, Vorstandsmitglied der neu gegründeten Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Kulturelle Teilhabe, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Der Besuch von Theatern oder Konzerten dürfe nicht am fehlenden Geld scheitern.

Vor allem in kleineren Städten und auf dem Land sei es schwierig für arme Menschen, am kulturellen Leben teilzunehmen. Grund dafür seien oft lange Wege und fehlende Unterstützung. "In kleineren Orten gibt es ganz andere Herausforderungen", sagte Ruchlinski. "Einerseits bei der finanziellen Ausstattung der Vereine, andererseits gibt es aber natürlich auch gar nicht so ein großes Angebot an Veranstaltungen."

Dem Alltag entfliehen

Viele Menschen hätten wegen ihres geringen Einkommens erhebliche Probleme. "Umso wichtiger ist es, ihnen zu ermöglichen, mal ihrem Alltag zu entfliehen", sagte Ruchlinski. Kultur könne dabei helfen: "Das kennt ja jeder, der mal ins Theater oder ins Konzert geht." Sie verwies darauf, dass kulturelle Teilhabe vom Europarat als Menschenrecht definiert worden sei.

Mit der neuen Bundesvereinigung wollen Kulturverbände aus ganz Deutschland mehr Menschen mit wenig Geld den Besuch von Theatern und Konzerten ermöglichen. Die Vereinigung besteht aus 60 Kulturinitiativen, die kostenlose Eintrittskarten zu diesen Veranstaltungen vermitteln. Im vergangenen Jahr konnten dadurch mehr als 400.000 Menschen, die es sich sonst nicht hätten leisten können, ins Theater, in Konzerte oder Ausstellungen gehen.

Als Bundesvereinigung wollen die Kulturinitiativen nun auch neue Veranstaltungs-Partner erreichen. Bisher dürften einzelne Kinos beispielsweise gar keine oder kaum Freikarten für bedürftige Menschen zur Verfügung stellen. "Als Bundesvereinigung können wir mit dem Verband der Filmverleiher sprechen und versuchen zu erreichen, dass bestimmte Kontingente an Mitglieder unseres Verbandes gegeben werden", sagte Ruchlinski. Auch mit großen Konzertveranstaltern solle Kontakt aufgenommen werden.

Als Bundesverband gebe es zudem mehr Möglichkeiten, Spenden, Fördermittel oder Sponsoren zu akquirieren und so kleinere Vereine in ländlicheren Regionen finanziell besser auszustatten. Zu den Mitgliedern der Vereinigung gehören neben großen Vereinen wie KulturLeben Berlin, KulturRaum München, oder der Kulturliste Köln auch kleinere Organisationen wie Kulturticket Lahn-Dill, das Kulturwerk Bad Oeynhausen oder die Kulturpforte Soest.



Demenz

Pilotprojekt für Versorgung von Demenzkranken im Krankenhaus



Ein deutschlandweit einmaliges Pilotprojekt für die optimale Versorgung von Patienten mit Demenz wird derzeit im Kreiskrankenhaus Wolgast (Kreis Vorpommern-Greifswald) umgesetzt. Speziell qualifizierte Pflegefachkräfte besuchen Patienten und ihre Angehörige, um die individuellen Versorgungsbedarfe auf ärztlicher, pflegerischer, medikamentöser, psychosozialer und sozialrechtlicher Ebene während des Krankenhausaufenthaltes und danach zu erfassen, teilte die Universität Greifswald am 1. November mit. Ziel sei, die Demenzkranken bedarfsgerecht zu versorgen, damit sie möglichst wieder nach Hause entlassen werden können und nicht in ein Heim müssen.

Hintergrund sei, dass mehr als 40 Prozent der über 65-Jährigen Patienten in Allgemeinkrankenhäusern kognitive Beeinträchtigungen zeigen, die im Krankenhaus zu Problemen führen, hieß es. Insbesondere Menschen mit Demenz fühlten sich in der ungewohnten Umgebung häufig orientierungslos, entwickelten Ängste, zeigten nächtliche Unruhe, depressive Symptome und Aggressivität. Dies erschwere den Umgang mit ihnen.

Die Pilotstudie des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen am Standort Rostock/Greifswald und des Altersmedizinischen Zentrums des Wolgaster Krankenhauses startete am 1. September und läuft noch bis Ende 2016.



Diakonie

Mini-Arbeitsplätze für psychisch Beeinträchtigte



Mit dem Modellprojekt "MitArbeit" will der diakonische Verein für Innere Mission in Bremen Menschen mit einer geistigen oder seelischen Beeinträchtigung Zugänge zum allgemeinen Arbeitsmarkt erschließen. Die Initiative richte sich an Männer und Frauen, die zunächst nur in einem kleinen Umfang Leistung erbringen könnten, etwa nur wenige Stunden pro Tag oder in der Woche, sagte am 31. Oktober Projektleiterin Heike Dietzmann. Die Aktion Mensch fördert die im September gestartete "MitArbeit" über fünf Jahre mit insgesamt 250.000 Euro.

"Mini-Arbeitsplätze ermöglichen den Menschen eine Beschäftigung, die sie teilhaben lässt, sie dabei aber nicht überfordert", sagte Projektmitarbeiter Onnen Schulz. "Viele schaffen einfach keine 30 oder 40 Stunden, haben dann aber auch keine Tagesstruktur, vereinsamen und neigen zu Depressionen." Mit einer Beschäftigung in einer Nische hätten sie dagegen eine Aufgabe und Bedeutung.

Dietzmann zufolge leben alleine in Bremen etwa 1.000 Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen in einer betreuten Wohngemeinschaft, von denen nur vier Prozent einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen. Um daran etwas zu ändern, kooperiert "MitArbeit" unter anderem mit dem Bremer Integrationsfachdienst, mit weiteren Abteilungen der Inneren Mission sowie Unternehmen. Mini-Arbeitsplätze gibt es beispielsweise in Küchen, in Verwaltungen, in Kirchengemeinden und in Caféterien.

Wer arbeiten wolle, müsse aus eigenem Antrieb zur Beratungsstelle von "MitArbeit" kommen, ergänzte Koordinatorin Ulla Laacks. "Das ist eine Schwelle, die man leisten muss." Dann werde zusammen mit den Klienten und in Gesprächen mit potentiellen Arbeitgebern erörtert, wie Aufgaben und Strukturen aussehen könnten. Die Projektmitarbeiter unterstützten sie außerdem bei Bewerbungen und übten mit ihnen Vorstellungsgespräche.



Auszeichnung

Projekt für junge Asylbewerber erhält Schutzbengel-Award



Den Schutzbengel-Award der Rummelsberger Diakonie bekommt in diesem Jahr das Projekt "Anschub" für junge Flüchtlinge von der Kompetenzakademie Neu-Ulm. Der Schauspieler Heikko Deutschmann, Schirmherr der Aktion, überreichte die mit 10.000 Euro dotierte Auszeichnung am 27. Oktober in der Nürnberger Jugendkirche LUX - Junge Kirche in Nürnberg an den Initiator Ansgar Batzner, wie die Rummelsberger Diakonie am mitteilte.

Das Projekt sei eine ideale Möglichkeit, Kenntnisse und Begabungen der jungen Flüchtlinge zu erkennen, sagte Deutschmann. Minderjährige Flüchtlinge besuchen an drei Tagen die Mittelschule und absolvieren jede Woche zusätzlich an zwei Tagen ein Praktikum in einem Betrieb. Sie erhalten jede Woche bis zu 20 Stunden Unterricht - vor allem in den Fächern Deutsch und Mathematik. Nach sechs Wochen können sie den Betrieb wechseln, um andere Berufe kennenzulernen. Das Projekt Anschub zeige, dass Integration gelinge, wenn Partner auf verschiedenen Ebenen mithelfen und zusammenarbeiten, sagte Deutschmann.

Die Aktion Schutzbengel, die Lebensbedingungen und Zukunftsperspektiven von Kindern und Jugendlichen verbessern will, feierte ihr zehnjähriges Bestehen. Günter Breitenbach, Vorstandsvorsitzender der Rummelsberger Diakonie, blickte auf gelungene Projekte zurück, darunter die Aktion S-Löffel, die für hundert Schulkinder in Nürnberg jeden Tag ein warmes Mittagessen ermöglicht, oder das Projekt Kümmerland, das die Betreuung kranker Kinder organisiert. Insgesamt seien bisher fast eine Million Euro an Spenden eingenommen und in die Schutzbengel-Projekte investiert worden, hieß es.



Anerkennung

Diakonie-Stiftung von oldenburgischer Kirche ausgezeichnet



Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Oldenburg hat die Diakonie-Stiftung der Kirchengemeinde Osternburg mit einem symbolischen Scheck über 1.666,67 Euro ausgezeichnet. Die Leistungen der Stiftung seien "beachtlich und beeindruckend", sagte Oberkirchenrätin Susanne Teichmanis bei der Scheckübergabe am 2. November in Oldenburg. Die Diakonie-Stiftung engagiert sich seit 2006 für Menschen in Not, fördert Freizeitaktivitäten und unterstützt die diakonische Arbeit in Kirchengemeinden, Schulen und Vereinen.

Im vergangenen Jahr habe die Stiftung Gelder in Höhe von 5.000 Euro eingeworben, hieß es. Die oldenburgische Kirche betreibt seit sechs Jahren das Projekt "Aus 3 mach 4". Auf je drei Euro aus der Stiftung lege die Kirche einen weiteren Euro dazu. Insgesamt verfüge die Diakonie-Stiftung zurzeit über ein Kapital von rund 160.000 Euro.

Das Projekt soll Anreize für kirchliche Stiftungen bieten und diese unterstützen. Derzeit existieren 27 Stiftungen im Gebiet der Evangelisch-Lutherische Kirche in Oldenburg. Zur oldenburgischen Kirche zählen 116 Gemeinden zwischen der Nordseeinsel Wangerooge und den Dammer Bergen. Ihr gehören knapp 424.000 Mitglieder an.




sozial-Recht

Bundesarbeitsgericht

Bei Krankschreibung keine Teilnahme am Personalgespräch




Wer krank ist, muss nicht zum Personalgespräch.
epd-bild/Werner Krüper
Arbeitgeber dürfen Mitarbeiter, die eine Krankschreibung haben, nicht zum Personalgespräch in die Firma einbestellen. Ist ein arbeitsunfähiger Mitarbeiter zu angeordneten Personalgesprächen nicht erschienen, kann er deshalb nicht abgemahnt werden, urteilte am 2. November das Bundesarbeitsgericht.

Bei dem vom BAG in Erfurt entschiedenen Rechtsstreit war der Kläger sei dem 1. April 2003 zunächst als Krankenpfleger und nach längerer unfallbedingter Arbeitsunfähigkeit als medizinischer Dokumentationsassistent beschäftigt. Als der Mann von November 2013 bis Februar 2014 erneut erkrankte, hakte der Arbeitgeber, der kommunale Klinikkonzern Vivantes, nach. Er ist nach eigenen Angaben der größte kommunale Klinikkonzern in Deutschland.

Abmahnung unwirksam

Im entschiedenen Rechtsstreit war der Kläger sei dem 1. April 2003 zunächst als Krankenpfleger und nach längerer unfallbedingter Arbeitsunfähigkeit als medizinischer Dokumentationsassistent beschäftigt. Als der Mann von Ende November 2013 bis Mitte Februar 2014 erneut erkrankte, hakte der Arbeitgeber, der kommunale Klinikkonzern Vivantes, nach. Er ist nach eigenen Angaben der größte kommunale Klinikkonzern in Deutschland.

Das Unternehmen lud den Beschäftigten schriftlich "zur Klärung der weiteren Beschäftigungsmöglichkeit" zum Personalgespräch. Doch der Mann erschien nicht und verwies zur Begründung auf seine Krankschreibung. Der Arbeitgeber zitierte ihn daraufhin erneut in den Betrieb und verlangte, dass in einem ärztlichen Attest die "gesundheitlichen Hinderungsgründe" dargelegt werden, warum er nicht zum Personalgespräch kommen könne. Als der Arbeitnehmer erneut das Gespräch verweigerte, mahnte ihn sein Chef ab.

Diese Abmahnung muss nun aus der Personalakte entfernt werden, urteilte das BAG. Die Arbeitspflicht umfasse zwar auch die Pflicht zur Teilnahme an einem während der Arbeitszeit angeordneten Personalgespräch. Doch kranke Mitarbeiter müssen während ihrer Arbeitsunfähigkeit ihrer Arbeitspflicht nicht nachkommen, betonten die obersten Arbeitsrichter. Während dieser Zeit müssten Beschäftigte grundsätzlich nicht im Betrieb erscheinen.

Nur bei einem geltend gemachten "berechtigten Interesse" dürfe der Arbeitgeber mit dem Arbeitnehmer in Kontakt treten, um die Möglichkeiten der weiteren Beschäftigung auszuloten. Der Arbeitgeber dürfe dabei den erkrankten Beschäftigten grundsätzlich nicht anweisen, im Betrieb zu erscheinen.

Az.: 10 AZR 596/15

Frank Leth


Bundesgerichtshof

Biologischer Vater hat Recht auf Umgang mit seinem Kind



Kinder und ihre leiblichen Väter haben grundsätzlich das Recht, miteinander Kontakt zu halten. Auch wenn die rechtlichen Eltern den Kontakt mit dem biologischen Vater beharrlich verweigern, gibt ihnen das noch nicht das Recht, das Umgangsrecht mit dem Kind zu verweigern, entschied der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe in einem am 3. November veröffentlichten Beschluss. Nur wenn dieser Umgang nicht dem Kindeswohl dient, könnten Begegnungen eingeschränkt werden.

Damit erzielte ein aus Nigeria stammender und 2003 nach Deutschland eingereister Flüchtling vor dem Bundesgerichtshof (BGH) einen Teilerfolg. Der mittlerweile in Spanien lebende Mann war eine Liebesbeziehung zu einer verheirateten Frau eingegangen. Der Ehemann duldete den Angaben nach das Verhältnis. Doch als die Frau Ende 2005 von dem Mann Zwillinge bekam, kehrte sie zu ihrem Ehemann zurück. Weil das Paar verheiratet ist, gilt automatisch der Ehemann als rechtlicher Vater der Kinder.

Die Eheleute verweigerten jeglichen Umgang der Kinder mit ihrem leiblichen Vater. Die Zwillinge wussten nicht einmal von dessen Existenz. Sein "Eintreten" in die Familie würde die Kinder verstören und das Familienzusammenleben aller "erheblich beeinträchtigen", machten die Eltern geltend.

Die deutschen Gerichte bestätigten diese Sichtweise und lehnten den Umgang ebenfalls ab. Das Umgangsrecht bestehe nur, wenn zwischen biologischem Vater und den Kindern eine "sozial-familiäre Beziehung" vorliege.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilte indes, dass der Umgang zu den Kindern ohne eine Prüfung des Kindeswohls nicht versagt werden dürfe. Der deutsche Gesetzgeber reagierte auf das Urteil und legte fest, dass ein leiblicher Vater, der ernsthaftes Interesse an seinem Kind zeigt, Umgang zu gewähren ist, vorausgesetzt es dient dem Kindeswohl.

Das Oberlandesgericht Karlsruhe (OLG) entschied in diesem Fall, dass hier das Kindeswohl gefährdet werde, weil der Kontakt zum leiblichen Vater unvermeidbar zu psychischen Belastungen der rechtlichen Eltern führen würde. Diese Entscheidung hob der BGH nun auf und verwies den Fall an das OLG zurück.

Allein die Weigerung der Eltern, den Umgang der Kinder mit ihrem biologischen Vater zu erlauben, sei noch kein Grund, das Umgangsrecht generell abzulehnen. Es sei gar nicht klar, ob das Kindeswohl gefährdet würde, befanden die Richter. Das folge bereits daraus, dass die Kinder ihre wahre Abstammung gar nicht kennen. Die Gerichte hätten die mittlerweile neun Jahre alten Kinder gar nicht dazu angehört. Ein Kind müsse vor einer gerichtlichen Anhörung oder Begutachtung "bei entsprechender Reife über seine wahre Abstammung" aber unterrichtet werden, entschied der BGH.

Az.: XII ZB 280/15



Bundesfinanzhof

Für Kindergeld auch mit Krankschreibung zum Arbeitsamt



Einem Gerichtsurteil zufolge kann krankgeschriebenen erwachsenen Kindern zugemutet werden, sich persönlich in der Bundesagentur für Arbeit arbeitsuchend zu melden. Wird dies unterlassen, kann der Kindergeldanspruch verloren gehen, entschied der Bundesfinanzhof (BFH) in einem am 2. November in München veröffentlichten Urteil. Eine Ausnahme ließen die Richter jedoch zu: Das Kind ist so schwer krank, dass es tatsächlich das Haus nicht verlassen kann.

Geklagt hatte die Mutter eines im Juli 1987 geborenen Sohnes, für den sie Kindergeld bezog. Nach dessen 18. Lebensjahr war er in einer Zeitarbeitsfirma beschäftigt. Dort erlitt er bei einem Arbeitsunfall im November 2007 eine Quetschung der linken Hand sowie Brüche im linken Zeigefinger. Wegen des Unfalls war er bis September 2008 krankgeschrieben. Der Arbeitgeber hatte ihm bereits zum Dezember 2007 gekündigt.

Wegen seiner Arbeitsunfähigkeit meldete sich der Sohn erst im Oktober 2008 bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) arbeitsuchend. Die Kindergeldstelle forderte daraufhin das für Oktober 2007 bis Juli 2008 gezahlte Kindergeld von der Mutter zurück. Der Sohn hätte sich auch während seiner Erkrankung arbeitsuchend melden müssen, hieß es.

Der BFH bestätigte die Entscheidung der Behörde. Für arbeitsuchende Kinder zwischen dem 18. und 21. Lebensjahr könne weiter Kindergeld gezahlt werden. Voraussetzung hierfür sei, dass das Kind sich auf dem Amt persönlich um einen Job bemüht und diese Meldung alle drei Monate erneuert. Das gelte auch bei einer bestehenden Arbeitsunfähigkeit infolge eines Arbeitsunfalls. Etwas anderes gelte nur, wenn das Kind wegen seiner Erkrankung tatsächlich nicht in der Lage ist, die Behörde aufzusuchen. Das sei hier aber nicht der Fall gewesen.

Az.: III R 19/15



Oberlandesgericht

Organentnahme trotz Verfahrensmängel rechtens



Verfahrensmängel bei einer Organentnahme machen die Spendeneinwilligung nicht automatisch unwirksam. Eine Organentnahme sei nicht bereits dadurch rechtswidrig, dass verfahrensregelnde Vorschriften verletzt worden seien, erklärte das Oberlandesgericht Hamm in einem am 28. Oktober veröffentlichten Urteil.

Im konkreten Fall hatte eine Arzthelferin aus Dortmund, die ihrem Vater eine Niere gespendet hatte, die Klinik auf Schadensersatz in Höhe von 50.000 Euro verklagt. Der Vater hatte fünf Jahre nach der Transplantation die Niere wieder verloren. Die Klägerin argumentierte, dass ihre Nierenspende medizinisch nicht geboten gewesen sei. Zudem sei sie nicht ausreichend über eigene gesundheitliche Risiken aufgeklärt worden. Nach ihren eigenen Angaben leide die Frau seit der Organentnahme an einem Erschöpfungssyndrom und einer Niereninsuffizienz.

Die Richter in Hamm wiesen den Schadenersatzanspruch ab und bestätigten damit die Entscheidung des Landgerichts Essen. Die Lebendnierenspende der Klägerin sei nicht kontraindiziert gewesen, so dass kein medizinischer Behandlungsfehler vorliege. Zwar habe es bei den formalen Voraussetzungen wie dem Aufklärungsgespräch Mängel gegeben. So existiere keine ärztlicherseits unterschriebene Niederschrift zu dem Aufklärungsgespräch.

Ein solcher Verstoß gegen die formellen Voraussetzungen mache jedoch nicht automatisch den Eingriff rechtswidrig. Auch werde dadurch nicht die Einwilligung des Spenders in die Organentnahme unwirksam. Die Frau habe sich zur Lebendnierenspende entschlossen, weil sie den Tod ihres Vaters befürchtet habe. Ihre Einwilligung habe sie erteilt, obwohl ihr als Arzthelferin bekannt gewesen sei, dass es bei Organspenden erhebliche einschränkende Risiken gebe. Deswegen sei davon auszugehen, dass sie sich auch bei einer ausreichenden Aufklärung zur Spende entschlossen hätte.

Az.: 3 U 6/16



Landessozialgericht

Bundesagentur muss schwerbehindertem Mann Ausbildung zahlen



Das rheinland-pfälzische Landessozialgericht in Mainz hat die Bundesagentur für Arbeit dazu verpflichtet, einem schwerbehinderten Mann eine Ausbildung zum Webdesigner zu finanzieren. Der an einer schweren Muskelschwäche erkrankte Kläger, der seinen Computer nur noch mit den Augen steuern kann, habe Anspruch auf eine Förderung, heißt es in dem am 28. Oktober veröffentlichten Urteil.

Die Mainzer Richter bestätigten damit ein Urteil des Sozialgerichts Koblenz. Der 1981 geborene Kläger hatte 2014 einen Antrag auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben gestellt und wollte sich in einem Fernkurs zum Webdesigner ausbilden lassen. Dabei sollten Ausbildungsgebühren in Höhe von 2.900 Euro anfallen. Die Bundesagentur hatte den Wunsch abgewiesen, weil der Mann auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt "keine ausreichenden Tätigkeiten" mehr verrichten könne.

Das sahen die Richter anders. Der Kläger könne telefonisch ohne wesentliche Einschränkung kommunizieren und den Computer auch hinreichend schnell mit den Augen steuern, heißt es in der Entscheidung des Landessozialgerichts. Die Tätigkeit als Webdesigner könne zudem regelmäßig auch von zu Hause ausgeübt werden. Eine günstigere und ebenso geeignete Ausbildungsalternative habe die Bundesagentur nicht benennen können.

Az.: L 1 AL 52/15



Oberlandesgericht

Rauchender Häftling darf sich nicht über Passivrauch beklagen



Ein rauchender Häftling kann sich nicht über den Passivrauch eines ebenfalls rauchenden Mitgefangenen in seiner Zelle beklagen. Dies hat das Oberlandesgericht (OLG) München in einem am 27. Oktober veröffentlichten Urteil klargestellt und damit die Klage auf Entschädigung wegen einer menschenunwürdigen Unterbringung abgewiesen.

Im konkreten Fall saß der Kläger von Dezember 2011 bis Juli 2012 in der Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim zunächst in Untersuchungs- und dann in Strafhaft. Er musste sich eine 9,42 Quadratmeter große Zelle inklusiv abgetrennter Toilette mit einem weiteren Gefangenen teilen.

Erfolglos hatte der Kläger eine Einzelzelle beantragt. Der Haftraum sei viel zu klein. Auch die optisch abgetrennte Toilette sei eine Zumutung. Es stelle für jeden Häftling eine "erhebliche Überwindung dar, den Toilettengang vor den Sinnesorganen seines Mitgefangenen ausführen zu müssen", so der Kläger.

Zudem monierte er, dass sein Mitgefangener starker Raucher sei. Er selbst rauche zwar auch, aber es sei sehr unangenehm, dem Passivrauch des anderen ausgesetzt zu sein. Wegen der aus seiner Sicht menschenunwürdigen Unterbringung forderte er eine Entschädigung in Höhe von 900 Euro.

Das OLG wies die Klage ab. Die Zellen-Fläche sei bei mehr als vier Quadratmetern pro Inhaftierten und bei abgetrenntem Sanitärbereich ausreichend und stelle keine Verletzung der Menschenwürde dar. Auch dass der Mitgefangene in der Zelle geraucht hat "und dadurch die Luft weniger erträglich und angenehm als in einer Nichtraucherzelle war, vermag eine menschenunwürdige Unterbringung nicht zu begründen", heißt es weiter in dem Urteil. Schließlich sei er selbst Raucher.

Az.: 1 U 1913/16



Verwaltungsgerichtshof

Ausbildung kann vor Abschiebung schützen



Flüchtlinge mit einer Lehrstellenzusage können eine Ausbildungsduldung erhalten und dürfen nicht einfach abgeschoben werden. Dabei setzt die Erteilung der Ausbildungsduldung nicht voraus, dass die Ausbildung tatsächlich schon begonnen wurde, entschied der Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg in Mannheim in einem 28. Oktober veröffentlichten Beschluss.

Im konkreten Fall hatte ein 24-jähriger serbischer Flüchtling nach einem Betriebspraktikum in einer Bäckerei die mündliche Zusage für eine Ausbildung zum Bäcker erhalten. Der Arbeitgeber hatte daher bei der Ausländerbehörde angefragt, was er tun müsse, um dem 24-Jährigen die Lehrstelle geben zu können.

Doch statt dem Flüchtling eine Ausbildungsduldung zu erteilen, wollte die Behörde eine schnelle Abschiebung erreichen. Die Ausbildungsduldung könne der Serbe nicht erhalten, da er hierfür nach dem Gesetz die Ausbildung tatsächlich aufgenommen haben müsse, teilte die Behörde mit. Ein Duldungsanspruch könne zudem nur bestehen, wenn "konkrete Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung nicht bevorstehen". Dies sei hier aber nun der Fall.

Der VGH untersagte jedoch per einstweiliger Anordnung die Abschiebung. Der Anspruch auf Ausbildungsduldung könne selbst dann bestehen, wenn der Ausländer nur mündlich eine Lehrstellenzusage erhalten hat, betonte das Gericht.

Aufenthaltsbeendende Maßnahmen wie die Terminierung der Abschiebung oder die Buchung eines bestimmten Fluges stehen zwar der Erteilung einer Ausbildungsduldung entgegen. Im konkreten Fall seien Abschiebemaßnahmen jedoch erst erfolgt, nachdem der Ausbildungsbetrieb die Ausländerbehörde über seine Lehrstellenzusage informiert habe.

Az.: 11 S 1991/16



Verwaltungsgericht

Syrische Asylbewerber haben Anspruch auf Flüchtlingsstatus



Syrische Asylbewerber haben nach einem Urteil des Verwaltungsgerichtes Münster Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Sie müssten bei einer Rückkehr nach Syrien mit politischer Verfolgung durch das Assad-Regime rechnen, befand das Gericht in seiner am 31. Oktober veröffentlichten Entscheidung.

Ein in Ibbenbüren lebender Syrer hatte dagegen geklagt, dass ihm vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nur ein "subsidiärer Schutzstatus" zuerkannt wurde. Das Urteil ist den Angaben zufolge noch nicht rechtskräftig, eine Berufung beim Oberwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen ist möglich.

Die Richter seien davon überzeugt, dass den aus Deutschland nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerbern "mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung von Foltermethoden drohe", hieß es weiter. Damit wolle das Regime die Flüchtlinge zwingen, ihre Ausreisegründe und mögliche Kenntnisse von Aktivitäten der oppositionellen Exilszene zu offenbaren. Diese Praxis stuft das Verwaltungsgericht als politische Verfolgung im Sinne des Asylgesetzes ein. Der syrische Staat sehe grundsätzlich in jedem Rückkehrer, der in Westeuropa ein Asylverfahren betrieben und sich länger dort aufgehalten habe, einen potentiellen Gegner des Regimes.

Wie das Verwaltungsgericht Münster weiter mitteilte, seien bei ihm bislang über 700 Klagen von Syrern eingegangen, die eine Zuerkennung des Flüchtlingsstatus verlangen. Die Entscheidungen des Bundesamtes für den lediglich subsidiären Schutz waren seit Jahresanfang nach Angaben des Bundesinnenministeriums stark angestiegen. Machten sie im Januar nur 0,4 Prozent aller Asylanerkennungen aus, waren es im April bereits 9,3 Prozent, im Juni 23,4 Prozent und zuletzt im September schon 41 Prozent.

Der subsidiäre Schutz wird dann gewährt, wenn zwar eine Bedrohung für Leib und Leben im Heimatland etwa wegen eines Bürgerkriegs droht, aber keine individuelle Verfolgung erkennbar ist. Er gewährt eine Aufenthaltserlaubnis von einem Jahr, der volle Flüchtlingsstatus drei Jahre. Die große Koalition hatte im jüngsten Asylpaket zudem den Familiennachzug für Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz ausgesetzt. Bei insgesamt knapp 61.000 Entscheidungen für den untergeordneten Schutz bis Ende August ging es in fast 51.000 Fällen um syrische Flüchtlinge, erklärte das Innenministerium in einer Antwort auf eine Anfrage der Linken im Bundestag.

Mehr als 17.000 Flüchtlinge haben den Informationen zufolge inzwischen gegen entsprechende Entscheidungen geklagt, davon mehr als 15.000 Syrer. Nach bislang über 1.100 Entscheidungen vor deutschen Verwaltungsgerichten wurden die Betroffenen in 80 Prozent der Fälle als Flüchtlinge anerkannt.

Az.: 8 K 2127/16.A



Verwaltungsgericht

Flüchtlingen darf nicht Obdachlosigkeit drohen



Deutschland darf Flüchtlinge nicht nach Italien zurückschicken, wenn ihnen dort Obdachlosigkeit droht. Eine Überstellung nach Italien ist derzeit unmöglich, da die italienischen Behörden nicht zusichern können, dass Flüchtlinge angemessen untergebracht werden, entschied das Verwaltungsgericht München in einem am 26. Oktober veröffentlichten Urteil.

Damit muss ein nigerianischer Flüchtling nicht nach Italien zurück. Er hatte nach seiner Einreise in Deutschland am 31. Dezember 2015 Asyl beantragt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte diesen ohne inhaltliche Prüfung als unzulässig ab. Er habe bereits zuvor in Italien um Asyl nachgesucht. Die Behörde wollte den Mann daher dorthin zurückschicken.

Das Verwaltungsgericht urteilte, dass die Rückführung des Mannes wegen "systemischer Schwachstellen" im italienischen Asylsystem aber rechtswidrig sei. Grundsätzlich sei zwar nach den Dublin-III-Vorschriften jenes Land für das Asylverfahren zuständig, in dem zuerst der Asylantrag gestellt wurde. Nach den EU-Richtlinien sei die Rücküberstellung aber unzulässig, wenn dort "mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit" schwere Grundrechtsverletzungen drohen. Dazu zählten nicht nur gravierende Mängel im Asylverfahren, sondern auch eine defizitäre Versorgung notwendiger Grundbedürfnisse wie die Unterbringung in einer Unterkunft.

In Italien seien die Notunterkünfte überfüllt, die Auffanglagern stünden vor dem Kollaps. Es drohe Obdachlosigkeit. In solch einem Fall sei die Rücküberstellung nach Italien ausgeschlossen, es sei denn die dortigen Behörden geben eine Garantie, dass der Flüchtling ein Dach über den Kopf erhält.

Az.: M 24 K 16.50482



Sozialgericht

Leistungskürzungen nach Pflegebetrug



Sozialämter dürfen einem Gerichtsbeschluss zufolge die Sozialhilfe von Pflegebedürftigen kürzen, die an einem Abrechnungsbetrug des Pflegedienstes beteiligt waren. Wie das Sozialgericht Berlin am 2. November mitteilte, können die Rückforderungen des Sozialamtes durch Anrechnung auf die laufende Grundsicherung durchgesetzt werden.

Der Ende Oktober ergangene Beschluss des Gerichtes erfolgte nach dem Widerspruch einer Berlinerin gegen einen Kürzungsbescheid des Sozialamtes Steglitz-Zehlendorf. Dabei ging es um die Rückzahlung von 1.125 Euro zu viel gezahlter Sozialhilfe. Die Betroffene soll von ihrem damaligen Pflegedienst zwischen November 2014 und Februar 2015 zwischen 245 und 336 Euro monatlich an Zahlungen erhalten haben.

Hintergrund sind dem Gericht zufolge seit einigen Jahren laufende strafrechtliche Ermittlungen bundesweit gegen betrügerische Pflegedienste. Deren Geschäftsmodell bestehe darin, zu Lasten der Sozialleistungsträger Pflegeleistungen abzurechnen, die tatsächlich gar nicht erbracht wurden.

Als Komplizen der Pflegedienste würden neben Ärzten vor allem auch Patienten mitwirken, indem sie den Erhalt gar nicht erbrachter Pflegeleistungen quittieren und so deren Abrechnung ermöglichen. Zur Belohnung erhielten sie monatlich einen Anteil am Betrugserlös, der im Milieu als "Kick-Back-Zahlung" bezeichnet werde, wie das Gericht weiter mitteilte.

Zur Zeit sind am Sozialgericht Berlin rund 20 vergleichbare Fälle anhängig. Mit einer weiteren Zunahme von Fällen zu dieser Problematik werde gerechnet, hieß es.

Az.: S 145 SO 1411/16 ER




sozial-Köpfe

Verbände

Steffen Feldmann neuer Caritasdirektor für das Erzbistum Hamburg




Steffen Feldmann
epd-bild/Katholische Presse- und Informationsstelle
Steffen Feldmann ist seit dem 1. November neuer Caritasdirektor des Spitzenverbands für das Erzbistum Hamburg. Damit ist der 45-Jährige Nachfolger von Stephan Dreyer (56), der im Juli von seinem Amt zurückgetreten war.

Feldmann wechselt von der Caritas Mecklenburg zum Diözesancaritasverband des Erzbistums, der die Arbeit der vier Regionalverbände im Bistum koordiniert und fördert. Feldmann ist Diplom-Ingenieur mit dem Fachgebiet Umweltentwicklung. Nach einem Managementstudium in den USA stieg er den Angaben nach als Partner in eine internationale Unternehmungsberatung ein. 2013 übernahm er die Leitung der Caritas Mecklenburg.

Derzeit bestehen im Erzbistum Hamburg die Caritasverbände Hamburg, Schleswig-Holstein, Lübeck und Mecklenburg. Feldmanns Vorgänger Dreyer ließ sich nach Angaben der Pressestelle des Erzbistums im Sommer auf eigenen Wunsch vom Amt des Caritasdirektors entbinden. Bis dahin hatte er die Entwicklung eines gemeinsamen Caritasverbandes für das gesamte Erzbistum vorbereitet. Wie Nielen dem Evangelischen Pressedienst (epd) am 1. November mitteilte, sollen die Regionalverbände in einem rechtlich selbstständigen Verband zusammengeführt werden. Das Ergebnis und die Dauer des Reformprozesses seien noch offen.

Feldmanns Nachfolger als Caritasdirektor in Mecklenburg wird der Diplom-Betriebswirt Thomas Keitzl. Er war dort bislang für den Bereich Finanzen und Controlling zuständig.

Der Caritasverband für das Erzbistum Hamburg vertritt nach eigenen Angaben rund 150 katholische caritative Einrichtungen und über 350 Beratungsstellen und Betreuungsdienste. Zu den Einrichtungen zählen Krankenhäuser, Suchtberatungsstellen und Besuchsdienste. Die Caritaseinrichtungen des Erzbistums beschäftigen mehr als 8.000 hauptamtliche Mitarbeiter, zusätzlich engagieren sich etwa 3.000 Ehrenamtliche.



Weitere Personalien



Christian Schramm (64), bisheriger Vorsitzender des Rates der Diakonie Sachsen, hat sein Amt niedergelegt. Er habe für diesen Schritt gesundheitliche Gründe angegeben, teilte die sächsische Diakonie am 1. November in Radebeul mit. Schramm war von 1990 bis 2015 Bürgermeister im sächsischen Bautzen und seit 2006 Vorsitzender des Diakonischen Rates. Diakoniedirektor Christian Schönfeld bedauerte dessen Rückzug und sprach von einem "immensen Verlust für die Diakonie Sachsen". Schramms Engagement, Klugheit und fairer Umgang seien "wohltuend und stilbildend" gewesen. Im Rat folgt ihm stellvertretend zunächst Christine Unruh-Lungfiel, Laienvertreterin der Synode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens.

Dagmar Krause und Hans-Joachim Krause werden mit dem Goldenen Internetpreis 2016 ausgezeichnet. Die Übergabe soll am 10. November im Bundesverbraucherschutzministerium in Berlin erfolgen. Das Ehepaar, das selbst blind beziehungsweise stark sehbehindert ist, veranstaltet seit neun Jahren Treffen für sehbehinderte Menschen, bei denen es sprechende technische Geräte für Blinde und Sehbehinderte vorstellt. Bei den technischen Hilfsmitteln handelt es sich zum Beispiel um Computer mit Sprachprogrammen. Dies ermögliche den Betroffenen mehr Selbstständigkeit im Alltag, hieß es. Der Goldene Internetpreis wird in drei Kategorien an digital aktive Menschen über 60 Jahre verliehen und ist insgesamt mit 8.000 Euro dotiert.

Dorothea Brummerloh ist mit dem Inklusionspreis des Sozialverbandes Deutschland in Niedersachsen geehrt worden. In der ausgezeichneten Hörfunk-Reportage "Etikettenschwindel", die im Deutschlandfunk gesendet wurde, wirft Brummerloh einen kritischen Blick hinter die Kulissen der Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Ebenfalls ausgezeichnet wurde der Verein Fährmannsfest aus Hannover. Insgesamt ist der Preis mit 10.000 Euro dotiert. Die Preise wurden von Niedersachsens Sozialministerin Cornelia Rundt (SPD) überreicht.

Michael Freiherr Truchseß, langjähriger Vorsitzender des Arbeitskreises Evangelischer Unternehmer (AEU), ist am 29. Oktober 70 Jahre alt geworden. Truchseß stand dem Arbeitskreis von 2000 bis 2012 vor. Seit 2015 ist der ehemalige Deutsche-Bank-Mangager Vorsitzender des AEU-Kuratoriums. Von 2004 bis 2010 war Truchseß berufenes Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Im November 2010 wurde er in die Kirchenleitung gewählt.

Burkhardt Hose, katholischer Hochschulpfarrer, ist der Ansicht, dass es echte Solidarität in der Flüchtlingsfrage nicht ohne Veränderungen im eigenen Leben gibt. Bei der Vorstellung seines Buchs "Aufstehen für ein neues Wir" am 27. Oktober in Würzburg sagte er: "Wir müssen uns von der Idee verabschieden, dass teilen keine Einschränkungen mit sich bringt und nicht wehtut." Dabei gehe es nicht um materielle Dinge - denn niemand in Deutschland habe wegen den Geflüchteten auf irgendetwas verzichten müssen. In seinem Buch beschreibt der seit vielen Jahren in der Flüchtlingsarbeit engagierte Würzburger Theologe persönliche Erlebnisse mit Geflüchteten aus Syrien und anderen arabischen Ländern.




sozial-Termine



Die wichtigsten Fachveranstaltungen bis Dezember

November

1.11. Leipzig:

Fachtag "Rechnungslegung"

der Curacon Wirtschaftsprüfungsgesellschaft

Tel.: 0251/922080

3.11. Köln:

Seminar "Der Krankenhaus-Jahresabschluss 2016 - Aktuelle Entwicklungen und Einzelfragen"

der Solidaris Unternehmensberatung

Tel.: 02201/8997221

www.solidaris.de

4.-5.11. Schwerin:

Symposium "Die Medizin der Zukunft - Gesuendheitliche Versorgung unter

Nutzung von Telemdizin, Telematik und E-Health"

der Konrad Adenauer Stiftung

Tel.: 0385/5557050

www.kas.de

8.11. Hannover:

Fachtag "Gemeinnützigkeitsrecht/Steuerrecht"

der Curacon GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft

www.curacon.de/fachtagungen

8.11. Ulm:

Symposium "Macht soziale Ungleichheit krank?"

der Fröhliche Management GmbH

Tel.: 040/32318755

www.froehlich-management.com

8.11. Münster:

Seminar "Gründung MVZ an Krankenhäusern"

der BPG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft

Tel.: 0251/48204-12

www.bpg-muenster.de/seminarangebote-bpg-unternehmensgruppe

8.11. Ulm:

Symposium "Armut - Bildung - Gesundheit"

der Fröhlich Management GmbH

www.froehlich-management.de

8.11. Frankfurt a.M.

Kolloquium "Das Gesetz zur Bekämpfung von Korruption

im Gesundheitswesen - die ersten sechs Monate"

der Frankfurt University of Applied Sciences

Tel.: 069/15333041

www.frankfurt-university.de

9.11. Kassel:

Selbsthilfetag "Lebenskust und Recory"

der Aktion Psychisch Kranke

Tel.: 0228/676740

www.apk-ev.de

9.11. Berlin:

Fachtag "Ambulante Wohnformen: Neue Herausforderungen durch das PSG II"

der Stephanus Stiftung

Tel.: 030/96249113

www.stephanus.org

9.11. Frankfurt a.M.:

Schulung "Aktuelle Rechtsprechung im Arbeitsrecht 2016"

der Arbeitsgemeinschaft caritativer Unternehmen (AcU)

Tel.: 0228/9261660

www.a-cu.de

10.11. Münster:

Seminar "Die Reform des Eingliederungshilfe für behinderte

Menschen - Regierungsentwurf Bundesteilhabegesetz"

der BPG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft

Tel.: 0251/48204-12

www.bpg-muenster.de/seminarangebote-bpg-unternehmensgruppe

12.11. Berlin:

Workshop "Was ist gutes Sterben? zum Umgang mit Idealen und Wünschen im Krankenhaus"

der Evangelischen Akademie zu Berlin

Tel.: 030/203550

www.eaberlin.de

13.11. Berlin:

Tagung "Flüchtlinge schützen. Rassismus entgegentreten"

des Vereins "Mach meinen Kumpel nicht an!"

Tel.: 0211/4301-290

www.gelbehand.de

13.11. Bonn:

Dankeschön-Tag "Ehrenamtliche welcome!"

der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe

Tel.: 0211/6398222

www.diakone-rwl.de

14.-15.11. Bonn:

Jahrestagung zum Siebten Altenbericht "Wie wollen wir morgen leben und

was können wir dafür tun? - Sorge und Mitverantwortung in der Kommune"

der BAGSO

Tel.: 0228/24999314

www.bagso.de

15.-16.11. Loccum:

Tagung "SGB II und Flüchtlinge - Ansätze für eine nachhaltige Integration"

der Evangelischen Akademie Loccum

www.loccum.de

16.-18.11.Berlin:

Symposium "Gelebte Transparenz in Caritas und Diakonie"

des Bundesverbandes der Diakonie und des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0561/703413014

www.vrk.de

18.11. Frankfurt a.M.:

7. Gesundheitsrechtetag

der Zentrale zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbes

Tel.: 06172/12150

www.wettbewerbszentrale.de

20.11. Köln:

Seminar "Fördermittelgewinnung bei Stiftungen"

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356159

www.bfs-service.de

25.11. Berlin:

Symposium "Digitalisierung der Der Sozialwirtschaft"

des Fachverband FINSOZ

Tel.:030/42084512

www.finsoz.de

Dezember

6.12. Frankfurt a.M.:

Tagung "Von der Zettelwirtschaft zur IT-gestützten Dienstplanung:

2. Personalforum Dienstplanung und Zeitwirtschaft"

des Verbandes Diakonischer Dienstgeber in Deutschland

Tel.: 030/884717013

www.v3d.de